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Bogen überspannt

Gleichgültigkeit und Bevormundung: US-Verhältnis zu Lateinamerika im Niedergang.

Nicht nur die Länder Europas, auch – und das wiegt vielleicht noch viel schwerer – die Vereinigten Staaten haben in Lateinamerika und der Karibik an Einfluss verloren. Zu einem Thema der öffentlichen Debatte wurde dies im Frühjahr, als die Regierung von Joseph Biden den jüngsten Amerikagipfel vorbereitete. Der »9. Summit of the Americas« fand vom 6. bis zum 10. Juni in Los Angeles statt. Grundsätzlich kommen zu den Gipfeln die Staats- und Regierungschefs aller 35 Staaten des Kontinents zusammen. Washington folgte aber diesmal dem Plan, stark zu polarisieren, um im großen Ringen mit Russland wenigstens einige Staaten Lateinamerikas fest auf seine Seite zu ziehen. Es lud daher die Staatschefs Kubas, Venezuelas und Nicaraguas aus. Das ging nach hinten los: Andere Staatschefs solidarisierten sich mit ihnen, blieben selbst dem Treffen fern. Letztlich waren auf dem Gipfel, der keine relevanten Ergebnisse produzierte, nur 23 Staats- und Regierungschefs präsent.

Eine Pleite, hieß es in Washington – und noch dazu eine, die nicht aus heiterem Himmel gekommen sei. Der Council on Foreign Relations (CFR) wies darauf hin, die Amerikagipfel, die seit 1994 alle drei bis vier Jahre abgehalten werden, seien seit je von »tiefgreifenden ökonomischen und geographischen Ungleichheiten« geprägt gewesen. Als im Jahr 2005 der Plan, ein Gesamtamerikanisches Freihandelsabkommen zu schließen, ad acta gelegt wurde, sei ein wichtiges verbindendes Element verloren gegangen. Seitdem sei es schwierig, »gemeinsame Interessen zu identifizieren«. Hinzu komme, so hieß es in der CFR-Zeitschrift Foreign Affairs, dass das Ansehen der Vereinigten Staaten in der Region in den vergangenen zwei Jahrzehnten doch erheblich gelitten habe – eine Folge vor allem der Tatsache, dass Washington zwar »Anspruch auf bedeutsame Führung« erhebe, dass es aber zur selben Zeit eine verblüffende »Gleichgültigkeit« gegenüber Lateinamerika an den Tag lege. Während besonders China ökonomisch sehr aktiv sei, seien die USA im wirklichen Leben doch überraschend wenig präsent – träten freilich immer noch »bevormundend« auf.

Was tun? Die eigenen Ansprüche auf ein realistisches Niveau herunterschrauben, hieß es in Foreign Affairs – die gewohnt lautstarke Rhetorik ein wenig dämpfen, die eigenen Grenzen akzeptieren. Washington werde »lernen müssen«, so formulierte es ein Experte von der Fundacao Getulio Vargas in Rio de Janeiro, »mit einer Region zu arbeiten, die weniger von ihm abhängig ist« als je zuvor. Die Zeitschrift lieferte gleich das Schlagwort dazu: Der Subkontinent sei mittlerweile ein »postamerikanisches Lateinamerika«.

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

Veröffentlichung
mit freundlicher Genehmigung von

junge Welt

Jörg Kronauer
junge Welt, 27.08.2022