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Revolution hilft

Kuba: 1960 wurden Mietwucher und Spekulation mit Wohnraum per Gesetz beendet. Heute stellen sich neue Probleme.

Wohnen für alle

Kubas Bürger leben nicht im Paradies. Versorgungsmängel bei Nahrungsmitteln, Treibstoffen und Medikamenten prägen den Alltag. Und jedes Mal, wenn die USA ihre seit 60 Jahren gegen die Insel verhängte Blockade verschärfen und neue Sanktionen ausrufen, gibt es weitere Einschränkungen. Doch trotz ihrer vielfältigen Probleme müssen die Kubanerinnen und Kubaner den verzweifelten Kampf um bezahlbare Wohnungen, wie er in deutschen Großstädten alltäglich ist, nicht führen.

Als eine ihrer ersten Maßnahmen hatte die revolutionäre Regierung am 14. Oktober 1960, wenige Monate nach dem Sieg der von Fidel Castro angeführten Rebellen, ein Gesetz zur Stadtreform, die »Reforma Urbana« verabschiedet, durch das Mietwucher und die Spekulation mit Wohnraum beendet wurden. Bis dahin war die Versorgung auch in Kuba kapitalistischen Regeln unterworfen. In den ersten Jahrzehnten nach der 1902 formal erreichten Unabhängigkeit hatte in den Großstädten ein schnelles Bevölkerungswachstum zu mehr Nachfrage und kontinuierlich steigenden Mieten geführt, die zum Beispiel in Havanna zu den höchsten Lateinamerikas gehörten. Private Investoren und Wohnungsbauunternehmen strebten nach Gewinnmaximierung und reklamierten das Recht der »freien« Vergabe von Mietverträgen für sich. Dadurch konnten sich nahezu ausschließlich Angehörige der wohlhabenden Bevölkerungsschichten das Leben in neu gebauten Häusern leisten. Weniger betuchte Bürger teilten ältere Gebäude in zahlreiche kleinere Wohneinheiten auf und verwandelten sie in günstige »Mietskasernen«. Konnten Bewohner die steigenden Kosten trotzdem nicht mehr zahlen, drohten Räumungsklagen. Wer im Rückstand war, wurde auf die Straße gesetzt. Für einfache Arbeiter und Tagelöhner bestand die einzige Lösung oft darin, sich eine behelfsmäßige Hütte aus Abfallmaterialien in einem der schnell wachsenden Slums von Havanna zu errichten.

Wort gehalten

1953 hielt der junge Anwalt Fidel Castro seine durch die Worte »Die Geschichte wird mich freisprechen« berühmt gewordene Verteidigungsrede nach dem gescheiterten Angriff der von ihm angeführten Guerilleros auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba. Darin prangerte er die »Tragödie im Wohnungswesen« an. »Hunderttausende Familien auf dem Lande leben in Baracken und Hütten ohne die elementarsten hygienischen und gesundheitlichen Bedingungen. Die städtische Bevölkerung zahlt immer öfter Mieten, die den größten Teil der Einkommen ausmacht. Und wenn gefordert wird, die Mieten zu senken, drohen Vermieter damit, den Bau von Wohnungen einzustellen«, beschrieb Castro die Situation. Er kündigte für den Fall des Sieges seiner Bewegung an, zunächst die Mieten drastisch zu senken und die Bewohner dann zu Eigentümern der Häuser zu machen. Und er hielt Wort: In den ersten Wochen nach dem Sieg der Revolution am 1. Januar 1959 wurden erste Gesetze zur Wohnungspolitik erlassen. Am 26. Januar verfügte die neue Regierung die Einstellung aller Räumungsklagen. Im März und April folgten Bestimmungen zur Senkung der Mieten und die Festlegung von Höchstpreisen. Mit der »Reforma Urbana« wurden am 14. Oktober 1960 dann weitreichende Entscheidungen über Eigentumsrechte und die künftige Wohnungspolitik getroffen.

Kern des neuen Gesetzes war die Verstaatlichung. Der gesamte Bestand an Mietwohnungen wurde deren Bewohnern als Eigentum übertragen, und die Vorbesitzer wurden je nach Baujahr und Ausstattung entschädigt. Viele Menschen hätten nach 15, 20 oder 30 Jahren zur Miete ihre Wohnungen bereits mehrfach abbezahlt, doch trotzdem gehöre sie ihnen nicht, begründete Castro den Paradigmenwechsel am 15. Oktober 1960. Tatsächlich wohnten im Jahr 2012, zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung, laut dem Amt für Statistik und Information (ONEI) etwa 90 Prozent der kubanischen Bürgerinnen und Bürger mietfrei in den eigenen vier Wänden. Um das erneute Entstehen spekulativer Immobilienmärkte zu verhindern, war der Kauf und Verkauf von Wohnraum rund 50 Jahre lang grundsätzlich verboten. Bis 2011 war es nur zulässig, Wohnungen zu vererben oder gegen gleichwertige zu tauschen. Bis heute dürfen Bürger Kubas offiziell maximal zwei Immobilien besitzen. Bis 1984 waren auch Mietverträge zwischen Privatpersonen untersagt.

Neue Stellschrauben

Was in den Jahren nach der Revolution zunächst für das Ende der Wohnraumspekulation gesorgt hatte, erwies sich für nachfolgende Generationen allerdings als unflexibel. Der Altbestand in den Städten verfiel. Zum Teil auch, weil Baumaterial fehlte. Neue Blocks wurden im Plattenbau und durch freiwillige »Microbrigaden« von Beschäftigten, die unter Fortzahlung ihres Entgelts für die Bauzeit freigestellt wurden, vor allem auf dem Land und in den Vorstädten hochgezogen. Die Situation in den ländlichen Gebieten, wo viele Menschen bis zur Revolution in Hütten ohne Strom- und Wasserversorgung gelebt hatten, verbesserte sich deutlich. Doch insgesamt konnte das Angebot trotzdem nicht mit der gestiegenen Nachfrage Schritt halten. Vor allem jüngere Leute waren gezwungen, bei ihren Eltern wohnen zu bleiben. Versuche, die strikten Vorschriften zu umgehen, führten verstärkt zu illegalen Aktionen. Nach und nach bildete sich ein grauer Markt für Kauf und Verkauf heraus.

Angesichts der veränderten Situation leitete der 6. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas im April 2011 mit neuen »Wirtschafts- und sozialpolitischen Leitlinien« die Überarbeitung der mehr als 50 Jahre alten Gesetze ein. Möglichkeiten zum Kauf und Verkauf sowie zum Tausch von Wohnungen und Häusern wurden flexibilisiert, neue nichtstaatliche Formen des Baus zugelassen, die Vermietung erleichtert und der freie Verkauf von Baumaterialien ohne Subventionen gefördert. Die Leitlinien markierten den Übergang von einer rein staatlichen Wohnungswirtschaft, die 1960 mit der »Reforma Urbana« eingeleitet worden war und das absolute Primat politischer Vorgaben über ökonomische Interessen begründet hatte, zu einer Politik, die kontrolliert auch auf privatwirtschaftliche Anreize setzte. Der sozialpolitische Anspruch, allen Bürgern einschließlich der Ärmsten einen würdigen Lebensraum zu garantieren, blieb eine bisher nicht gelöste Herausforderung in Kuba.

Zwar wurden massenhaft Wohnungen instandgesetzt, und das Angebot verbesserte sich, doch es gibt auch neue Verwerfungen. Im Exil lebende Kubaner und Ausländer erwerben Immobilien illegal über Strohleute, oft in spekulativer Absicht. In Kuba lebende Bürger vermieten Wohnungen und Zimmer in guten Lagen gegen Devisen an Touristen. Internetportale wie Airbnb treiben die Mieten in Havanna in astronomische Höhen. Auch die Preise für mittlerweile frei gehandelte Immobilien explodieren. Damit sind Bürger, die nicht über Zuwendungen aus dem Ausland verfügen oder einem lukrativen privaten Geschäft nachgehen, von der »neuen Freiheit« auf dem Wohnungsmarkt ausgeschlossen. Statistisch sind Zweckentfremdung und Wucherpreise noch eine vernachlässigbare Größe. Doch gibt es Warnungen vor einem Rückfall in vorrevolutionäre Zustände. Denn die grundsätzliche Weichenstellung der »Reforma Urbana« wird in Kuba noch immer als Errungenschaft angesehen. Trotz aller Irrtümer und Fehler sind die vor 60 Jahren beschlossenen Maßnahmen ein Beispiel dafür, dass es Alternativen zum Kampf ums Wohnen in Deutschland und anderen kapitalistischen Ländern gibt.

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

Veröffentlichung
mit freundlicher Genehmigung von

junge Welt

Volker Hermsdorf
junge Welt, 03.11.2021