Nachrichten aus und über Kuba
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Die Abhängigkeit verringern
Das Ende des staatlichen Monopols. Kuba setzt eine neue Landwirtschaftsreform um.
Herminio Martínez inspiziert den fabrikneuen Traktor aus Belarus und kann sein Glück kaum fassen. »Heute bin ich der glücklichste Bauer in ganz Kuba. Ich danke der Revolution für diese Möglichkeit«, sagt der Rinderzüchter gegenüber Reportern des Bürgerportals seiner Provinz »Soy Villa Clara«. Er gehört zu den ersten Landwirten der sozialistischen Insel, die diesen Monat von der neuen Möglichkeit Gebrauch machen, Maschinen und andere Produktionsmittel auf eigene Rechnung zu importieren. Bislang waren Kubas Bauern allein auf die stets knappen staatlichen Zuteilungen angewiesen. Jetzt dürfen sie exportieren, Überschüsse an inländische Abnehmer verkaufen und die Produktion mit ihren Einnahmen erweitern. Die Maßnahmen sind Teil einer umfangreichen Landwirtschaftsreform, mit der die Lebensmittelproduktion angekurbelt werden soll.
Vor der Revolution war Kubas Landwirtschaft von großen Latifundien und US-Konzernen dominiert, acht Prozent der Eigentümer kontrollierten rund 70 Prozent des Landes. Freie Kleinbauern waren kaum vorhanden, und der Anbau konzentrierte sich auf »König Zucker«, an dem der größte Teil der Landbevölkerung in Form von Saisonarbeit beteiligt war. Mit der ersten Agrarreform von 1959 wurde das Land an die Bauern aufgeteilt, Schulen und Infrastruktur auch in den entlegensten Winkeln errichtet. Zwei Jahre nach der Proklamation des sozialistischen Charakters der Revolution erfolgte 1963 eine zweite Landreform, mit der privater Landbesitz auf 40 Hektar pro Person beschränkt wurde. Kleinbauern schlossen sich in entsprechenden Kooperativen (Cooperativa de Crédito y Servicio, kurz: CCS) zusammen, während die meisten Flächen durch den Staat bewirtschaftet wurden. Der Schwerpunkt lag weiterhin auf dem Zuckerrohranbau, der jetzt allerdings mit sowjetischer Unterstützung technisiert wurde. In den 1980er Jahren gehörte die Insel mit Exporten von fast neun Millionen Tonnen zu den größten Zuckerproduzenten der Welt. In der Lebensmittelproduktion waren allerdings nur 27 Prozent der Farmen rentabel, die Importquote lag 1986 bei rund 54 Prozent. Dank Rindfleisch aus der -Sowjetunion und Futtermitteln aus der DDR im Austausch für das »weiße Gold« blieben die Anreize zur Diversifizierung gering. Mit der Auflösung des sozialistischen Lagers in Europa und dem Beginn der sogenannten Sonderperiode in Friedenszeiten mussten die Prioritäten der kubanischen Landwirtschaft gezwungenermaßen fundamental verändert werden.
Interne Blockaden
Die Zuckerindustrie spielt inzwischen keine nennenswerte Rolle mehr und fuhr trotz mehrfacher Bemühungen zu ihrer Wiederbelebung mit 816.000 Tonnen in der aktuellen Saison die niedrigste Ernte seit 1908 ein. Mit einem Anteil von 17 Prozent stellt die Landwirtschaft heute – nach dem Tourismus und anderen Dienstleistungen – den zweitgrößten Beschäftigungssektor auf Kuba. Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt beträgt allerdings nur 3,7 Prozent. Zum Vergleich: In der benachbarten Dominikanischen Republik stellt die Landwirtschaft neun Prozent aller Arbeitsplätze und trägt mit 5,1 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Trotz fruchtbarer Böden muss Kuba rund 70 Prozent des benötigten Kalorienbedarfs aus dem Ausland einführen, wobei laut Berechnungen des Landwirtschaftsministeriums davon der größte Teil auf der Insel selbst hergestellt werden könnte.
Neben der seit 60 Jahren bestehenden Wirtschaftsblockade durch die Vereinigten Staaten sowie wiederkehrenden Dürren und Hurrikans ist dafür nicht zuletzt die überbordende Bürokratie des Agrarministeriums verantwortlich. Dessen unwirtschaftliches Abnahme- und Logistikwesen über den Monopolisten Acopio zählt laut dem an der Ausarbeitung der Reform beteiligten kubanischen Agrarökonomen Armando Nova González heute zu den gewichtigsten Problemen des Sektors. Bislang liefern Landwirtschaftskooperativen ebenso wie Einzelbauern den Großteil ihrer Ernte an Acopio zu Preisen ab, die oft unter den Produktionskosten liegen. Im Gegenzug stellt der Staat Düngemittel, Saatgut und Maschinen. Laut Schätzungen gehen aufgrund zu später Abholung und unsachgemäßer Lagerung in manchen Bereichen bis zu 57 Prozent der Ernte zwischen Erzeuger und Endverbraucher verloren. Unbezahlte Rechnungen sind eher die Regel als die Ausnahme.
Bereits vor der 2011 gestarteten »Aktualisierung des Wirtschaftsmodells« begann Raúl Castro nach seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 2008 erste Neuerungen in der Landwirtschaft einzuführen, er versprach jedem Kubaner künftig »sein Glas Milch«. Damals wurde auf der Grundlage von »Gesetz 259« mit der Übergabe von brachliegenden Flächen an Kleinbauern begonnen. Bislang war der Sektor überwiegend von zentral gelenkten Kooperativen und Staatsfarmen dominiert, eine prominente Ausnahme bildete der Tabakanbau. Seither kamen knapp zwei Millionen Hektar zusammen, die an 245.000 Kleinbauern zum Nießbrauch übergeben wurden. Insgesamt verfügt Kuba über 6,4 Millionen Hektar Ackerland. Das Gesetz wurde seither mehrfach erweitert: Unter der Bedingung, dass sich die Landwirte zu einer Kleinbauernkooperative zusammenschließen, wurde 2012 die maximale Parzellengröße von 40,2 auf 67,1 Hektar erweitert. 2017 wurde die Mindestparzellengröße bei Neuverträgen von 13,4 auf 26,8 Hektar verdoppelt. 2018 folgte die Verlängerung der Vertragslaufzeit von zehn auf 20 Jahre, zudem durften die Bauern erstmals Wirtschaftsgebäude auf dem Land errichten, Arbeitskräfte einstellen und, sofern sie dafür eigenes Futter produzierten, Weidevieh halten.
Insbesondere bei der Herstellung von Obst und Gemüse spielen die Neubauern eine wichtige Rolle. Obwohl Kleinbauern in Kuba heute nur gut ein Drittel der Nutzfläche bewirtschaften, sind sie für mehr als 50 Prozent der heimischen Lebensmittelproduktion verantwortlich. Mit der Landvergabe konnten die Erträge in zentralen Bereichen verbessert werden: So stieg der Output an Wurzel- und Knollenfrüchten zwischen 2008 und 2018 um 61,5 Prozent, die Produktion von Koch- und Essbananen um 19,3 Prozent. Bei Reis und Bohnen waren zweistellige Zuwächse zu verzeichnen. Doch auch bei den beiden Grundnahrungsmitteln beträgt der Importanteil noch immer rund 50 Prozent, Hühnchen müssen zu 75 Prozent, Speiseöl und Mehl sogar zu 100 Prozent aus dem Ausland eingeführt werden. Die Milchproduktion entwickelte sich unstet und konnte von 2008 bis 2018 um lediglich 5,8 Prozent gesteigert werden, die Produktion von Eiern legte um 19,3 Prozent zu. Rückschläge gab es beim Hühnerfleisch (-12,9 Prozent) und den Zitrusfrüchten (-83,5 Prozent). Im zeitlichen Verlauf erfolgten die größten Ertragssteigerungen zwischen 2008 und 2013, danach legte die Produktion in vielen Bereichen nur noch wenig zu und war teilweise sogar wieder leicht rückläufig.
Trotz einiger Erfolge in der vergangenen Dekade ist es mit den bisherigen Maßnahmen nicht gelungen, die Importquote wesentlich zu senken. Ein in Kooperation mit Vietnam gestartetes Projekt zum Reisanbau in Pinar del Río hatte ab 2015 wieder mit sinkenden Erträgen zu kämpfen. Der 2013 im Rahmen eines Pilotprojekts auf der Insel der Jugend gestartete Verkauf von Arbeitsmaterial wurde aufgrund knapper Devisen nicht weiter ausgedehnt. Zuvor erfolgte Reformen auf seiten der Distribution, wie die Zulassung privater Großmärkte, lieferten nicht die gewünschten Ergebnisse und wurden 2016 wieder zurückgenommen. Die Energiekrise im Jahr 2019, in deren Folge die Futter- und Düngemittelimporte reduziert wurden, machte einen großen Teil der Ertragssteigerungen der vergangenen Jahre wieder zunichte. Der Viehbestand erlebte damals größere Verluste.
Während der durch die Coronapandemie verursachten Rezession haben sich die Importkapazitäten des Staates um rund die Hälfte reduziert. Lange Schlangen für basale Produkte wie Hühnchen, Speiseöl und Tomatenpüree haben seit Sommer 2020 vielerorts die Verwundbarkeit der Versorgungskette gezeigt. In diesem Jahr hat sich die Lage weiter zugespitzt. Seit kurzem muss dem Brot in Havanna Maismehl zugemischt werden, da die Mittel für den Weizenimport nicht mehr ausreichen. Die Brotzuteilungen an Gastronomie und Staatseinrichtungen sind für Mai bis Juli um die Hälfte, die Mengen für den freien Verkauf um knapp ein Drittel gekürzt worden. Als Ausgleich wurde ein zusätzliches Pfund Reis (450g) über das staatliche Bezugsheft »Libreta« zum Selbstkostenpreis abgegeben. Die Versorgungslage ist prekär, wenn auch nicht ganz so angespannt wie in den frühen 1990er Jahren.
Lokale Produktionskreisläufe
»Wir brauchen eine Vermarktungsstruktur ohne Monopole«, erklärte Kubas ehemaliger Landwirtschaftsminister Gustavo Rodríguez Rollero im November des vergangenen Jahres. Damals wurde als Teil der neuen Wirtschaftsstrategie des Landes ein neuer »Masterplan« für die kubanische Landwirtschaft beschlossen, der seit April umgesetzt wird. Grundsätzliche Linie der neuen Strategie ist es, vergleichbare Rahmenbedingungen für sämtliche Akteure zu schaffen. Für den Agrarsektor bedeutet dies, dass vom Kleinbauern über die Kooperative bis hin zu Arbeitern auf eigene Rechnung alle Produzenten Zugang zum Groß- und Einzelhandel erhalten, ihre Produkte anbieten und Einkäufe tätigen können. Landwirte sollen ihre Überschüsse nach Erfüllung der Verträge mit dem Staat weiterverkaufen und auf diese Weise neue Wertschöpfungsketten mit weiterverarbeitenden Betrieben, Restaurants, Kantinen, Händlern und Zulieferern in ihrer Gemeinde bilden können.
An die Stelle der Produktionsverpflichtung (»Compromiso Productivo«) tritt der Vertrag, den die Erzeuger mit immer mehr Abnehmern jetzt direkt abschließen, um Zwischenhändler und Bürokratie zu vermeiden. Staatliche Einrichtungen wie Krankenhäuser und Betriebskantinen sollen, mit eigenen Budgets ausgestattet, direkt bei den Produzenten kaufen, womit mehr Auswahl und »größere Flexibilität auch mit Blick auf die Bedürfnisse jeder einzelnen Institution« ermöglicht werden sollen, verspricht Rollero. Vorbild ist die 2013 eingeführte Möglichkeit, an Tourismuseinrichtungen zu liefern. Das Vertragswesen soll professionalisiert und Korruption über die Pflicht zum bargeldlosen Begleichen der Rechnung von vornherein unterbunden werden.
Die bisherigen Preisobergrenzen werden sukzessive fallen. Laut Wirtschaftsminister Alejandro Gil habe sich das Instrument nicht bewährt, da »die Waren entweder zurückgehalten werden oder zum alten Preis auf dem Schwarzmarkt landen«. Lediglich 18 Produkte, darunter Grundnahrungsmittel wie Reise und Bohnen, sollen weiterhin nationalen Festpreisen unterliegen. Der Rest wird auf die Ebene der Gemeinden verlagert, deren Rolle mit der Verfassung von 2019 gestärkt wurde. Sie können mit Steuererleichterungen und mit aus einer neuen Lokalentwicklungssteuer finanzierten Investitionen Einfluss auf die Rahmenbedingungen der Produzenten in ihrem Gebiet nehmen. Ähnlich wie mit der Einführung des »Familienverantwortungssystems« Ende der 1970er Jahre in der Volksrepublik China sollen auf Kuba geschlossene Wertschöpfungsketten auf lokaler Ebene entstehen, bei denen ausreichende Mittel für eine Steigerung der Erträge bei den Produzenten verbleiben. Diese sollen in die Lage versetzt werden, selbstständig über Anbau und Verkauf zu entscheiden, verschiedene Absatzkanäle zu nutzen und physische wie monetäre Verluste zu minimieren. Hieran war die frühere Landwirtschaftsreform im Jahr 2014/15 gescheitert, bei der die Freigabe der Preisbildung ohne entsprechende Änderung der Kostenstruktur für die Produzenten erfolgte. In der Folge bereicherten sich Zwischenhändler und Spekulanten, während es auf dem Land weiterhin an Düngemitteln, Technik und zuverlässigen Abnehmern mangelte. Als damals die Preise auf den Bauernmärkten in die Höhe schossen, zog die Regierung schließlich die Notbremse und nahm die Politik im Januar 2016 wieder zurück. Acopio war seither wieder fast allerorts der alleinige Abnehmer.
Anders als in früheren Reformplänen vorgesehen, soll Acopio weder aufgelöst noch marginalisiert werden. Der Staat wird weiterhin rund 70 Prozent der Ernte kontraktieren, um damit die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln zum Selbstkostenpreis über die »Libreta« sicherzustellen. Auch die Belieferung der staatlichen Bauernmärkte mit günstigem Obst und Gemüse wird über die Struktur gewährleistet. Die Stellung der Produzenten gegenüber der Firma wird jedoch erheblich gestärkt: Sollte Acopio nicht rechtzeitig bezahlen, können Landwirte nach Ablauf einer Frist ihre Ware an beliebige andere Abnehmer verkaufen. Acopio soll so gezwungen werden, nur noch Verträge einzugehen, die die Firma auch einhalten kann, anstatt Produzenten zu blockieren. Genossenschaftliche und private Groß- und Einzelhändler sollen auf den Platz treten, um die Distributionskanäle zu verbreitern. An sie dürfen staatliche Betriebe Ressourcen wie Transportkapazitäten, Lager- und Kühlhäuser vermieten. Auch mobile Händler (Carretilleros), für die seit 2017 keine neuen Lizenzen mehr ausgegeben wurden, sind wieder erlaubt. Ihnen kommt vor allem bei der Versorgung im urbanen Bereich eine wichtige Rolle zu. Die verschiedenen Akteure sollen – mit eigener Rechtsform ausgestattet – »in harmonischen Wettbewerb« untereinander treten, so Rollero.
Acopio hat inzwischen den ersten Jahrestag seit der Neugründung als Unternehmensverband (Organización Superior de Dirección Empresarial, kurz: OSDE) begangen. Die neue Rechtsform ermöglicht der Firma »größere Flexibilität in ihrer Tätigkeit und auch eine höhere Teilhabe an den Investitionsplänen der Regierung«, sagt der technische Direktor, Ramón Rosa Martín. Mit der Neustrukturierung soll Acopio effizienter werden. Lieferwege sollen verkürzt und die Logistik auf den neuesten Stand gebracht werden. Immer mehr Transportfahrzeuge sind inzwischen mit GPS ausgestattet und fahren entlang von per Algorithmus optimierten Routen. Die einzelnen Provinzniederlassungen erhielten mehr Autonomie und können selbständig Verträge mit Drittunternehmen abschließen. Zudem können sie Kredite aufnehmen, um Finanzierungsengpässe zu überwinden. Damit sollen die bekannten Verzögerungen beim Ausbezahlen der Bauern reduziert werden. Diese erhielten den festgelegten Abnahmepreis bisher erst nach dem vollständigen Verkauf der Ernte durch die Firma, da die Mittel für entsprechende Vorleistungen fehlten. Die verschiedenen Kooperativentypen, die bisher meist rote Zahlen schrieben, erhalten über den Verkauf hinaus größere Autonomie in der Betriebsführung. Dies soll ihnen die notwendigen Spielräume für Investitionen in die Produktion verschaffen. Statt wie bisher einen Antrag beim Ministerium einzureichen, könnte eine Kooperative dann beispielsweise eigenständig den Ausbau von Bewässerungssystemen in Angriff nehmen und andere Betriebe der Region unter Vertrag nehmen. Kleine und mittlere Unternehmen, für die sowohl im Staats- als auch im Privatsektor eine eigene Rechtsform vorgesehen ist, sollen sich in der Landwirtschaft als Zulieferer von Düngemittel und Arbeitsgerät etablieren und neue Produktionskreisläufe entstehen lassen.
Ein zentraler Aspekt der Reform ist die Öffnung des Außenhandels. Bereits seit dem vergangenen Sommer können private Landwirte und Kooperativen ihre Produkte an 37 staatliche Außenhandelsbetriebe verkaufen und dabei das Gros der harten Währung behalten. Als erstes haben Kleinbauern aus der westlichen Provinz Mayabeque mit dem Export von Limetten und Mangos nach Spanien begonnen, noch hält sich der Umfang der Exporte allerdings in Grenzen. Nach jüngsten Angaben wurden im gesamten Privatsektor bislang mehr als 1.000 Importverträge und rund 100 Verträge für den Export unterzeichnet. Um Devisen einzunehmen ist neben dem Auslandsabsatz auch der Verkauf an staatliche Supermärkte sowohl in Pesos als auch in US-Dollar möglich. Bislang wird dort fast ausschließlich Importware angeboten. Begehrte Produkte wie heimisches Rindfleisch, Käse und Milch sollen so einen direkteren Weg zu den Konsumenten finden. Die auf diesem Weg erwirtschafteten Gewinne können für den Einkauf neuer Traktoren, von Saatgut, Dünger und Arbeitsmaterial genutzt werden. Hierfür zeichnet die staatliche Agrarhandelskette GELMA verantwortlich, die in sämtlichen Provinzen Filialen unterhält. Anders als im früheren Pilotprojekt zum Verkauf von Arbeitsgerät müssen die Käufer in Devisen bezahlen, womit dem Staat beim Import keine Verluste entstehen. Auch die eingangs erwähnten Traktoren des Minsker Herstellers MTS, die je nach Modell mit 17.000 bis 27.000 US-Dollar (14.000 bis 22.000 Euro) zu Buche schlagen, werden über die Firma verkauft. Obschon in die Preise anders als bei den früheren Angeboten in konvertiblen Pesos keine üppigen Gewinnmargen eingerechnet sind, dürften die meisten Einzelbauern über keine ausreichenden Fremdwährungsbestände verfügen, um sich derartige Importe leisten zu können. Dem Zusammenschluss in Kooperativen könnte mit Blick auf den Zugang zu Maschinen und Außenhandel damit eine neue Bedeutung zukommen.
Auch den Bauernmärkten ist mit der neuen Landwirtschaftspolitik eine Veränderung ihrer Rolle zugedacht. »Wir können nicht mit ›Acopio-Anhängseln‹ weitermachen«, erklärte Rollero. Künftig sollen die Verkaufsstellen ein breiteres Sortiment in moderner Präsentation abbilden. Produzenten sind dazu aufgerufen, eigene Marken zu kreieren und weiterverarbeitete Lebensmittel wie Konserven mit stärkerer Preis- und Qualitätsdifferenzierung anzubieten. Als eine der ersten liefert seit kurzem Havannas »Finca Marta« Obst, Gemüse und einige eher selten anzutreffende Kräuter und Gewürze an staatliche Einzelhändler in der Hauptstadt. Die »Finca Marta« ist in der Hauptstadt bekannt: Fidel Castro stattete dem für seine Effizienz prämierten Betrieb in seinen letzten Lebensjahren mehrfach einen Besuch ab. Die Frischware, welche zu erschwinglichen Preisen in heimischer Währung in einigen Geschäften verkauft wird, ist fein säuberlich abgepackt und mit Barcodes versehen – ein Novum in Kuba. Um die Exporte weiter anzukurbeln, soll in Zukunft ein nationales Biolabel geschaffen werden.
»Sofortpaket«
Am 26. März wurde Rodríguez Rollero nach elf Jahren an der Spitze des kubanischen Landwirtschaftsministeriums abgelöst, dessen Leitung nun der 48jährige Agrarökonom Ydael Pérez Brito übernommen hat. Im Rahmen eines »Sofortpakets« werden seit Mai 30 der 63 beschlossenen Maßnahmen beschleunigt umgesetzt. »Das Volk isst keine Pläne«, mahnte Premierminister Manuel Marrero die Dringlichkeit der Aufgabe an. Zuvor fanden landesweit mehrere Tagungen zwischen Fachpolitikern und Vertretern des Kleinbauernverbandes ANAP statt, in denen die am schnellsten zu lösenden Probleme des Sektors ermittelt wurden. Das 30-Punkte-Programm umfasst konkrete Maßnahmen in allen Bereichen von Produktion bis Distribution entlang der im Herbst von Rollero vorgestellten Strategie und wurde inzwischen als Broschüre veröffentlicht.
Mit der Aufhebung des Verbots privater Rinderschlachtungen ist im Rahmen des ersten der neuen Gesetze vor kurzem ein langjähriges Tabu gefallen. Verstöße gegen die 1963 eingeführte Regel, welche ursprünglich die Absicherung der Milchproduktion in Folge des Jahrhundertsturms »Flora« zum Ziel hatte, wurden bislang hart bestraft. Manche Bauern ließen ihr Vieh deshalb »verunglücken«, um ohne die drohende mehrjährige Gefängnisstrafe etwas von dem begehrten Fleisch aus ihrer Herde zu erhalten. Es entstand das geflügelte Wort, dass es auf Kuba heikler sei eine Kuh zu schlachten, als einen Menschen zu töten. Jetzt können Bauern nach der Erfüllung ihrer Verträge mit dem Staat eine Schlachtung bei der Gemeinde beantragen, müssen dafür aber weiterhin bestimmte Kriterien erfüllen. Es gilt die Faustregel: Pro drei Tiere Bestandszuwachs darf jeweils eines geschlachtet werden. Das Fleisch darf für den Eigenbedarf genutzt oder über staatliche Abnehmer an Supermärkte in US-Dollar und die Tourismusindustrie verkauft werden. Auch Milch kann inzwischen so gehandelt werden.
Als weitere Sofortmaßnahme wurden die Preise für staatliche Futtermittel aus lokaler Herstellung sowie für Strom und Wasser rückwirkend zum 1. Januar um 30 bis 60 Prozent gesenkt. Im Zuge der zum Jahreswechsel umgesetzten Währungsreform klagten viele Landwirte über ein Missverhältnis von Preisen und Kosten. Mit der Senkung der Nebenkosten sollen die Produktionskosten im Reisanbau um rund ein Drittel niedriger ausfallen. Bauern erhalten darüber hinaus direkten Zugang zu Krediten und Versicherungen, um sich besser gegen Naturkatastrophen wie Hurrikans und Dürren zu wappnen. Die bisherigen rudimentären Ernteausfallversicherungen konnten ausschließlich von übergeordneter Stelle, nicht jedoch vom Produzenten selbst abgeschlossen werden und hatten daher wenig Nutzen. Kooperativen und Einzelbauern dürfen jetzt, auch im Verbund, Immobilien anmieten und ihre Überschüsse in eigenen Verkaufsstellen anbieten.
Zuletzt bekräftigte Kubas regierende Kommunistische Partei auf ihrem VIII. Parteitag Mitte April die neue Wirtschaftsstrategie des Landes und aktualisierte dabei neben den »Leitlinien« bis 2026 auch das langfristige sozialistische Entwicklungsmodell. Die Umsetzung der Maßnahmen für den Agrarsektor zählt in diesem Jahr zu den Prioritäten der Regierung. Die Landwirtschaft birgt trotz der Krise das größte Potential für Erfolge, da hier »allein durch interne Restrukturierungen, ohne zusätzliche Devisenausgaben bessere Resultate erreicht werden können«, wie Wirtschaftsminister Alejandro Gil erklärte. »Alles, was die Produktion fördert, Hemmnisse beseitigt und den Produzenten nützt, ist gut«, gab Präsident Miguel Díaz-Canel im Vorfeld als Credo aus. Kuba müsse die Ernährung seiner Bevölkerung »mit der geringstmöglichen Abhängigkeit von außen« sicherstellen können, so der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei Kubas. Bis essbare Ergebnisse auf den Tellern der Bevölkerung landen, dürfte es allerdings noch etwas dauern: Änderungen in der Landwirtschaftspolitik brauchen traditionell Zeit, um sich in höheren Erträgen niederzuschlagen. Ob sich wie erhofft durch Reduzierung der Verluste mit der neuen Abnahmestruktur noch in diesem Jahr ein positiver Effekt einstellen kann, bleibt abzuwarten. »Die Maßnahmen bedeuten eine Verbesserung für die Bauern und die Entwicklung des Landes«, ist sich der Landwirt und stolze Traktorbesitzer Herminio Martínez indes sicher.
Veröffentlichung |
Marcel Kunzmann
junge Welt, 02.06.2021