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Die Kinder von Tarará

Super-GAU Tschernobyl: Kuba rettete Tausende Betroffene mit medizinischer Hilfe trotz eigener schwieriger Lage.


Hintergrund: Menschen zuerst

Fidel Castro forderte am 26. September 1960 vor der UN-Generalversammlung, das nach dem Sieg der Revolution verankerte »Recht der Kranken auf unentgeltlichen ärztlichen Beistand und Pflege« solle nicht nur in Kuba, sondern global gelten. Dabei knüpft die sozialistische Republik ihre Hilfe in Katastrophengebieten nicht an Bedingungen oder das Wohlverhalten der Empfängerländer. So verurteilte Castro die Politik des sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow bereits am 26. Juli 1988 in einer Rede zum Nationalfeiertag als »gefährlich und den Prinzipien des Sozialismus entgegengesetzt«, seine Regierung in Havanna reagierte jedoch sofort, als der Generalsekretär der KPdSU 1990 um internationale Hilfe für die Bürger der Ukrainischen SSR bat, die von dem Unfall in Tschernobyl betroffen waren.

Westliche Länder nutzten den Super-GAU dagegen zunächst für eine Kampagne gegen die Sowjetunion. Zwei Wochen nach der Havarie warf Gorbatschow »Regierungen, Politikern und Massenmedien einiger NATO-Länder, besonders der USA«, vor, statt zu helfen, eine »zügellose antisowjetische Hetze entfacht« zu haben. Diese Länder leisteten nach Auflösung der Sowjetunion vor allem technische Hilfe, während Kuba – trotz eigener Probleme – versuchte, den am schwersten betroffenen Menschen zu helfen.

Am 29. August 1990 rief Castro, nachdem das erste sozialistische Land Amerikas seinen wichtigsten Handelspartner verloren hatte, die »Sonderperiode in Friedenszeiten« aus. Bis 1993 brach die Zuckerproduktion um 50 Prozent ein. 80 Prozent der Industrieanlagen standen still. Die Importe fielen von 8,1 Milliarden US-Dollar im Jahr 1989 auf 2,2 Milliarden im Jahr 1992. Lebensmittel wurden knapp, der Personen- und Güterverkehr brach zusammen, die Versorgung mit Medikamenten war nicht mehr garantiert, Betriebe und Haushalte litten unter täglichen Stromabschaltungen, Wasser kam nur noch alle paar Tage für wenige Stunden aus den Leitungen. (vh)

Als die Sowjetunion nach dem Reaktorunfall vom 26. April 1986 in Tschernobyl auf internationalen Beistand angewiesen war, leisteten die westlichen Länder zunächst nur spärliche Unterstützung. Kuba schickte dagegen umgehend Ärzte in die betroffenen Gebiete und entwickelte ein humanitäres Hilfsprogramm, das Tausenden Kindern das Leben rettete. Obwohl die Inselrepublik durch den Zerfall des sozialistischen Lagers selbst am Beginn der größten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes stand, kam in der Nacht des 29. März 1990 eine erste Gruppe von 139 kranken Mädchen und Jungen in Havanna an. In den folgenden 21 Jahren wurden mehr als 26.000 strahlengeschädigte Kinder in dem 20 Kilometer von der Hauptstadt entfernten und extra für sie geschaffenen Gesundheitszentrum Tarará behandelt.


Eines dieser Kinder war Alexander Sawtschenko. Als sich der Reaktorunfall ereignete, war er gerade zwei Jahre alt geworden. »Wir lebten 120 Kilometer vom Unglücksort entfernt«, berichtet seine Mutter Lidia als Zeitzeugin in dem argentinischen Dokumentarfilm »Tarará, die Geschichte von Tschernobyl in Kuba«. In der Ukrainischen SSR habe es für die meisten geschädigten Kinder kaum eine medizinische Versorgung gegeben, ruft sie in Erinnerung. Ursache dafür war eine schwere Krise der sowjetischen Wirtschaft, die sich seit Mitte der 1980er Jahre durch den Rüstungswettlauf mit den Vereinigten Staaten verstärkt hatte. US-Präsident Ronald Reagan hatte im März 1983 ein als »Star Wars« bezeichnetes, 120 Milliarden US-Dollar schweres Rüstungsprogramm zum Aufbau eines Abwehrschirms gegen Interkontinentalraketen aufgelegt.


Das dadurch ausgelöste Wettrüsten führte zur drastischen Kürzung des sowjetischen Budgets in Schlüsselbereichen wie der Wartung von Kernkraftwerken und der öffentlichen Gesundheit. Zum Zeitpunkt des Unfalls verfügte das Gesundheitssystem nicht einmal mehr über die Mindestressourcen. »Mein Sohn erhielt die Diagnose Leukämie, und die Ärzte in der Ukraine sagten mir, dass er sterben müsse«, berichtet Lidia Saw­tschenko. Sie hatte aber gehört, dass kubanische Mediziner nach Kiew gereist waren, um Hilfe zu leisten. Auch auf der Krim wurde eine Einrichtung betrieben, in der eine medizinische Brigade aus Kuba zwischen 1989 und 2011 jährlich rund 6.000 Patienten versorgte. Trotzdem hatten viele Betroffene in ihrem Land keine Überlebenschance. 1990 bat der sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow international um Hilfe für Menschen, die unter den Folgen der Reaktorexplosion litten.


Eines der Opfer, Wladimir Rudenko, damals 16 Jahre alt, berichtet im Film, dass er nicht mehr aufstehen konnte und Blut spuckte. Auch seinen Eltern sagten die Ärzte, dass er sterben werde. Hilfsgesuche des Vaters an Spezialkliniken in den USA und der Schweiz wurden nicht beantwortet oder abgelehnt. Dann habe sein Vater sich an das kostenlose Programm in Kuba gewandt. »Ich hatte Glück und wurde ausgewählt«, sagt Rudenko. Die Strahlenopfer konnten so Tausende Kilometer entfernt eine umfassende physiologische und psychologische Betreuung zum Nulltarif erhalten. Die meisten Patienten waren zwischen zehn und 14 Jahren alt. Die Regierung in Havanna wollte mit dem Programm vor allem einkommensschwache Familien unterstützen, die sich eine Therapie in ihrer Heimat nicht leisten konnten.

Zentrum der Maßnahme war ein speziell für Strahlenopfer entwickeltes Kinderlager am Strand von Tarará. Das nahe Havanna gelegene Gebiet, wo bis zur Revolution wohlhabende Familien gelebt hatten, war bis 1990 ein Pionierlager, in dem kubanische Kinder ihre Sommer verbrachten. Freiwillige hatten es in ein medizinisches Zentrum umgewandelt, das unter anderem Wohnhäuser für die Kinder, zwei Krankenhäuser, eine stomatologische Klinik, ein Theater, Schulen, Parks, zwei Kilometer Strand und Erholungsgebiete umfasste. »Nach ihrer Ankunft in Tarará durchliefen die ukrainischen sowie einige Kinder aus Russland und Belarus je nach Diagnose und Bedürfnissen verschiedene Stationen unseres Gesundheitssystems«, so der Arzt Julio Medina, der das Betreuungsprogramm leitete. Das Ziel habe darin bestanden, eine spezialisierte Behandlung gegen die Folgen des nuklearen Unfalls in einem adäquaten Umfeld mit einem Heilungsplan zur Rehabilitation und ganzheitlichen Maßnahmen zur Genesung der Patienten zu ermöglichen. Das Projekt habe darüber hinaus generelle Erkenntnisse über die Auswirkung von Strahlung auf den menschlichen Körper und damit zusammenhängende Erkrankungen wie Leukämie, Haarausfall, Schilddrüsenkrebs, Muskelschwund und neurologische Beeinträchtigungen geliefert, unterstrich Medina in seinem von der brasilianischen Wissenschaftsplattform Scielo veröffentlichten Abschlussbericht.

Rudenko, Sawtschenko und dessen Mutter Lidia sind nach der Genesung in Kuba geblieben. Am 2. April 2010 hatte der damalige ukrainische Präsident Leonid Kutschma bei einem Besuch in Havanna noch Auszeichnungen an Ärzte, Mitarbeiter und Diplomaten verliehen, die zur Durchführung des Programms beigetragen hatten, das er als »unauslöschliches Zeichen der Freundschaft zwischen den Völkern der Ukraine und Kubas« würdigte. »Heute, da dieses Land in einem von den Vereinigten Staaten und der NATO angezettelten Krieg schwierige Zeiten durchmacht, kommen mir die Momente der Tränen und der Freude der Kinder in den Sinn, die mit ihren Familien zu uns kamen und denen Kuba einen Teil von dem gab, was es hatte, um ihr Leben zu retten«, erinnert sich der Journalist Elson Concepción Pérez. Er hatte die Kinder von Tschernobyl als Reporter der KP-Zeitung Granma häufig besucht.

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

Veröffentlichung
mit freundlicher Genehmigung von

junge Welt

Volker Hermsdorf
junge Welt, 09.05.2023