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Hoffnung keimt
G77-Gipfel in Havanna.
Manchmal hilft es, sich ganz dumm zu stellen. Da kündigt eine Gruppe, deren Namen man kaum kennt, an, »ihre Rolle im gegenwärtigen internationalen Kontext zu stärken«. Na und, möchte man fragen: Wollen das nicht alle? Nun, bei der Gruppe handelt es sich um die G77, einen Zusammenschluss von 134 Ländern plus China, mehr als zwei Drittel aller UN-Mitgliedstaaten, in denen zusammen rund 80 Prozent der Weltbevölkerung leben. Zu sagen haben sie in den Strukturen der derzeitigen Weltordnung so gut wie nichts. Sie stellen, sieht man von China ab, das ihnen formal nicht angehört, kein einziges ständiges Mitglied mit Vetorecht im UN-Sicherheitsrat. In den Bretton-Woods-Institutionen spielen sie keine Rolle: Eine kleine Staatengruppe, die G7, hat sich allein 41,25 Prozent der Stimmen im IWF gesichert und durchgesetzt, dass die Präsidenten von Weltbank und IWF nie aus einem G77-Land kommen. Und so weiter. Soll heißen: In den Kernstrukturen der heutigen Ordnung, die in der reichen BRD so gerne als »werte- und regelbasiert« besungen wird, ist der Einfluss, den vier Fünftel der Menschheit haben, faktisch nicht existent.
Neu ist das nicht. Dafür, dass sie in der Welt eine gewisse Mitsprache erhalten, kämpfen die G77 seit ihrer Gründung im Jahr 1964. Echte Chancen besaßen sie nie, schon gar nicht, seit die westlichen Mächte Anfang der 1990er Jahre die alleinige Dominanz über die Welt an sich rissen. G77-Gipfel wurden deshalb auch in der BRD für gewöhnlich schlicht ignoriert, und angesichts der realen Machtlosigkeit der Gruppe wurden sie zuletzt selbst von den Mitgliedstaaten immer weniger frequentiert. Letzteres scheint sich nun zu ändern: In Havanna, wo der diesjährige Gipfel stattfand, hieß es, die aktive Beteiligung nehme wieder zu. Der Grund liegt auf der Hand: Seit vergangenem Jahr zeichnet sich deutlich ab, dass die harte Decke aus US-Dollar, Euro und Panzerstahl, mit der der Westen den Rest der Welt niederhält, kaum kittbare Risse bekommt. Die Hoffnung, sie einreißen zu können, breitet sich im globalen Süden aus.
Und so haben die G77 am Sonnabend denn auch klare Forderungen gestellt. Das globale Finanzsystem? Es soll »umfassend reformiert« werden, inklusive einer realen Beteiligung auch der Entwicklungsländer an allfälligen Entscheidungen. Da die westlichen Mächte ihre Dominanz immer öfter per Wirtschaftskrieg durchsetzen: Sanktionen außerhalb des UN-Rahmens müssen weg, und zwar sofort. Dass zehn reiche Länder 90 Prozent aller Patente monopolisieren – Stichwort: Corona-Impfstoffe –, geht nicht an. Wie setzt man derlei Forderungen durch? Nun, falls der Westen bereit dazu sein sollte, verhandelt man gern; im Mittelpunkt der G77-Abschlusserklärung steht allerdings die Gegenmachtbildung – eine stärkere Süd-Süd-Kooperation. Die Herrschenden im reichen Westen erhalten kräftig Gegenwind, Zeit, sich ebenfalls aus dem Sessel zu erheben. Die Welt gerät in Bewegung, sie hat Besseres verdient als die Ordnung der G7.
Veröffentlichung |
Jörg Kronauer
junge Welt, 18.09.2023