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»Die Landwirtschaft muss dynamisiert werden«
Der kubanische Ökonom Ricardo Torres Pérez über die wirtschaftliche Lage auf der Karibikinsel.
Wie würden Sie die aktuelle wirtschaftliche Situation Kubas beschreiben?
Die aktuelle Lage in Kuba ist sehr schwierig. Die kubanische Wirtschaft hatte bereits seit geraumer Zeit erhebliche Probleme, vor allem ihren externen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Die Pandemie trifft wichtige Sektoren, wie den Tourismus, der stark eingebrochen ist, aber auch die Geldüberweisungen von Verwandten aus dem Ausland. Beides senkt die Deviseneinnahmen.
Die kubanische Bevölkerung erlebt die Auswirkungen in Form von Mangel an Gebrauchsgütern aller Art, im Moment selbst bei Grundprodukten wie Medikamenten und Lebensmitteln. Das dürfte sich im Jahresverlauf nicht ändern. Hinzu kommen die Auswirkungen der US-Blockade.
Dies alles führt zu einer sehr komplexen wirtschaftlichen Situation, die die Regierung mit Sorgfalt handhaben muss. Die Situation ist nicht wie in den 1990ern - die kubanische Wirtschaft ist eine andere, hat sich diversifiziert -, aber es ist ohne Zweifel die wirtschaftlich schwierigste Situation, die das Land seit Anfang der Neunziger erlebt.
Welche Maßnahmen könnte die Regierung ergreifen?
Es ist klar, dass die Regierung agieren muss und es scheint, dass sie dies auf Basis der von der Partei 2011 verabschiedeten Leitlinien geschehen wird. Darin ist zum Beispiel von einer Wirtschaft mit erweiterten Eigentumsformen, einschließlich Privateigentum, vor allem auf der Ebene kleiner und mittlerer Unternehmen, die Rede. Es gibt eine Gruppe von Ökonomen, die das sehr stark fordert. Es könnten eine Reihe von generellen Maßnahmen erwogen werden, die den Mangel lindern. Denn was die Regierung zum jetzigen Zeitpunkt machen kann, ist, die Situation zu managen.
Wie könnten die Maßnahmen im Einzelnen aussehen?
Ich denke, es gibt drei Entwicklungen, die wir möglicherweise erleben werden. Erstens: Alles, was mit Arbeit auf eigene Rechnung, Kooperativen zu tun hat, muss flexibilisiert werden, unter anderem durch die Schaffung einer Rechtsform für kleine und mittlere Unternehmen - mit dem Ziel, die Wirtschaft zu dynamisieren. Ein zweiter Punkt sind Maßnahmen, um den Mangel zu reduzieren. Der Schlüsselsektor ist hier die Landwirtschaft. Die Lebensmittelproduktion kann nur wachsen, indem mehr Fläche bewirtschaftet wird, oder, indem die Anreize verbessert werden, damit die Effizienz zunimmt. Ob das mit oberflächlichen, kosmetischen Veränderungen erreicht werden kann oder, ob dies der Moment ist, eine radikalere Reform der Landwirtschaft durchzuführen, was eine Veränderung der Eigentumsformen einschließen würde, darüber gibt es eine Debatte. Zudem könnte es Maßnahmen zur Flexibilisierung der Importe geben, sowohl für Staatsunternehmen als auch für Privatpersonen, indem die Einfuhrzölle für bestimmte Produkte aufgehoben oder die Palette von Produkten, die importiert werden können, ausgeweitet werden. Das wird ebenfalls debattiert.
Und wie wird dem Devisenmangel entgegengesteuert?
Es scheint klar, dass angesichts des Devisenmangels der Prozess der Dollarisierung weitergehen wird. Eine viel größere Palette an Produkten und Dienstleistungen wird gegen ausländische Währungen angeboten werden. Das wird mit großer Sicherheit in den kommenden Monaten passieren, denn es hat direkte Auswirkungen auf die Probleme in der Zahlungsbilanz und würde den Devisenmangel in der Staatskasse mildern.
Welche Szenarien scheinen für die kubanische Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte realistisch?
Für die kommenden Monate ist eher eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Probleme zu erwarten, vor allem ausgehend von zwei Variablen: Auf der einen Seite wird das komplette Ausbleiben des internationalen Tourismus spürbar werden. Abzuwarten bleibt, wie sich die Geldüberweisungen aus dem Ausland gestalten werden. Angesichts der Situation in den USA dürften auch sie weiter einbrechen. Die andere Variable sind die Sanktionen der USA. Nichts deutet darauf hin, dass es keine weiteren Sanktionen geben wird - zumindest bis zu den Wahlen im November. Hinzu kommt, dass sich die wirtschaftliche Situation in Venezuela in diesem Jahr nicht verbessern dürfte, womit alles bereitet ist, dass die kubanische Wirtschaft eine noch unruhigere zweite Jahreshälfte erlebt.
Wie hoch wird der Wirtschaftseinbruch beziffert?
Prognosen gehen von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts zwischen fünf und acht Prozent aus. Das ist ein durchaus bedeutender Einbruch für eine Ökonomie wie die kubanische, die bereits vorher Probleme hatte. Es sind recht harte Bedingungen, die wir für die kommenden Monate erwarten dürfen - mit einer Verschärfung des Mangels und einer tiefer gehenden Dollarisierung, um die Devisen im Land abzuschöpfen.
Ricardo Torres Pérez. Der Ökonom arbeitet am Studienzentrum der kubanischen Wirtschaft (CEEC) an der Universität von Havanna. Über die neuen Herausforderungen für die kubanische Wirtschaft durch die Coronakrise und die neuen US-Sanktionen sprach mit ihm für »nd« Andreas Knobloch.
Andreas Knobloch, Havanna
Neues Deutschland, 20.07.2020