Nachrichten aus und über Kuba
Nachrichten, Berichte, Reportagen zu aktuellen Entwicklungen, Hintergründen und Ereignissen in Kuba, internationale Beziehungen und der Solidarität mit Kuba.
Virus der Ungleichheit
Wir erleben die schlimmste gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Krise des Jahrhunderts auf diesem Planeten. Die Alternative lautet Sozialismus.
Es ist nicht wahr, dass das Virus gleichsam demokratisch über alle herfällt. Es fragt zwar nicht danach, wieviel Geld jemand hat, aber es trifft und schlägt vor allem diejenigen, die sich nicht gut ernähren und sich auch nicht um ihre Gesundheit kümmern können, diejenigen, die nicht zu Hause bleiben können, weil sie zur Arbeit müssen, um ihr tägliches Auskommen zu finden, und diejenigen, die in sehr beengten Verhältnissen leben. Es ist nicht sicher, ob die Pandemie die Gesellschaft verändern wird.
Entweder sind wir wirklich demokratisch, oder das Virus infiziert und tötet in erhöhtem Maße diejenigen, die von der bestehenden Demokratie vergessen wurden. Entweder ändern wir unsere Beziehung zur Natur und zu uns selbst, oder die Natur wird ihre Beziehung zu uns verändern. Am 22. September 2020 mahnte Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen: »Wir können Covid-19, Hunger, Arbeitslosigkeit und die wachsende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit zwischen Individuen und zwischen Ländern nicht als unabhängige Phänomene bekämpfen. Es ist dringend notwendig, umfassende Maßnahmen umzusetzen, bei denen der Mensch im Vordergrund steht und nicht wirtschaftliche Gewinne oder politische Vorteile.«
Während der grausamen Ebolaepidemie in Westafrika bin ich auf Statistiken gestoßen, die nicht sehr bekannt sind, obwohl sie öffentlich zugänglich sind. Im Jahr 2014 starben etwa 10.000 Afrikaner an Ebola. Ein schneller, aber schrecklicher Tod. Allerdings heißt es im Bericht der WHO von 2019: »Im Jahr 2018 starben weltweit schätzungsweise 405.000 Menschen an Malaria in der ganzen Welt. Und 94 Prozent dieser Todesfälle traten in Afrika auf.« 2018 galt noch nicht als kritisches Jahr. Tatsächlich ging die Zahl der Todesfälle sogar zurück. In Afrika waren es 180.000 weniger, die an Malaria verstarben, als 2010. Seit jenem Jahr starben daran bis 2019 zusammengerechnet 3.645.000 Menschen. Warum also ließ sich die Welt von den Folgen der Ebolainfektion erschüttern und nicht vom permanenten Massaker, das die Malaria anrichtet? Zwei oder drei Reisende sind mit ihren an Ebola erkrankten Körpern in die Welt der Reichen eingereist, da machte sich Panik breit. Was in Afrika oder in der Bronx passiert, wird nur dann wahrgenommen, wenn es auch Europa oder Manhattan trifft.
Wessen Gesundheit?
Covid-19 überrumpelte alle und schien nicht zwischen Arm und Reich zu unterscheiden. Die schnelle Übertragbarkeit, die Tatsache, dass es über die Luft aufgenommen wird und auch der asymptomatische Verlauf bei mehr als der Hälfte der Patienten begünstigten seine rasche Ausbreitung. Tatsächlich waren die Reichen die ersten Infizierten, denn sie reisen am meisten. Sie brachten das Virus in die wirtschaftlich am weitesten entwickelten Länder, es folgte den menschlichen Spuren der Finanzzentren.
Es soll hier nicht um Zahlen gehen, der Tod eines Menschen, ob reich oder arm, ist immer gleichermaßen traurig. Kubanische Ärzte fragen nicht nach dem Scheckbuch und auch nicht nach den ideologischen Überzeugungen des Patienten. Die konterrevolutionäre Propaganda behauptet zumeist, dass Revolutionen Explosionen des Hasses seien, Manifestationen des kollektiven Neides auf den Reichtum anderer. Dies wird ergänzt durch die Behauptung, der Reichtum sei das Ergebnis der Aktivitäten der Fittesten und Fleißigsten – die bekannte sozialdarwinistische These, wonach die Gesellschaft ein Dschungel sei, in dem es immer Gewinner und Verlierer geben wird.
Auf die aktuelle Pandemie haben linke Theoretiker mit verschiedenen Fragen und auch Antworten reagiert, die sich vielfach widersprechen. Einer der Widersprüche ist der zwischen Gesundheit und Ökonomie. Das zieht Fragen nach sich: wessen Gesundheit? Wessen Wirtschaft?
Wie können individuelle Freiheit und kollektive Gesundheit zueinander ins Verhältnis gesetzt werden? Besteht zwischen beiden Momenten ein Widerspruch? Das ist im wesentlichen eine europäische Diskussion. »Freiheit« ist ein heiliges Wort. Dagegen Einwände zu erheben und Grenzen zu ziehen, ist schwierig. Doch Freiheit setzt Verantwortung voraus. Nach bürgerlicher Lesart, so überraschend und paradox das scheinen mag, ist das eine Losung der Rechten. Aber einige Linke wiesen schon früh auf den möglichen Widerspruch hin: Wir können nicht zulassen, dass eine Gruppe von Menschen das Verhalten der Bürger bestimmt und kontrolliert, obwohl die Regierungen in Zeiten einer todbringenden Pandemie die Pflicht haben, ihre Bürger zu schützen, und danach auch beurteilt werden. Wir haben in Europa Hunderte, bisweilen Tausende von Demonstranten gesehen, die gegen das Tragen einer Maske, gegen die Abstandsregeln und die Quarantänemaßnahmen protestiert haben, indem sie ihre individuellen Freiheiten von einem angeblich totalitären Staat bedroht sahen. Aber bei diesen Demonstrationen trafen sehr unterschiedliche Weltanschauungen aufeinander, Verschwörungsideologen auf Leute, die der Meinung sind, dass es keine Pandemie gibt, rechtsextreme Sympathisanten, die letztlich diese Protestbewegung anführen, auf militante Impfgegner. Stephan Bergmann, der in Deutschland als einer der Organisatoren dieser Märsche gilt, hat allen Ernstes gesagt: »Die (deutsche) Regierung will nicht Menschenleben schützen, sondern den Kommunismus einführen. Zur Hölle mit Abstandsregeln.«
Während der zweiten europäischen Welle der Pandemie, die virulenter als die erste ist, gab es auch in Spanien und Frankreich Demonstrationen gegen den neuen Lockdown. Zwei Motivationen müssen dabei berücksichtigt werden. Erstens der richtige oder falsche Glaube, dass die Regierungen nicht wussten, wie sie die Pandemie in den ersten Monaten in den Griff bekommen sollten. Und zweitens die Tatsache, dass der Lockdown vor allem kleinere und mittlere Unternehmer hart getroffen hat. Genau dieser Widerspruch drückt sich auch in zwei diametral entgegengesetzten Verhaltensweisen der Staaten aus. Die eine ist in den asiatischen Ländern zu sehen, und für die andere steht Schweden als Beispiel: die asiatischen Länder mit ihrer Kontrolle über die Mobilität der Bevölkerung, die als totalitär eingestuft wird, gegenüber Schweden mit einem anfangs – denn es hat sich geändert – sehr liberalen Verhalten, sich jede Art von Verboten zu untersagen. Den Menschen wird bloß geraten, was am besten zu tun sei, und sie entscheiden selbst, wie sie sich verhalten. Dabei sprechen wir von einem Land mit einem hohen Bildungsniveau. In Schweden waren dann die Todeszahlen sehr hoch, eine Folge dieser Politik.
Ärzte statt Bomben
Wir können auch über diejenigen sprechen, die die Pandemie nutzten, um Druck und Gewalt in den internationalen Beziehungen zu verstärken. So wie es bei der Trump-Regierung der Fall ist. Die Vereinigten Staaten sind das Land mit den weltweit meisten Kranken und Toten im Zusammenhang mit Covid-19. Aber die Trump-Administration kalkulierte, dass die Pandemie ein guter Zeitpunkt ist, jene Länder zu erdrosseln, die ihrem Diktat nicht folgen wollten. Es wurde ein »Kreuzzug gegen den Drogenhandel« ausgerufen, um Venezuela einzukreisen und diese Nation daran zu hindern, sich Lebensmittel und Medikamente zu beschaffen und wichtige Ressourcen zu exportieren oder zu importieren – und zwar mit Kriegsschiffen seines europäischen Kommandos. Es war ein merkwürdiges Schauspiel, wie BBC World jedes Schiff, jedes Flugzeug, jeden Hubschrauber in der Karibik aufzählte, als ginge es um ein Videospiel. Die Operation hatte nicht nur Auswirkungen auf Venezuela, sondern auch auf Kuba, denn sie verhinderte den Handel zwischen beiden Ländern, insbesondere die Öllieferungen. Die Absicht war, Kuba und Venezuela wirtschaftlich zu strangulieren. Die Ölschiffe, die nach Kuba fuhren, wurden ebenso gejagt wie die Handelsschiffe, die Vorräte oder Lebensmittel in das Land transportierten. Wir sprechen von einer Verfolgung und einer verschärften Wirtschaftsblockade vor dem Hintergrund einer Pandemie. Wir sprechen von einer verschärften Blockade zu einer Zeit, in der Kuba nicht nur die medizinischen Bedürfnisse seiner eigenen Bevölkerung deckte, sondern auch 53 medizinische Brigaden, insgesamt mehr als 4.000 Menschen, in 39 Länder der Welt schickte, um Leben zu retten. Dies ist ein echter Widerspruch, ein eklatanter Unterschied im Verhalten zweier Länder oder, besser gesagt, zweier unterschiedlicher Systeme.
Doch das Virus holte zum Gegenschlag aus, trat auf einigen US-amerikanischen Kriegsschiffen auf, viele Marines wurden krank. Während diese Marineeinheiten in der Karibik im Einsatz waren und wie zu Zeiten der Piraten und Freibeuter Schiffe aufbrachten, Waren beschlagnahmten und den Transport von Vorräten und Treibstoff von bzw. nach Venezuela und Kuba unterbanden, um deren Wirtschaft zu strangulieren und damit das Überleben ihrer Völker inmitten einer gesundheitlichen Krisensituation aufs Spiel setzten, wurde das Henry-Reeve-Kontingent in Bewegung gesetzt, um bei der Pandemiebekämpfung in den Ländern der Karibik zu helfen, und zwar nacheinander in Suriname, in Haiti, in Grenada, in Jamaika, in Mexiko, in Belize, in Antigua und Barbuda, in Santa Lucia, in Dominica, in San Cristóbal y Neves, in Barbados, Honduras, Trinidad und Tobago, Sankt Vicente und den Grenadinen, in Venezuela, auf den Turks- und Caicosinseln, in Anguilla, Montserrat, auf den Jungferninseln sowie in Martinique.
Fidel Castro sagte am 6. Mai 2003: »Zehntausende kubanische Ärzte haben internationalistische Dienste an den entlegensten und unwirtlichsten Orten geleistet. Unser Land ist in der Lage, Ärzte in die dunkelsten Ecken der Welt zu schicken. Ärzte und keine Bomben, Ärzte und keine sogenannten intelligenten Waffen mit hoher Zielgenauigkeit.« In einem großen Park in Turin, wo auch eine kubanische Hilfsbrigade stationiert war, malten einige junge Italiener ein Wandbild mit Fidels Gesicht und darüber den Satz: »Ärzte statt Bomben.«
George Floyd, ein 46jähriger Afroamerikaner, wurde bei der Verhaftung von Polizisten getötet. Diese skandalöse Tat kam nicht über CNN oder einen Medienkonzern an die Öffentlichkeit, sondern über die Mobiltelefone einiger Augenzeugen. Floyd wurde beschuldigt, Zigaretten mit einem gefälschten Zwanzig-Dollar-Schein gekauft zu haben. Die Hintergründe des Falls sind nicht bekannt, sie sind allerdings auch nicht mehr wichtig. Der Mann ist tot, und er hat weder eine Bank noch einen Lebensmittelladen ausgeraubt. Er war kein Dieb mit weißem Kragen, er hatte kein weißes Gesicht. Er war schwarz und deswegen verdächtig. Der Polizist kniete erbarmungslos fast neun Minuten lang auf seinem Hals, während er mit Handschellen auf dem Boden lag. Aber die ersten sechs Minuten reichten aus. Ein paar Minuten lang hörte man den Häftling noch sagen: »Ich kann nicht atmen.« Passanten forderten den Polizisten auf, das Knie vom Hals zu nehmen. Der weiße Polizist blieb unbeeindruckt.
Gespenst des Postkapitalismus
Barack Obama hatte sich in Havanna mit der Bedeutung seiner Wahl zum Präsidenten der USA gebrüstet (Obama hatte im März 2016 als erster US-Präsident das sozialistische Kuba besucht, jW), dabei jedoch die tiefgreifenden Lehren aus den 60er und 70er Jahren ignoriert. Denn es sind nicht die einzelnen Menschen, die Rassismus und soziale Ungleichheit reproduzieren, obwohl er auch in ihnen steckt und bekämpft werden muss. Es ist das System. Die Bewegung von Malcolm X für die Kubanische Revolution und die rasche Radikalisierung seines Denkens erwuchsen vor dem Hintergrund internationaler Volkskämpfe. Der Vietnamkrieg änderte alles. Vom Anführer der Schwarzen wurde der Afroamerikaner zum Anführer der Unterdrückten, zum antikapitalistischen Kämpfer. Und dieser radikale Wandel kostete ihn sein Leben. Seine Auffassung von der schwarzen Revolution erhielt einen Klasseninhalt. Jetzt hat sich die schwarze Revolution in Afrika und Asien und Lateinamerika entwickelt. Wenn ich »schwarze Revolution« sage, das sind Malcoms Worte von 1964, dann meine ich alle, die nicht weiß sind, die Schwarzen, die Braunen, die Roten oder die Gelben, also die Ausgebeuteten im Süden, aber auch die im Norden.
Wir erleben die schlimmste gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Krise des Jahrhunderts auf diesem Planeten. Die soziale Krankheit, die sich latent im Hintergrund verschlimmert hat, manifestiert sich nun. Zwei Viren durchziehen die Vereinigten Staaten, und sie ernähren sich voneinander: das Virus der Ungleichheit und der Ungerechtigkeit und das sogenannte SARS-CoV-2. Die soziale oder biologische Reaktion des Körpers auf die Krankheit können Wut und Fieber sein. Die Folgen der sozialen Krankheit sind hochansteckend und verbreiten sich schnell über die ganze Welt. Das System versucht sich in Schadensbegrenzung. Bürgermeister, Gouverneure, verschiedene Behörden begleiten die Demonstranten. So fügt sich alles ein, und die Rebellion der Jugend konzentriert sich nicht auf den Rassismus, sondern auf die Rassisten, nicht auf das System, sondern auf die Polizisten, die ihre Befugnisse überschritten haben. Donald Trump ist sogar soweit gegangen, zu behaupten, die Proteste seien von Kuba oder Venezuela aus gesteuert worden. »Ich kann nicht atmen« ist ein gefährlicher Satz für das System, wenn Millionen von Menschen das gleiche Gefühl haben und diesen Satz auch aussprechen.
Es gibt zwei Wege, von denen uns einer in den Untergang führen kann. Ein inoffizieller Sprecher des Imperialismus in Lateinamerika, Andrés Oppenheimer, vertritt die Ansicht, dass der Schlüssel in der Psychologie liegt. Er träumt davon, dass das Virus die tief gespaltenen Gesellschaften »vereint«, dass Frieden geschaffen wird. Ein Frieden jedoch, der an der wahren Spaltung nichts ändert, der das harmonische Zusammenleben von Ausgebeuteten und Ausbeutern gewährleisten soll. Die Notwendigkeit zur Veränderung ist so offensichtlich, dass eine Gruppe von Hollywood-Stars eine Proklamation unterzeichnet hat, die nichts weniger ist als eine Forderung nach einer Umgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung. Schließlich präsentiert eine Gruppe von Ökonomen, die eindeutig dem Neoliberalismus zuzuordnen sind, Kuba die umgekehrte Lösung: die Beseitigung des Sozialismus zugunsten eines »guten« Kapitalismus. Der von mir bewunderte argentinische Marxist Atilio Borón besteht darauf, dass es nicht die Viren, sondern die Völker sind, die Geschichte verändern. Aber er warnt: »Ein Gespenst geht nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt um. Das Gespenst des Postkapitalismus.«
Das Paradigma des revolutionären Sozialwissenschaftlers, beginnend mit Marx, hat sich verändert: Wissen ist Praxis. Es geht nicht nur darum, die Welt zu erklären, es kommt darauf an, sie zu verändern! Das Wissen ist in diesem Fall befreiend, doch der Prozess ist nicht schmerzfrei. Die Wahrheit tritt als Schlachtruf auf. In den Zeiten von Fake News jedoch scheint das Spektakuläre – schmerzfrei und unterhaltsam präsentiert – das einzige zu sein, das die trüben Sinne aktiviert. Politiker werden zu Showmastern, und wer sich verkaufen will, muss bei dem Rummel mitmachen. In den ersten Tagen der Pandemie haben Dutzende bekannter linker Institutionen ihre Schlüsse gezogen, je spektakulärer, desto besser: »Es gibt keine Epidemie, das ist nur eine Strategie der Herrschenden«, oder: »Der Kapitalismus ist am Ende, lasst uns den Kommunismus wiederbeleben«, oder auch: »Wir werden von der Orwellschen Gesellschaft heimgesucht, die auf digitaler Kontrolle basiert.« Das sind einige Sätze, sie enthalten gleichwohl Momente von Wahrheit. Aber die Behauptungen schießen über die Realität hinaus.
Das marxistische Paradigma hat seine Gültigkeit nicht verloren, aber die Verbreitung dieses Wissens nimmt bisweilen Züge von Jahrmarktgeschrei an. Man wird mir zu Recht entgegenhalten, damit erreiche man mehr empfängliche Zuhörer. Das sind nicht mehr diejenigen, auf die Che Guevara damals hoffte. Aber die Zeiten sind andere. Und doch weiß ich nicht, ob diese Zuhörer diejenigen sind, derer Revolution, Gesellschaft und Menschheit bedürfen. Eines der größten Hindernisse, das die Lösung der wesentlichen Konflikte, mit denen die Menschheit konfrontiert ist, gestoppt oder verlangsamt hat, war die Haltung, dass es nicht möglich oder notwendig ist, den Kapitalismus zu besiegen. Dies führt zur Suche nach reformistischen Lösungen, die im wesentlichen mit einer pragmatischen Sicht der Realität verbunden sind. Natürlich hängt die gesellschaftliche Wirkung dieser neuen Sozialdemokratie auch von ihrem Kontext ab. So ist zum Beispiel die bevorzugte Lösung, die der Imperialismus für Kuba anzuwenden versucht, die Forderung nach Akzeptanz der Normen der bürgerlichen Demokratie, die gerade dann um so stärker als Musterform der Demokratie angepriesen wird, wenn die Bourgeoisie sie missachtet. Ein Zirkelschluss: Das System wird gemäß seinen eigenen Normen immer antidemokratischer, und diejenigen, die dagegen kämpfen, fordern ihre reale Erfüllung, statt auf eine neue Art von Demokratie zu setzen.
Hoffnung in schwersten Zeiten
Alle, von den Ultrarechten bis zu den Vertretern unterschiedlichster Positionen auf seiten der Linken, diskutieren über die Welt nach der Pandemie. Pardon, die Rechte debattiert nicht, die Rechte handelt. Sie bereitet eine Welt mit weniger Recht und Freiheit vor, mit mehr sozialer Kontrolle. Zu erwarten steht, dass sich bald schon nur noch die Frage »Faschismus oder Sozialismus« stellt. Sollte dies zutreffen, wird es notwendig sein, eine neue, breite Einheitsfront wie die der 30er und 40er Jahre aufzubauen. Die Veränderung, die die Welt »am Tag danach« braucht, ist keine kosmetische: Es geht darum, den Raubbau an der Umwelt zu beenden, der uns diese neuen Viren beschert, die Klassen-, Geschlechter, Rassen- und Kulturgewalt zu beenden, die Demokratie auf andere Grundlagen zu stellen als diejenigen, die von der Bourgeoisie bereits außer Kraft gesetzt wurden, den Zugang zu sozialer Gerechtigkeit, die Prämisse individueller Freiheit, zu ermöglichen, damit das Schiff, das sich Welt nennt, nicht Schiffbruch erleidet. Es braucht einen Wandel der Paradigmen, der Lebensstile, der Vorstellung von Erfolg und Glück.
»Welche Welt stellst du dir vor oder wünschst du dir für den Tag danach?« fragte ich eine bekannte italienische Intellektuelle. Sie antwortete: »In diesem Moment ist es nicht leicht, in die Zukunft zu blicken. Mit meinen achtzig Jahren fällt es mir schwer, an den Tag danach überhaupt zu denken. Aber ich weiß, dass es immer eine Zukunft gibt, einen Wiederaufbau, einen Neuanfang. Und ich weiß, dass es Orte auf der Welt gibt, an denen die Hoffnung auch in den schwersten Zeiten behütet und gewahrt wurde. Diese unverwüstlichen und heldenhaften Menschen bedeuten Hoffnung. Fühlen Sie sich als Kubaner angesprochen!«
Veröffentlichung |
Enrique Ubieta ist Journalist und Philosoph sowie Leiter der Theoriezeitschrift Cuba Socialista.
junge Welt, 27.01.2021