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Mythen ausgeräumt

Der kleine Bruder Che Guevaras hat eine Biographie über die Familie des Revolutionärs geschrieben.

Fünfzig Jahre nach dem feigen Mord an Ernesto »Che« Guevara ist heute wohl kein authentischer Zeitzeuge mehr zu finden, der nicht schon seine Version der Geschichte dargestellt hätte. Einzig die engere Familie des Revolutionärs hielt sich seit einem halben Jahrhundert zurück. Als Vater Ernesto Guevara Lynch Anfang der 1970er Jahre im kubanischen Exil ein Buch mit Erinnerungen an seinen Sohn veröffentlichen wollte, hielten dessen Geschwister Ana María, Celia, Roberto und Juan Martín ihn davon ab. Dieses Buch war »nichts, worin die Ideale meines Bruders fortlebten«, kritisierte der fünfzehn Jahre nach Che geborene Juan Martín den damaligen Plan.

Jetzt hat er selbst eine Biographie geschrieben. Er wolle seinen Bruder damit als Menschen »jenseits des Mythos« und der Kommerzialisierung darstellen, erklärte der heute 73jährige kürzlich bei der Vorstellung der deutschsprachigen Ausgabe seines Buches »Mein Bruder Che« in Berlin. Ihm gehe es um dessen »Botschaft«, seiner »großartigen Vision von einer gerechteren Gesellschaft«, die heute »genauso aktuell und wichtig« sei wie vor 50 Jahren, wie er sagte.

Die eigene langjährige Zurückhaltung in bezug auf den berühmten Bruder erklärt der Autor nur zum Teil mit der Familienabmachung. In seinem Fall sei es auch »ein erzwungenes Schweigen« gewesen. Knapp sieben Jahre nach dem Mord an Che wurde Juan Martín in Argentinien als Aktivist der Revolutionären Arbeiterpartei »PRT« verhaftet, geschlagen und misshandelt. Die andern Familienmitglieder des getöteten Comandante, der bereits weltweit zum Symbol des Aufstands gegen die Herrschenden geworden war, hatten sich rechtzeitig in Kuba in Sicherheit bringen können. Fast acht Jahre hielt die argentinische Militärjunta Ches kleinen Bruder »wegen meiner politischen Gesinnung und auch wegen meines Namens« in Haft. Zwar überlebte er die Verhöre und Folterungen der Geheimpolizei, jedoch verschlimmerte sich eine bereits vorhandene Hepatitis, und durch die Unterbringung in eiskalten Zellen ohne Matratze und Decken erkrankte er an Gelenkrheumatismus, unter dem er noch heute leidet. Er sei, schreibt er, nach seiner Freilassung deprimiert und verzweifelt über die Niederlage der Linken gewesen: »Die Junta hatte 30.000 Personen verschwinden lassen; 10.000 andere waren wegen ihrer Überzeugung eingesperrt worden; weitere Zehntausende waren ins Exil geflohen.«

Juan Martíns eigene Geschichte lässt auch Vorwürfe gegen das Vorgehen der siegreichen Guerilleros in Kuba, die unter Ches Kommando Folterknechte und Mörder der Batista-Diktatur zur Rechenschaft gezogen hatten, in anderem Licht erscheinen. Während der jüngere Guevara mit Respekt an die Aktionen der Mütter der Verschwundenen, der »Madres de la Plaza de Mayo« in Argentinien erinnert, hat er für ihre von US-Geheimdiensten erschaffenen Plagiate auf der Karibikinsel nichts übrig. »Zahlreiche angebliche Dissidenten Kubas sind von den USA angeworben«, schreibt er. »Was soll Kuba bitte tun? Sie gewähren lassen, wie es ihnen beliebt? Wenn die CIA die Insel über anticastristische Organisationen destabilisieren will, ist doch klar, dass sie sich verteidigen wird!« Dazu zitiert er seinen großen Bruder. »Was Kuba vor allen Dingen möchte, ist, dass die Vereinigten Staaten Kuba in Ruhe lassen«, antwortete dieser 1964 in einem CBS-Interview.

Juan Martín, und das ist vielleicht das Interessanteste an diesem Buch, widerlegt aus intimer Kenntnis alle Gerüchte über ein angebliches Zerwürfnis zwischen Che Guevara und Fidel Castro. »Nichts wäre weiter von der Wahrheit entfernt«, empört er sich über Unterstellungen, die er als »Lügenmärchen« bezeichnet, Fidel habe Che in Bolivien im Stich gelassen oder gar verraten. »Fidel und Che teilten ein und dieselbe Vision der Welt und der Revolution, die notwendig ist, um dem Elend ein Ende zu setzen, das der Kapitalismus und (…) der Imperialismus den Gesellschaften aufbürden«, schreibt er. An anderen Stellen berichtet er über interessante Begegnungen mit Ches engstem Freund Raúl Castro und dessen verstorbener Frau Vilma Espín, die ihn selbst samt Familie häufig bei sich in Havanna beherbergten. Guevara bekennt sich zur Geschichte seines Bruders und zum heutigen Kuba. Che habe sich bereits nach dem Sieg der Revolution für Industrialisierung und eine Steigerung der Exporte eingesetzt, hält er Gegnern des gegenwärtigen Wirtschaftskurses entgegen, fügt zugleich aber kritisch hinzu: »Lokomotive eines triumphierenden Sozialismus zu sein und die Welt zu verändern, ist schwierig, wenn man 180 Kilometer vor der Haustür einen Nachbarn wie die Vereinigten Staaten hat«. Dennoch seien weder sein Bruder Che noch Kubas alternatives Gesellschaftsmodell gescheitert, wie deren Gegner vor allem der Jugend einzureden versuchten, um sie vom Kampf gegen den Kapitalismus abzuhalten, meint der Autor. »Ich bin sicher«, sagt er und möchte dies auch als Botschaft seines Buches verstanden wissen, »es wird immer neue Ches geben.«

Juan Martín Guevara: Mein Bruder Che, Verlag Tropen Imprint, Stuttgart 2017, 352 S., 22 Euro

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

Veröffentlichung
mit freundlicher Genehmigung von

junge Welt

Volker Hermsdorf
junge Welt, 26.06.2017