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Die Freiheit des Verzichts
Zum Tod der großen kubanischen Dichterin und Literaturwissenschaftlerin Fina García Marruz.
Die kubanische Dichterin und Literaturwissenschaftlerin Fina García Marruz behauptete, Poesie sei nichts anderes, als das Geheimnis des Lebens und das Unsichtbare transparent zu machen. Sie sei aber auch überzeugt, dass »die über die Sprache hinausgehende Wirkung der Poesie nicht im neuen Unbekannten liege, sondern in einer neuen Dimension des Bekannten, oder vielleicht in einer unbekannten Dimension des Offensichtlichen«. Ihr Ehemann, der Novellist Cintio Vitier, schrieb über seine Frau, die die kubanische Tageszeitung Granma am Dienstag als »eine der wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen Literatur in Kuba und Lateinamerika« würdigte: »Ihre Poesie dient der Ordnung der Welt, und ihrem Licht, indem sie es aufnimmt, ohne es zu zerstören.«
Unter dem vollständigen Namen Josefina C. García Marruz Badía am 28. April 1923 in Havanna geboren, zeichnete sie sich neben einem umfassenden dichterischen Werk auch als Essayistin, Forscherin und Literaturkritikerin aus. Anfang der 40er Jahre veröffentlichte García Marruz ihren ersten Gedichtband. Zusammen mit Cintio Vitier gehörte sie zu einer Gruppe von Literaten um die von José Lezama Lima gegründeten Zeitschrift Orígenes (1944–1956), zu deren Autoren auch Wifredo Lam, Albert Camus und andere bekannte Intellektuelle zählten. Anfang der 60er Jahre arbeitete sie als Literaturwissenschaftlerin an der Nationalbibliothek José Martí und gehörte von deren Gründung 1977 bis 1987 dem »Centro de Estudios Martianos« an, wo sie Teil des Teams war, das für die kritische Ausgabe der »Obras completas de José Martí« (Gesamtwerke von José Martí) verantwortlich zeichnete.
Die »Grand Dame« der kubanischen Lyrik, deren Werke in mehrere Sprachen übersetzt wurden und in zahlreichen Anthologien erschienen sind, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter 1990 mit dem Nationalen Literaturpreis Kubas sowie 2007 mit dem Pablo-Neruda-Preis und dem Iberoamerikanischen Poesiepreis. Bei der Verleihung des nach Federico García Lorca benannten Poesiepreises der spanischen Stadt Granada hob die Jury 2011 den »nachdenklichen, intensiven und manchmal leidenschaftlichen« Ton der kubanischen Dichterin hervor, die sich durch »formale Zurückhaltung« auszeichne. Im selben Jahr erhielt sie den spanischen Reina-Sofía-Preis für iberoamerikanische Lyrik. Während der Preisverleihung in der Universität von Salamanca lobte deren Rektor in der Laudatio den »magischen Wert des Wortes« im poetischen Werk von García Marruz, deren »starke soziale Komponente« er hervorhob. »In diesen Zeiten, in denen wir ständig von Krise sprechen, zeigt ihre Arbeit, dass Einfachheit nicht unbedingt als Entbehrung empfunden werden muss und dass ein gewisser Verzicht auch Freiheit bedeuten kann«, lobte er. Angesichts einer Gesellschaft des Überflusses weise Fina García Marruz in ihren Werken darauf hin, »dass Übermaß nicht immer das Empfehlenswerteste ist, manchmal ist es im Leben auch wahr, dass weniger mehr ist«, beschrieb der Festredner - Jahre vor Beginn der Fridays-for-Future-Bewegung - ein Anliegen der Poetin.
Im April 2003 unterzeichneten García Marruz und Vitier - am Jahrestag der gescheiterten CIA-Invasion in der Schweinebucht - einen offenen Brief prominenter kubanischer Kulturschaffender »an unsere Freunde in der Welt«. Nach der Verhaftung zahlreicher Konterrevolutionäre baten die Intellektuellen darum, sich nicht »aufgrund von Desinformationen oder aus dem Trauma der gescheiterten sozialistischen Erfahrungen« für eine Kampagne einspannen zu lassen, »die darauf abzielt, uns zu isolieren und den Weg für eine militärische Invasion der Vereinigten Staaten in Kuba ebnen soll«.
Am Montag ist Fina García Marruz im Alter von 99 Jahren in Havanna gestorben.
Veröffentlichung |
Volker Hermsdorf
junge Welt, 30.06.2022