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»Rechtsstaat und Verfassung werden nicht mehr respektiert«

Politische Justiz in Brasilien: Internationale Aktionen für Freilassung von Expräsident Lula. Ein Gespräch mit Paulo Okamotto.

In den vergangenen Tagen fanden weltweit Aktionen der Kampagne »Lula Livre« statt. Hintergrund ist die Forderung, den seit einem Jahr inhaftierten Expräsidenten Brasiliens, Luiz Inácio da Silva, kurz Lula, freizulassen und seine Haft als politisch motiviert anzuklagen. Organisiert wurde die »Freiheitskarawane« von der PT, der Arbeiterpartei Brasiliens (siehe jW vom 8.4.). Wie bewerten Sie die Aktionen?

Sie waren von allergrößter Wichtigkeit, um den Institutionen in Brasilien zu zeigen, dass das Thema international auf der Tagesordnung steht und auch seine politische Dimension wahrgenommen wird. Wir haben Berichte von Aktivitäten aus 40 Ländern. In Brasilien konnten wir Hunderte von Protesten zählen, darunter die größten in Curitiba, Recife und Salvador de Bahia. An der Karawane in Curitiba beteiligten sich mehr als 10.000 Menschen, an vielen anderen Orten gab es Fahrradkorsos und einen Protest vor dem Verfassungsgericht in der Hauptstadt Brasília.

Wie ist der aktuelle Stand beim Prozess gegen Lula? Er sitzt im Gefängnis, obwohl nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind.

Der Rechtsstaat und die Verfassung werden in Brasilien nicht mehr respektiert. Wir haben es mit einem politischen Prozess zu tun, durch den man Lula bei den vergangenen Wahlen aus dem Rennen genommen hat. Er ist Opfer eines gemeinsamen Vorgehens von einer politisch beeinflussten Gerichtsbarkeit und der Oberschicht Brasiliens. Wann ein endgültiges Urteil gefällt werden wird, ist offen.

In Umfragen verlor die Forderung nach der Freilassung Lulas zuletzt an Zustimmung. Wie erklären Sie sich das?

Wir laufen gegen die politische Stimmung im Land an. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir die Wahlen im vergangenen Jahr verloren haben und unser politischer Gegner jetzt alle Mittel einsetzt, um seine Sicht der Dinge zu verbreiten. Und dabei geht er weder zimperlich noch besonders demokratisch vor. Aber wir geben uns nicht geschlagen, sondern werden uns künftig noch mehr anstrengen, um das für das Fortbestehen der brasilianischen Demokratie zentrale Thema der Freilassung Lulas weiter zu forcieren.

Welche Rolle spielt die zwischenzeitliche Festnahme von Michel Temer (Präsident Brasiliens von 2016 bis 2018, jW)?

Temer hat seine Rolle als Wegbereiter der extremen Rechten gespielt. Er hat große Privatisierungsvorhaben angestoßen und mit dem Sozialabbau begonnen, der unter dem derzeitigen Präsidenten Jair Bolsonaro fortgeführt wird. Und da Temer unbeliebt ist, braucht ihn jetzt niemand mehr. Aber grundsätzlich handelt es sich bei ihm um keine Person, die ich gerne kommentiere möchte.

Was sind die nächsten Schritte Ihrer Kampagne?

Zunächst möchte ich mich bei den zahlreichen Unterstützern in der vergangenen Woche bedanken. Es gab auch in Deutschland Proteste und Aktivitäten. Brasilien ist ein Land der Peripherie, für uns ist internationale Solidarität von größter Wichtigkeit. Als nächsten Schritt wollen wir unsere Öffentlichkeitsarbeit in den »sozialen Netzwerken« verbessern. Unsere Unterstützungsgruppen in Kanälen wie Whats-App müssen besser organisiert und effizienter werden. Es ist unsere Aufgabe, die Wahrheit über den Prozess gegen Lula zu verbreiten, aber zeitgleich auch den Widerstand gegen den Abbau sozialer Errungenschaften während der PT-Regierungen zu verteidigen.

Auf internationaler Ebene ist es wichtig, immer wieder zu betonen, dass es Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens gegen Lula gibt. Genauso bedeutend ist die internationale Wachsamkeit hinsichtlich der Situation der Demokratie in Brasilien. Wir befinden uns angesichts des heutigen politischen Kräfteverhältnisses in einer äußerst schwierigen Lage. Die amtierende Regierung respektiert die Demokratie nicht. Deshalb ist es im Moment unsere vordringliche Aufgabe, eine breite demokratische Front aufzubauen, auf nationaler wie internationaler Ebene.

Paulo Okamotto ist Sprecher der Kampagne »Lula Livre«, Politiker der brasilianischen Arbeiterpartei PT und ehemaliger Gewerkschaftssekretär
pt.org.br/lula-livre

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

Veröffentlichung
mit freundlicher Genehmigung von

junge Welt

Interview: Jorge Lopes
junge Welt, 17.04.2019