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Realitätsverlust in Washington

Amerikagipfel in Los Angeles mit nur wenigen Staatschefs eröffnet. USA geraten in Lateinamerika ins Hintertreffen.

US-Präsident Joseph Biden hat am Mittwoch (Ortszeit) den offiziellen Teil des Gipfeltreffens der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit einer Rede eröffnet, die eine eingeschränkte Wahrnehmung der Realitäten auf dem Kontinent belegt. »Auf diesem Gipfel haben wir die Gelegenheit zusammenzukommen und den Menschen mit kühnen Ideen und ehrgeizigen Taten zu zeigen, dass die unglaubliche Kraft der Demokratien konkrete Vorteile bringt und das Leben für alle besser macht«, sagte Biden. Er fügte hinzu, »dass wir mehr Zusammenarbeit, gemeinsame Ziele und transformative Ideen« brauchen, um »als Gleichberechtigte unter Achtung der Souveränität gemeinsam Verantwortung zu übernehmen und auf die Herausforderungen in der Hemisphäre« zu reagieren.

Zuvor hatte der Gastgeber in Los Angeles ausländische Staatsoberhäupter begrüßen wollen, von denen aber nur wenige gekommen waren. Statt dem guatemaltekischen Präsidenten reichte Biden dessen Außenminister die Hand. Anschließend begrüßte er den Minister für öffentliche Angelegenheiten von El Salvador, den Außenminister von Honduras und den von Mexiko. Auch Boliviens Präsident und der Staatschef von Uruguay fehlten. Mehrere kleinere Karibikstaaten waren dem Treffen ganz ferngeblieben. Sie protestierten gegen den Ausschluss der Regierungen und von zivilgesellschaftlichen Vertretern aus Kuba, Nicaragua und Venezuela. »Wir halten das für einen schwerwiegenden Fehler und sind der Meinung, dass niemand das Recht hat, einen anderen auszuschließen«, erklärte Mexikos Außenminister Marcelo Ebrard. Statt dessen forderte er ein Ende der jahrzehntelangen »unmenschlichen« US-Blockade gegen Kuba und bestand darauf, dass die Aufhebung der Sanktionen ein zentrales Thema des Gipfels sein werde.

Der Realitätsverlust Washingtons war am Donnerstag ebenfalls Thema lateinamerikanischer Medien. Die argentinische Tageszeitung Página 12 schrieb, die US-Regierung habe »nicht die geringste Ahnung von den Entwicklungen in der Region«, die »in mehreren Ländern die Wahrnehmung drastisch verändert haben, indem deren Regierungen erkannten, dass der Niedergang der USA unumkehrbar ist und wir den Beginn einer neuen geopolitischen Ära erleben«. Während die mexikanische Tageszeitung La Jornada einen »Topberater von Biden« mit der Aussage zitierte, »dass die Sache noch nicht verloren sei, nur weil der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador und andere führende Politiker nicht teilnehmen«. Zugleich verwies sie auf die Einschätzung von Richard Haass, dem Chef der einflussreichen US-Denkfabrik Council on Foreign Relations (CFR), der auf Twitter geschrieben hatte: »Der Gipfel scheint ein Debakel zu sein, ein diplomatisches Eigentor, die USA haben keinen Vorschlag zum Handel, keine Einwanderungspolitik, kein Infrastrukturpaket.«

Nach offizieller US-Darstellung wollte Biden den bis diesen Freitag dauernden Gipfel dazu nutzen, »den Beziehungen zwischen Nord-, Mittel- und Südamerika einen neuen Impuls zu geben«. Er kündigte »eine Reihe von Initiativen zu Migration, Energie und Klimawandel« sowie »die Ausbildung von 500.000 Ärzten und Pflegern in Lateinamerika und der Karibik« an. Zudem sollen Investitionen vereinfacht und Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien geschaffen werden. US-Außenminister Antony Blinken hatte am Dienstag außerdem über Investitionen »im Kampf gegen digitale Desinformation in Lateinamerika« berichtet. Laut Blinken will Washington dazu ein »Netzwerk für digitale Kommunikation« sowie »Plattformen gegen Desinformation und zur Schulung von Journalisten« finanzieren.

Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel warnte am Mittwoch vor derartigen Maßnahmen, die offenbar dazu beitragen sollten, »insbesondere junge Menschen mit Ideen zu versorgen, die in den ideologischen Laboren der USA entwickelt wurden, um Verhaltensweisen und Weltanschauungen zu fördern, die zu politischer Apathie und sozialer Entfremdung, zu Egoismus, Rassismus, Narzissmus und Aggressivität« führen. »Wenn ein größerer Einfluss und eine stärkere Kontrolle über unsere Gesellschaften angestrebt wird, indem die technologischen Informationsplattformen in wenigen Händen monopolisiert werden, ist das offensichtliche Ziel die Konsolidierung der hegemonialen und imperialistischen Vorherrschaft mit neuen Methoden«, erklärte Díaz-Canel.

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

Veröffentlichung
mit freundlicher Genehmigung von

junge Welt

Volker Hermsdorf
junge Welt, 10.06.2022