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Eine halbe Rettung
Kunst oder Revolution: Die Henze-Bearbeitung »La piccola Cubana« an der Staatsoper Berlin.
Rachel tritt im vorrevolutionären Kuba als Tänzerin, Sängerin, Zirkusartistin, Schauspielerin auf. Dass sie eine Künstlerin sei, wird besonders in jenen Etablissements beteuert, die eher zur Halbwelt zu rechnen sind. Doch sogar auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, wenn sie im »Alhambra« für ernsthafte Rollen übt, wird sie auch in Boulevardstücken verheizt, in denen die lächerliche Handlung einen Vorwand dafür liefern muss, dass sie sich entkleidet.
Als der vor zehn Jahren verstorbene Hans Werner Henze 1972/73 auf einen Text von Hans Magnus Enzensberger die Szenenfolge »La Cubana« komponierte, ging es zum einen darum, die Lage in Kuba nach der Revolution 1959 mit den Missständen zuvor zu vergleichen. Auf der Gegenwartsebene werden zwei Wegbegleiterinnen Rachels befragt: die pragmatische Unterhaltungsunternehmerin Barbara, die als Chefin von Bar und Theater ihr Geld gemacht hat und über diesen engen Horizont nicht hinausdenken will, und die Revolutionärin Federica. Es sind Sprechszenen; Musik bestimmt die Hauptteile, die in der Vergangenheit spielen.
Henze hat dafür allerhand Unterhaltungsmusik aufgegriffen, Gesellschaftstänze aus Rachels Zeit, aber auch Zirkusartiges. Man könnte an Brecht-Vertonungen Kurt Weills oder Hanns Eislers denken. Aber Weill und Eisler verwendeten Musik ihrer Gegenwart, ein knappes halbes Jahrhundert später war sie bereits historisch geworden. Besonders Weill hatte ein Talent für Hits wie den »Kanonensong« aus der »Dreigroschenoper«, deren Eingängigkeit die beabsichtigte kritische Wirkung unterminierte. Diese Gefahr besteht bei Henze nicht. Seine Stilzitate sind abstrakter. Zwar greift er typische Instrumentationseffekte auf, doch gibt er vor allem den Rhythmus wieder. Das Melodische ist bewusst beschränkt.
Mitreißend ist das alles nicht und soll es auch nicht sein. Man versteht die gesellschaftlichen Charaktere dieser Musik, kann auch das Interesse auf Klangeffekte richten – aber zu schwelgen, ist nicht möglich. Das klingt nach aufklärerischer, operativer Kunst. Dem stand der Apparat entgegen, den Henze und Enzensberger forderten. Ein großes Orchester, eine Vielzahl von Rollen – das war ein Werk für Häuser, deren Publikum mehrheitlich keine Sympathien für die Kubanische Revolution hat. Entsprechend fiel »La Cubana« durch.
Gegen Ende seines Lebens plante Henze eine Neufassung. »La piccola Cubana« sollte keine kleine Kubanerin auf die Bühne bringen, sondern das Werk einschrumpfen und damit für die Praxis retten. Das konnte er nicht mehr umsetzen, doch sein langjähriger Mitarbeiter Jobst Liebrecht hat das Stück nach Henzes Vorgaben für kleine Ensembles eingerichtet. Diese Version hat die Staatsoper Berlin am Freitag auf eine Nebenbühne gebracht und etwas vollmundig als »Uraufführung« bezeichnet.
Solche Kammeropern haben fürs Publikum stets den Reiz, nahe am Geschehen zu sein. So ist auch diese Inszenierung eindringlich, was sich nicht zuletzt dem Ensemble verdankt. Besonders Victoria Randem als Rachel trägt den Abend – im Singen wie im Sprechen klar, mit beeindruckender Präsenz bis in Details der Mimik, wie man sie im großen Haus über den Orchestergraben hinweg kaum wahrnehmen könnte. Und auch Liebrechts Neuinstrumentierung bewährt sich unter dem Dirigat von Adrian Heger. Sie ist gut durchhörbar und erlaubt es, die Ebenen der Musik gleichzeitig wahrzunehmen. Zugleich bewahrt sie, qua Klangzitat, die musikalischen Vorbilder, hält sie aber auf Distanz. Das ermöglicht ein kritisches Hören.
Die Inszenierung Pauline Beaulieus stellt geschlechterpolitische Widersprüche heraus, die im Stück bereits angelegt sind: zur Frage etwa, wie die Prostitution zu werten ist, ohne die die Karriere Rachels nicht möglich gewesen wäre. Muss sie stets als brutaler Triumph des Patriarchats kritisiert werden? Oder kann sie nicht als Schritt auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben gesehen werden? Zu einem selbstbestimmten Leben unter den je bestehenden Bedingungen natürlich, aber wie anders wären Entscheidungen denkbar?
All dies ist klug gemacht, kann aber die Probleme des Werks nicht überdecken. Die Beziehungen der Figuren sind in ausgedehnten Nummern entfaltet, aber über die Verhältnisse der Handlungszeiten in den Jahren 1906, 1910, 1914, 1927 und 1934 erfährt man fast nichts. Die Geschehnisse sind so völlig unvermittelt. Ein historischer Bilderbogen ohne historisch Konkretes, das geht nicht. Ebenso heikel ist die Anlage der Hauptfigur. Rachel leidet viel – gleich in der ersten Szene verliert sie ihren Liebhaber, dessen bourgeoise Familie die Beziehung zu einer Tänzerin nicht dulden will. Und so geht es weiter. Je eindringlicher Liebe wie Kummer dargestellt werden – und Randem macht das sehr gut – desto mehr stellt sich die Frage, weshalb Rachel nichts lernt.
Henze und sein Librettist Enzensberger geben keine Antwort auf diese Frage. Sie haben Rachels Entscheidung, bei der Kunst zu bleiben, statt sich an der Revolution zu beteiligen, als Fehler gezeigt. Erwartungsgemäß provozierte dies das Publikum bei der szenischen Uraufführung in München 1975, und wohl noch mehr die Pointe, dass Rachel sogar selbst erkennt, dass sie auf einer Illusion beharrte.
Ist aber die Hauptfigur, mit all ihren Gefühlen, ernstzunehmen? Oder dient sie nur dazu, falsches Denken zu veranschaulichen? Diese Unentschiedenheit beschädigt nach der großen auch die piccola Cubana. Das soll aber nicht vom Besuch der Aufführung abraten, die im musikalischen wie im szenischen Detail überzeugt.
Veröffentlichung |
Kai Köhler
junge Welt, 31.10.2022