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Kuba unter Zugzwang
In Havanna kommen die Parlamentsabgeordneten zu einer außerordentlichen Plenarsitzung zusammen.
In Havanna kommen am heutigen Donnerstag die 614 Abgeordneten der Nationalversammlung zu einer Sondersitzung zusammen. Auf der Tagesordnung steht die Diskussion von drei Dokumenten, eines über die Weiterentwicklung des sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, ein Entwurf des Nationalen Entwicklungsplans bis zum Jahr 2030 und ein Papier zur weiteren Umsetzung der vor sechs Jahren beschlossenen »Leitlinien«.
Die Einberufung einer Sondersitzung der Legislative durch den Staatsrat ist nicht ungewöhnlich. Regulär kommt die Nationalversammlung nur zweimal im Jahr zusammen. Doch im Zusammenhang mit den Veränderungen in Kuba drückt die Regierung aufs Tempo. Zugleich sollen offene Fragen aber ausdiskutiert werden.
Nachdem die drei Dokumente im April 2016 auf dem VII. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) erstmals veröffentlicht worden waren, hatte es an der Basis Kritik und kontroverse Diskussionen gegeben. Dadurch konnte der ursprüngliche Zeitplan, der eine Verabschiedung bis Ende 2016 vorgesehen hatte, nicht eingehalten werden. Die Tageszeitung Granma berichtete am Montag, dass in mehr als 47.000 Versammlungen mit insgesamt mehr als 1,6 Millionen Teilnehmern zahlreiche Änderungsvorschläge eingebracht wurden. Es habe über 700.000 Stellungnahmen zu den ursprünglichen Entwürfen gegeben, von denen ein großer Teil in den korrigierten Papieren berücksichtigt worden sei. »Dies sind die am häufigsten studierten, debattierten und dann nochmals diskutierten Dokumente in der Geschichte der Revolution«, unterstrich Kubas Präsident Raúl Castro am 19. Mai auf einer Plenarsitzung des PCC-Zentralkomitees, bei der die Fassung beschlossen wurde, über die nun die Abgeordneten beraten sollen.
In Kuba wird es mit den Parlamentswahlen 2018 zu einem Generationswechsel in der politischen Führung kommen. Doch angesichts der noch immer bestehenden US-Blockade, der neoliberalen Gegenoffensive in Lateinamerika und eines unberechenbaren US-Präsidenten Donald Trump steht das Land unter Zugzwang. In den zur Debatte stehenden Vorschlägen geht es deshalb um konkrete Maßnahmen für das, was die Führung als Aufbau eines »wohlhabenden und nachhaltigen Sozialismus« bezeichnet.
Die Abgeordneten müssen über die »Aktualisierung« eines Systems abstimmen, das den Menschen zwar zum ersten Mal in ihrer Geschichte mehr soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe als irgendwo sonst in der Region gebracht hat, das jedoch nach 60 Jahren den aktuellen Anforderungen und Bedürfnissen der Bevölkerung in vielen Bereichen nicht mehr genügt. Der 251 Einzelpunkte umfassende Entwicklungsplan versucht, einige der Defizite zu beheben, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten. So wird etwa die »Beibehaltung und Festigung der entscheidenden Rolle des gesellschaftlichen Eigentums an den grundlegenden Produktionsmitteln« hervorgehoben, zugleich aber Anerkennung und Ausbau »verschiedener Formen des Eigentums und des Wirtschaftens« empfohlen, sofern diese »miteinander verbunden« sind. Neben den bereits existierenden rund 500.000 kleinen Selbständigen, den »Cuentapropistas«, sollen in einer Mischwirtschaft vor allem Kooperativen ausgebaut werden. Daneben stehen die Entwicklung der Sozialsysteme, die Verbesserung der Einkommens- und Rentensituation, die verstärkte Nutzung erneuerbarer Energiequellen, die Förderung der Agrarwirtschaft, die Beteiligung von mehr Bürgern an politischen Prozessen und eine Veränderung der Medienlandschaft auf der Agenda. Ziel ist, die Entwicklung des Landes nicht dem Zufall, dem Markt oder dem Einfluss fremder Mächte zu überlassen, sondern sie im möglichst breiten Konsens planvoll zu gestalten.
Veröffentlichung |
Volker Hermsdorf
junge Welt, 01.06.2017