Nachrichten aus und über Kuba
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Soziale Disziplinlosigkeit
Hintergrund. Illegaler Handel, Ressourcenverschwendung, Korruption und Diebstahl von Volkseigentum: In Kuba schaffen gewissenlose Bürger, Geschäftsleute und Staatsbedienstete ökonomische und moralische Probleme.
An einem heißen Junitag kommt der Linienbus P6 mit Verspätung aus dem Stadtteil Reparto Eléctrico an der Haltestelle in Havannas Arbeiterviertel Mantilla an. Die Wartenden drücken, wollen schnell aus der Sonne. Ein gehbehinderter Mann blockiert plötzlich den Einstieg für eine Gruppe Jugendlicher, die ihn beiseite schubsen und sich vorbeidrängeln wollten. »¡Oye, cuidado!« (»Hör’ mal, paß’ auf!«) warnt er den ersten mit kräftiger Stimme, klettert die Stufen hoch und will seine 40 Centavos (etwas mehr als ein Eurocent) in den Schlitz der Geldbox stecken, der aber verklebt ist. Wie andere auch legt er das Fahrgeld daneben. Dem Busfahrer scheint es egal zu sein, daß viele ohne zu zahlen einsteigen. Er nimmt das Geld von der Box, steckt es in seine Hosentasche und fährt los.
Eine junge Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm sucht während der ruckenden Fahrt mühsam Halt. Die für Behinderte, Schwangere und Frauen mit Kindern reservierten Plätze hat eine laut diskutierende Familie eingenommen, die Mühe hat, die ohrenbetäubende Reggaeton-Musik zu übertönen, mit der der Fahrer seine Passagiere beglückt. An der Endstation, beim Hotel Colina gegenüber der Universität in Vedado, helfen wir einer älteren Frau beim Aussteigen. Die Szenerie im Bus scheint ihr peinlich zu sein. »Das ist nicht mehr Kuba«, sagt sie zu mir, dem ausländischen Besucher. Als sie in meiner Frau eine Landsmännin erkennt, faßt sie Zutrauen. Sie klagt über die kleinen Betrügereien, mit denen der Bodeguero sie bei den Reis- und Bohnenrationen übervorteilt und darüber, daß sie in ihrem Haus in der Vibora nicht mehr schlafen kann, weil die Nachbarn sie jede Nacht mit Partymusik zudröhnen. »Haben wir dafür eine Revolution gemacht?« fragt sie meine Frau.
Gefährdete Revolution
Erlebnisse wie auf dieser Busfahrt sind in Kuba alltäglich. Nicht nur Bürger in Alltagssituationen, sondern von Berufs wegen auch Erzieher, Soziologen und Kommentatoren, ja selbst die Spitzen der Partei- und Staatsführung äußern sich mittlerweile in aller Öffentlichkeit alarmiert über Verhaltensweisen, die in den örtlichen Medien oft vereinfacht als »soziale Disziplinlosigkeit« bezeichnet werden. Seit Anfang des Jahres wird das Thema in Versammlungen, offiziellen Reden sowie von Zeitungen, Funk, Fernsehen und Bloggern verstärkt aufgegriffen. Das Problem der damit beschriebenen Veränderungen in der kubanischen Gesellschaft ist allerdings nicht neu.
In einer in Kuba viel beachteten Rede in der Aula Magna der altehrwürdigen Universität von Havanna hatte der Comandante en Jefe, Fidel Castro, damals noch Vorsitzender der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) sowie des Staats- und des Ministerrats, bereits am 17. November 2005 vor der Möglichkeit eines Scheiterns des revolutionären sozialistischen Prozesses gewarnt: »Diese Revolution kann nicht von äußeren Feinden zerstört werden, sondern nur durch uns selbst. Wir können sie zerstören. Und wenn das geschieht, ist es unsere eigene Schuld«. Die Ernsthaftigkeit seiner Warnung unterstrich er mit einer langen Aufzählung von Verfehlungen, die von Ressourcenverschwendung über Korruption bis zum Diebstahl von Volkseigentum reichte. »Entweder«, sagte Fidel Castro, »wir schaffen es, diese Probleme auszumerzen, oder wir werden untergehen.«
Im Zusammenhang mit der Diskussion der »Lineamentos« (Leitlinien zur Aktualisierung des sozialistischen Gesellschaftsmodells) griff sein Nachfolger Raúl Castro das Thema auf dem VI. Parteitag der PCC im April 2011 wieder auf, äußerte sich aber noch nicht im Detail. Nach der Neuwahl der Nationalversammlung kündigte der mittlerweile zum Präsidenten Gewählte auf deren konstituierender Sitzung am 24. Februar 2013 an: »Auf der Tagung dieses Parlaments im Juli werden wir die beschämende Angelegenheit der Disziplinlosigkeit und der Gesetzesverstöße aller Art behandeln.« Deren Beseitigung sei eine Voraussetzung für den Erfolg der »Lineamentos«, sagte Castro.
Am 7. Juli 2013 redete der Präsident vor den Abgeordneten dann Tacheles. Obwohl er selbst darauf hinwies, daß seine Ausführungen von der Kuba feindlich gesonnenen Presse der Großkonzerne weltweit ausgeschlachtet würden, nannte Raúl Castro in dieser Ansprache, die vorab im Politbüro der PCC diskutiert worden war, Roß und Reiter.
Ein Teil der Gesellschaft sehe es als völlig normal an, den Staat zu bestehlen, kritisierte Castro und zählte eine Reihe weiterer Verstöße auf, die mittlerweile weit verbreitet seien und nicht nur die Umsetzung der »Lineamentos«, sondern auch den Bestand der revolutionären Errungenschaften gefährdeten. Dazu gehörten »nicht genehmigte Bauten, (…) der illegale Handel mit Gütern und Dienstleistungen, die Nichteinhaltung der Arbeitszeiten, der Diebstahl und die illegale Schlachtung von Rindern, der Fang von Meerestieren, die vom Aussterben bedroht sind, die Anwendung von rücksichtslosen Fischereimethoden, die Abholzung im Forst, Hamsterkäufe von Mangelwaren und ihr Weiterverkauf zu höheren Preisen, die Beteiligung an Spielen am Rande der Legalität, Preisverstöße, die Annahme von Bestechungsgeldern sowie Verstöße gegen die Vorschriften auf dem Gebiet der Informatiksicherheit.«
Zu derartigen, teilweise strafbaren Vergehen kämen nicht tolerierbare Verhaltensweisen, wie »lautes Herumschreien auf der Straße, die wahllose Verwendung obszöner Ausdrücke und eine vulgäre Art, sich auszudrücken«. Dies sei mittlerweile, »ungeachtet ihres Bildungsniveaus oder ihres Alters, zum normalen Verhalten nicht weniger Mitbürger geworden«.
Gesellschaftliche Alarmsignale
Zu Beginn seiner Rede hatte Raúl Castro angekündigt, daß seine Ausführungen für niemanden angenehm sein werden. Das Echo der Öffentlichkeit darauf war jedoch deutlicher als offenbar von ihm selbst erwartet. Der Präsident hatte angesprochen, was vielen Bürgern auf den Nägeln brennt, sie ärgert, verzweifeln läßt. Es war, als hätte er eine Schleuse geöffnet.
Am 15. November beschrieb der stellvertretende Chefredakteur, Oscar Sánchez Serra, in der Tageszeitung Granma (dem Organ des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas), wie das Thema seit Castros Rede vor der Nationalversammlung diskutiert worden ist. Die Debatten seien in sozialen Organisationen, der Gewerkschaft, den Verbänden der Bauern, Frauen und Jugendlichen ebenso heftig abgelaufen wie im Betrieb oder an der Straßenecke.
Häufig ging es dabei um alltägliche Konflikte und Störungen wie die auch nachts voll aufgedrehten Fernseher von Nachbarn, Bus- und Taxichauffeure, die ihren Fahrgästen Hörschäden zufügen oder CD-Verkäufer, die ganze Häuserblocks beschallen. Nachdem das Fernsehprogramm »Mesa Redonda« (»Runder Tisch«) dem Thema am 25. Oktober eine eigene Sendung gewidmet hatte, hagelte es Zuschriften mit Beschwerden über staatliche Restaurants, Cafés und Unterhaltungsbetriebe, die seit Jahren alle Vorschriften zum Lärmschutz ignorieren. Im Radio beklagen sich Anrufer über Müllberge in den Straßen, beschädigte öffentliche Telefone, das illegale Anzapfen von Strom- und Wasserleitungen, die Aufzucht von Schweinen in Wohngebieten, Vandalismus in Parks, an Denkmälern, mangelnde Hygiene auf Kinderspielplätzen und vieles mehr.
Während sich viele Kritiker über das unsoziale Verhalten von Mitbürgern aufregen, nimmt die Granma seit einigen Jahren Schlendrian, Servicemängel, Schikanen und Betrügereien von Behörden, Geschäften, Verkehrsbetrieben und anderen, vornehmlich staatlichen Einrichtungen aufs Korn. Jeden Freitag veröffentlicht das Blatt eine Doppelseite mit Beschwerden von Lesern, in denen meist Ort, Datum, Uhrzeit und der konkrete Vorwurf gegenüber einem Amt, Unternehmen oder Dienstleister exakt benannt werden. In der Regel nehmen die Beschuldigten in einer der nächsten Ausgaben Stellung. Oft ist eine Beschwerde auch Anlaß für weitere Untersuchungen.
Die mittlerweile offene Kritik in den Medien wird von Lesern, Hörern und Zuschauern zwar als Verbesserung gegenüber dem früheren Verschweigen oder Beschönigen von Problemen bezeichnet, doch zugleich scheint das Mißtrauen tief. Viele Leserbriefschreiber lassen ihrer Beschwerde skeptische oder gar pessimistische Zweifel folgen, ob die Veröffentlichung denn tatsächlich eine Veränderung bewirke. Das Aussitzen von Kritik ist noch immer weit verbreitet, frustriert die Betroffenen und fördert die Resignation.
Nach der Sendung des »Runden Tisches« über Lärmbelästigungen beschrieben zum Beispiel die Zuschauerinnen Felicia aus Cardenas und Niurka aus dem Stadtteil Playa in Havanna Ende Oktober auf der Homepage von »Mesa Redonda« ihren erfolglosen Kampf gegen die Beschallung durch staatliche Diskotheken in ihrer Nachbarschaft. Obwohl sie das Gesetz, die zuständigen Behörden und die örtlichen Abgeordneten auf ihrer Seite haben, sei die Situation seit zwei Jahren unverändert, klagen sie. Der Leser L. Pantoja Almarales schilderte, wie ihm nach einer Beschwerde zwar persönlich geholfen, das grundsätzliche Qualitätsproblem, das er kritisiert hatte, aber nicht verändert worden war. Die Zeitung veröffentlichte seine Zuschrift am 1. November unter der überschrift: »Die Guillotine ist stumpf!«
Derartiges Beharrungsvermögen rücksichtsloser Mitbürger, privater Geschäftsleute und staatlicher Einrichtungen empört nicht nur die Betroffenen, sondern auch Journalisten, die sich zunehmend als Anwälte der Bürger gegenüber Behörden verstehen. Mitte Oktober enthüllte der Reporter Freddy Pérez Cabrera in der Granma und auf dem Onlineportal Cubadebate, daß in der Stadt Villa Clara im August weniger Bußgeldbescheide erlassen worden waren, obwohl die Verstöße zugenommen hatten. Zudem würden mehr als zehn Prozent der Verwarnten ihre Bußgelder nicht zahlen. In zahlreichen Zuschriften aus der Region wurde den Inspektoren daraufhin Bestechlichkeit vorgeworfen. Ein Staat, der nicht in der Lage ist, seine eigenen Gesetze durchzusetzen, verliert das Vertrauen der Bürger, warnten viele. Der Leser Srecko Vojvodic schrieb: »Mich erinnert das an mein Heimatland Jugoslawien. Das ist eines der Rezepte, um den Sozialismus zu Grabe zu tragen.«
Erfolge gegen Korruption
In Kuba ist diese Gefahr nicht nur erkannt und öffentlich benannt worden, sondern es wird auch nach Wegen gesucht, die drohende Selbstzerstörung zu verhindern. Dabei gibt es bereits vorzeigbare Erfolge, zum Beispiel im Kampf gegen die Korruption. Nachdem Kuba in der Mitte des letzten Jahrhunderts unter dem von den USA geförderten Diktator Fulgencio Batista zum korruptesten Land der Region verkommen war, hatte die linke Regierung nach dem Sieg der Revolution im Januar 1959 den Sumpf aus Bestechlichkeit, Betrug und organisierter Kriminalität systematisch trockengelegt. Verbrecher, die nicht verhaftet und verurteilt wurden, setzten sich ins Ausland ab, meist in die USA. Mit dem Aufbau der sozialistischen Ordnung wurde die Korruption bekämpft und gesellschaftlich geächtet. Sie ist nach dem Gesetz ebenso ein Verbrechen wie ein konterrevolutionärer Anschlag. »Das gilt für jemanden, der mit Waren auf dem Schwarzmarkt spekuliert ebenso wie für einen Minister, der sich für Geschäfte Vermittlungsgebühren bezahlen läßt«, erklärte der stellvertretende Präsident des Kubanischen Instituts für Völkerfreundschaft (ICAP), Elio Gámez, Anfang Februar dieses Jahres im Interview mit der jungen Welt.
Dennoch hatte es in der Wiederaufbauphase nach dem Niedergang in der Spezialperiode der 1990er Jahre Kader in Wirtschaft und Politik gegeben, die in Korruption verwickelt waren. »Es ist wahr, daß wir Fälle von Korruption in unserer Gesellschaft haben, wie es auch wahr ist, daß ihr Wesen noch gefährlicher wird angesichts dessen, daß wir das einzige Land der Welt sind, dem der US-Imperialismus eine brutale Blockade auferlegt hat, damit wir es müde werden zu kämpfen, damit wir auf unsere Errungenschaften verzichten, damit bei den neuen Generationen der Eindruck einer Gesellschaft ohne Zukunft entsteht«, sagte Generalstaatsanwalt Darío Delgado Cura im November 2012 auf einem internationalen Antikorruptionskongreß in Havanna. Er kündigte ein kompromißloses Vorgehen gegen Delikte wie Bestechlichkeit, Vorteilsnahme oder Geldwäsche an und versprach: »Wir werden unermüdlich gegen jegliche Erscheinungen von Korruption im Land kämpfen, gleich, ob sie von Ausländern oder kubanischen Bürgern begangen wird.«
Damit skizzierte er die Ziele einer langfristigen Kampagne. Bereits Mitte 2011 hatten die Medien des Landes über Prozesse gegen zwei Dutzend Funktionäre und Geschäftsleute berichtet. Unter anderem waren der ehemalige Vizeminister für die Nahrungsmittelproduktion, Celio Hernández, zehn Beschäftigte seines Ministeriums sowie leitende Angestellte des Lebensmittelunternehmens »Rio Zaza« wegen gefälschter Lieferpapiere und Rechnungen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Im gleichen Jahr hatte ein Gericht in Havanna führende Mitarbeiter der staatlichen Fluggesellschaft »Cubana Aviación« sowie des Touristikanbieters »Sol y Son« wegen Korruption zu Haftstrafen von drei bis 15 Jahren verurteilt. Im August letzten Jahres sprach ein Gericht in der ostkubanischen Stadt Holguin drei frühere stellvertretende Industrieminister und neun Vorstandsmitglieder der Nickelfirmen »Cubaniquel« und »Moa Nickel S.A.« schuldig. Den zu Haftstrafen von vier bis zwölf Jahren Verurteilten war Vorteilsnahme bei dem strategisch bedeutenden Projekt zum Ausbau der Mine »Pedro Soto Alba« in der Nähe von Moa (Ostkuba) nachgewiesen worden.
Die Anerkennung der bisherigen Erfolge im Kampf gegen die Korruption ist keine Schönfärberei. Transparency International listet Kuba im oberen Drittel auf einer Skala von 100 (unkorrupt) bis Null (völlig korrupt) auf. Im aktuellen »Corruption Perceptions Index« des Jahres 2012 notiert die jedweder Sympathie für den Sozialismus unverdächtige Organisation der Karibikinsel auf dem Rang 58 von 176 untersuchten Staaten. In der Region liegt Kuba damit zwar hinter Barbados (Platz 15), Uruguay (Platz 20), Costa Rica (Platz 48) und sechs weiteren Ländern, steht aber deutlich besser da als 20 andere Staaten in Lateinamerika und der Karibik, darunter die kapitalistischen Systeme in Panama (Platz 83), Kolumbien (Platz 94), Mexiko (Platz 105), Honduras (Platz 133) und Paraguay (Platz 150).
In westlichen Mainstreammedien finden derartige Fakten allerdings keine Beachtung. Neben den konservativen Konzernmedien behauptete auch die taz, daß die Korruption in Kuba ein »Strukturproblem« des sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells sei. Als Quellen dafür nennt das Blatt »unabhängige Journalisten«, die meist auf der Gehaltsliste der US-amerikanischen Interessenvertretung (SINA) in Havanna stehen, oder nicht identifizierbaren, Zeugen. »Für ausländische Unternehmer ist die Korruption längst systemimmanent«, desinformierte die taz ihre Leser am 25. November 2011 und »belegte« ihre Behauptung mit der Aussage eines »Reiseveranstalters, der anonym bleiben will«.
Mobilisierung der Bürger
In Kuba halten die Verantwortlichen in Partei, Parlament und sozialen Organisationen ihre bisherigen Erfolge bestenfalls für den ersten Schritt auf einem langen Weg. »Dem Verbrechen, den Gesetzwidrigkeiten und den Zuwiderhandlungen läßt sich auf die einfachste Art und Weise entgegentreten, indem man dafür sorgt, daß die gesetzlichen Festlegungen erfüllt werden. Dazu verfügt jeder Staat unabhängig von seiner Ideologie über die erforderlichen Instrumente, sei es auf dem Wege des Konsens oder letztlich, wenn dies erforderlich sein sollte, auch durch die Anwendung von Zwangsmaßnahmen«, stellte Raúl Castro am 7. Juli fest. Die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Phänomen der »sozialen Disziplinlosigkeit« müsse dagegen »unter Anwendung verschiedener Methoden und Wege erfolgen«, sagte der Präsident und fügte hinzu: »Dies wird gleichwohl ein komplexer Prozeß sein, der ziemlich lange dauern wird.«
Er informierte die Parlamentarier darüber, daß die vor mehreren Monaten eingesetzten Arbeitsgruppen unter Mitwirkung der Partei und der Gremien der Regierung in einer ersten Erhebung 191 »Erscheinungen dieser Art« aufgelistet hatten. »Wir sind uns dabei dessen bewußt, daß dies nicht die einzigen sind und es darüber hinaus noch viel mehr gibt«, erklärte Castro. Der erste Schritt zur Überwindung des Problems müsse darin liegen, »sein Vorhandensein in seiner ganzen Dimension zu erkennen und die Ursachen und Umstände auszumachen, die dieses Phänomen über viele Jahre hinweg begünstigt haben«.
In der Analyse gibt es weitgehend übereinstimmende Positionen. Nach Darstellung der meisten Akteure haben sich Verfehlungen einzelner Bürger und staatlicher Einrichtungen, die in der kubanischen Gesellschaft seit dem Sieg der Revolution eher die Ausnahme waren, mit und nach der »Spezialperiode« mehr und mehr zu einem Massenphänomen entwickelt. Illegale Verhaltensweisen, die während der von Fidel Castro ausgerufenen »Kriegswirtschaft in Friedenszeiten« nach dem Verschwinden der sozialistischen Staaten in Osteuropa dem nackten Überleben dienten und deshalb toleriert worden waren, haben sich verfestigt und wurden beibehalten. In der heutigen kubanischen Gesellschaft, schrieb der Schriftsteller Leonardo Padura kürzlich in einem Aufsatz, habe sich eine »soziale und moralische Dekadenz« breitgemacht. Padura macht vor allem das »negative Beispiel« von Funktionären und dem Führungspersonal in Behörden und staatlichen Unternehmen für den Zustand verantwortlich.
Raúl Castro hatte solche – auch von anderen geäußerte – Vorwürfe in seiner Rede aufgegriffen und an die Bürger appelliert, die Suche nach Lösungen nicht den staatlichen Autoritäten oder Vorgesetzten zu überlassen, sondern im Alltag mehr Engagement und Zivilcourage zu zeigen. Mit einer abwartenden Haltung nach dem Motto »die da oben werden es schon richten« werde sich nichts ändern. Der Staats- und Parteichef setzt deshalb auf Mobilisierung: »Wenn wir bei dieser Aufgabe obsiegen wollen, müssen wir die Bevölkerung und jeden einzelnen Bürger einbeziehen, und zwar nicht durch Gerede und leere Parolen bei hitzigen Versammlungen, sondern indem wir bei jedem einzelnen die Motivation erzeugen, besser zu werden und durch das persönliche Beispiel voranzugehen.«
Wie dieser auf lange Sicht angelegte Prozeß konkret und im Detail aussehen soll, ist jedoch noch nicht erkennbar. Die Diskussionen in Betrieben, Werkstätten, Verwaltungen, Universitäten und Stadtteilen, die offene Kritik in Presse, Funk und Fernsehen und erste Maßnahmen, wie die Schließung von illegalen gewerblichen Privatkinos und Spielhallen sowie Einschränkungen des überteuerten Handels mit Hamsterkäufen aus staatlich subventionierten Geschäften, sind ein Anfang. Die daraufhin in den letzten Wochen geführten Auseinandersetzungen um das Für und Wider der Entscheidungen könnten der Beginn einer gesellschaftspolitischen Debatte sein, in der Bürger, die sich der »sozialen Disziplinlosigkeit« bisher oft ohnmächtig ausgeliefert fühlten, zu erfolgreichen Akteuren werden.
Aus diesen Anfängen soll sich nach Castros Vorstellungen eine »permanente Bewegung« entwickeln, deren größtes Risiko darin bestehe, lediglich zu einer »weiteren Kampagne« zu werden. Da dies viel Kraft erfordere und der Ausgang ungewiß sei, appellierte der Präsident an die revolutionäre Tradition seiner Landsleute: »Nichts steht einem Revolutionär so fern wie die Resignation oder, was das Gleiche ist, die Aufgabe angesichts von Schwierigkeiten. Deshalb obliegt es uns, Zuversicht zu verbeiten und den Kampfgeist zu heben, um die riesige und Geduld erfordernde Aufgabe anzugehen, die entstandene Lage umzukehren.«
Veröffentlichung |
Volker Hermsdorf
junge Welt, 26.11.2013