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Wie Stacheln im Fleisch

Erstmals ist in Deutschland eine Retrospektive der früh verstorbenen kubanischen Künstlerin Belkis Ayón zu sehen.

Geheimnisvoll, rätselhaft, beinah unergründlich – scheinen die Druckgraphiken von Belkis Ayón auf den ersten Blick. Manche wirken bedrohlich und lösen auf unbestimmte Art Beklemmung aus. Riesige, durchdringende Augen schauen zweidimensional und scherenschnittartig den Betrachter an, andere Details des Gesichts, Mund oder Nase, fehlen, so wirkt es wie eine starre Maske. Von den schwarzweißen Körpersilhouetten geht ein abgründiges Schweigen aus, eine tiefe, unheimliche Stille. Zugleich sind Ayóns Tableaus von einer so markanten künstlerischen Handschrift, dass sie Wiedererkennungswert besitzen.

Das geheime Wissen

Schon zu Lebzeiten galt Belkis Ayón als Fixpunkt in der Kunstszene von Havanna, stellte aus und unterrichtete, bevor sie sich 1999 im Alter von 32 Jahren das Leben nahm. Einige ihrer Bilder sind im zentralen Pavillon der 59. Biennale in Venedig zu sehen, und das Ludwig-Forum Aachen präsentiert jetzt die erste große Überblicksschau im deutschsprachigen Raum. Rund siebzig Arbeiten, manche mehrere Meter breit oder hoch und dadurch um so eindrücklicher, gehängt vor dunkelgrauen oder weißen Wänden, zeichnen ein intensives Schaffen nach. Einfach entschlüsseln lässt es sich nicht: Die Darstellungen entstammen zu weiten Teilen den Erzählwelten der Abakuá-Sekte - eines afro-kubanischen Geheimbunds nigerianischen Ursprungs, dessen ausschließlich männliche Mitglieder einem Schweigegelübde verpflichtet waren und über den daher wenig Wissen existiert.

Der mythologische Kosmos der Abakuá bildete eine hermetische Welt, die Belkis Ayón schon während ihres Studiums an der Kunstakademie fasziniert hat. Da Frauen der Zutritt verboten war, mussten Recherchen und Informationen aus zweiter Hand die sinnliche Erfahrung des geheimbündlerischen Schattenreichs ersetzen. Letztlich stellten sie die Versatzstücke einer symbolischen Bildsprache zur Verfügung, derer sich Ayón freimütig bedient. Dazu gehören Tiergestalten wie Leopard, Ziege oder Hahn, der Fisch als oberste Gottheit oder die Schlange als ursprüngliches und erdverbundenes Wesen. Doch vor allem fühlte Belkis Ayón sich der sagenumwobenen Göttin Sikán verbunden: Laut Legende verriet sie das geheime Wissen des Glaubenssystems und wurde daher von den Männern rituell geopfert. Sikán wurde Ayóns Alter ego, das immer neu verwandelt in den meisten ihrer Bilder anwesend ist - oft umgeben von einschüchternden männlichen Gestalten, die sie verurteilen und schließlich bestrafen. In einem titellosen Bild wird Sikáns Fleisch von weißen Stacheln durchbohrt, immer wieder tritt sie als gebrandmarktes und verurteiltes Opfer auf, das seine Leiden stoisch erträgt.

Hybride Zwischenwesen

Doch sind ihrem Körper auch magische Potentiale eingeschrieben: Die Haut ist mit Schuppen oder Federn belegt, als läge es für die Fabelwesen im Bereich des Möglichen, die Schwerkraft zu überwinden oder in Wasser abzutauchen, als bevölkerten sie als hybride Zwischenwesen, halb Mensch, halb Tier, eine verwunschene Zauberwelt. Sikán wird zur Gestaltwandlerin zwischen göttlichen und menschlichen, tierischen und pflanzlichen Sphären, die aber das menschliche Erfahrungsspektrum als individueller Leidensraum bestimmt: »Unbegründete Ängste« heißt eines ihrer späten Werke, dessen Figuren sich in komplexen organischen Formen aufzulösen scheinen. Sikán wird eine Figur, die als Ausgestoßene in einer Männerwelt zu Isolation und Einsamkeit verdammt ist, die Ein- und Ausschluss und die Rolle der Frau in einer männlich dominierten Welt verhandelt. Gleichzeitig changiert sie zwischen den Geschlechtern; Verkleidung und Androgynität - etwa durch einen rasierten Kopf - ermöglichen das Betreten verbotener Räume jenseits des Hier und Jetzt, deren ornamentale und oft filigran ausgearbeitete Hintergründe eher desorientieren als das Subjekt darin zu verorten. Eine besonders düstere Szene, die den menschlichen Körper in eine amorphe, pechschwarze Gestalt auflöst, trägt den Titel: »Meine Seele und ich lieben dich«.

Mysteriöse Aura

Belkis Ayón arbeitet ausnahmslos mit der Drucktechnik der Collagraphie. Die Druckplatte wird dabei zunächst in Collagentechnik hergestellt, durch Aufkleben ganz unterschiedlicher Materialien wie etwa Karton oder Stoff. Hat Ayón in ihrer frühen Schaffensphase noch farbig gearbeitet, beschränkt sie sich bald ganz auf Schwarzweißtöne, was die mysteriöse Aura geheimer Zeremonien ebenso unterstreicht wie die existentielle Dimension bestrafender Rituale und die Poesie fluider Körper. Statt sie jedoch einfach zu illustrieren, schafft Belkis Ayón aus Mythen neue Rätsel und verwendet deren Vokabular, um ihre persönliche Suche in den Wirren einer nach dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus neu aus den Fugen geratenen Welt in all ihren Verflechtungen in ein einzigartiges künstlerisches Werk zu überführen. »Ya estamos aquí« – »Wir sind schon hier«: Das titelgebende Bild der Ausstellung zeigt den heimlichen Blick in eine Folterkammer.

»Belkis Ayón. Ya estamos aquí«, Ludwig-Forum Aachen, bis 12. März 2023

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

Veröffentlichung
mit freundlicher Genehmigung von

junge Welt

Hannes Klug
junge Welt, 21.12.2022