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Wandel á la cubana
In Kuba wird die Wirtschaft liberalisiert. Aber der Kapitalismus soll keine Oberhand gewinnen
Die von der Regierung unter Raúl Castro eingeleiteten Wirtschaftsreformen beginnen zu wirken. Doch vieles bleibt ungewiss. Und der Entwurf zum VI. Parteikongress im April wird kontrovers diskutiert.
»Der Unterschied zwischen der Außen- und der Innenwahrnehmung bleibt groß. Es ist auch eine Frage der Perspektive«, sagt Maikel*, der als junger Historiker den geschichtlichen Wandel vom Kapitalismus zum Sozialismus 1959 bis 1962 in Kuba erforscht und schon öfter ins Ausland reisen durfte. »Wenn du heute auf die Insel kommst und eine Transition wie in Osteuropa erwartest, wirst du dich wundern. Die Straßen Havannas sind nicht plötzlich wieder mit Leuchtreklamen gepflastert, es herrscht keine Goldgräberstimmung junger Kapitalisten. Aber die Dinge ändern sich, langsam und auf unsere Weise.«
Bier gibt es wieder ohne Devisen
In den Städten hat sich das gastronomische Angebot in Peso Cubano wieder sichtlich erweitert: Staatliche Restaurants und Verkaufsstände wurden aufgepäppelt oder neu eröffnet. Ein Hot Dog für zehn Peso, den Café für einen, sogar Bier ist wieder ohne Devisen zu haben. 25 Pesos entsprechen rund einem Euro, gegen den Euro konvertibel ist allerdings nach wie vor nur der Cuban Convertible Peso (CUC). Für 1,20 CUC gibt es derzeit einen Euro. Das für Peso Cubano erhältliche Essen bleibt einfach, ist aber besser geworden und das Angebot hat sich erweitert. Yusneidy, eine Französisch-Dolmetscherin aus dem staatlichen Übersetzungsinstitut ESTI, analysiert die Entwicklung: »Mit dem Arbeitsreformprozess wurden nicht nur Angestellte freigesetzt, sondern auch Kosten der staatlichen Institutionen eingespart. Bei uns wurde deshalb die Betriebskantine im Oktober geschlossen.«
Mahlzeiten am Arbeitsplatz, der Weg dorthin und die Beschäftigung selbst – das waren Leistungen, die die Regierung bisher aufrecht zu erhalten versuchte, selbst nach dem Zusammenbruch des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe mit seinen für Kuba desaströsen Folgen Anfang der 90er Jahre. Für die sozialen Leistungen zahlte Havanna einen hohen Preis, mehr als die Insel eigentlich bezahlen konnte. Damit ist es nun vorbei. In Raúl Castros Worten: »Wir können nicht mehr länger mehr ausgeben, als wir einnehmen.«
Auch der Arbeitsplatz selbst und damit erstmals der staatlich garantierte Lohn sind nicht mehr selbstverständlich. »Dabei greifen drei Maßnahmen ineinander«, erklärt Juana Moya aus dem kubanischen Gewerkschaftsverband CTC: der Abbau von Überkapazitäten im Staatssektor, eine begrenzte Öffnung der Wirtschaft für Privatinitiativen und der Umbau des Sozialsystems weg von der Lebensmittelkarte für alle hin zu einem differenzierten, an der Bedürftigkeit orientierten Sozialsystem. Moya sieht einen Aufwärtstrend: »Das nominale Gehalt wächst seit einiger Zeit wieder. Bald dürfte auch die reale Kaufkraft wieder steigen, wenn sich die Investitionen in die Infrastruktur in steigender Produktivität niederschlagen«, ist die 47-jährige Ingenieurin überzeugt.
Arbeit auf eigene Rechnung
Die Wiedereröffnung des Privatsektors empfinden viele noch als unzureichend, gesteht Moya zu. Dort, wo der Staat eingesehen hat, dass er bestimmten Bedürfnissen einfach nicht entsprechen kann oder es privat oder genossenschaftlich besser funktioniert, ist nun wieder »Arbeit auf eigene Rechnung« möglich. Dies betrifft vor allem die drei großen Problembereiche Transport, Ernährung und Wohnraum. Seit Oktober 2010 werden neue Lizenzen in einem erweiterten rechtlichen Rahmen vergeben: zum privaten Transport von Personen und Gütern – erstmals auch landesweit; Wohnungen können leichter vermietet werden, sogar für kommerzielle Zwecke und neuerdings auch von Familien, die sich im Ausland aufhalten.
Der größte Bereich neuer Privatinitiativen ist die Herstellung und Verarbeitung von Lebensmitteln. Hier wurden bisher die meisten Lizenzen beantragt und vergeben. Seit Inkrafttreten der neuen Bestimmungen Ende Oktober sind laut Ministerium für Arbeit und Soziale Sicherheit innerhalb eines Monats 81 000 Personen beraten worden. Von den in diesem Zeitraum knapp 30 000 vergebenen Lizenzen entfielen 20 Prozent auf den Lebensmittelbereich.
Diese Zahlen verwundern nicht, ist doch die Nahrungsmittelsituation in Kuba noch immer prekär. Der Staat importiert derzeit noch mehr als die Hälfte der im Land konsumierten Lebensmittel, vor allem Reis, Bohnen und Soja – ein Drittel stammt dabei aus den USA. Staatsratspräsident Raúl Castro machte im Zuge der steigenden Lebensmittelpreise und internationalen Wirtschaftskrise seit 2008 dieses Problem zur absoluten Priorität, ja sogar zu einer Frage der nationalen Sicherheit. Die 2008 mit Dekret 259 eingeleitete Landreform hat inzwischen mehr als 100 000 Personen Land zugänglich gemacht. Nach Angaben von Osmany Monzote, Agrarökonom und Berater der Kleinbauernorganisation ANAP, sei das Problem inzwischen nicht mehr so sehr die Produktion, sondern eher die Verarbeitung, Lagerung sowie der Transport und Verkauf bestimmter Gemüse- und Obstsorten. Auch hier setzen die eingeleiteten Reformen an: mit der Freigabe des Transportwesens, der Verarbeitung und des Verkaufs von Lebensmitteln sind Verbesserungen zu erwarten – freilich ausgehend von einem niedrigen Niveau.
»Hauptproblem auch in der Landwirtschaft«, sagt Monzote, »sind oftmals die fehlenden Erfahrungen und der Zugang zu beziehungsweise die Finanzierung von Produktionsmitteln.« Die Regierung versprach, Mikrokredite zu vergeben. Umfang und Vergabekriterien sind aber noch unklar, angesichts der knappen Staatskasse sind ohnehin nur bescheidene Summen zu erwarten.
Die Debatten über die neuen Bestimmungen füllen die Medien. In morgendlichen Radiosendungen befragen Anrufer eingeladene Mitarbeiter verschiedener Ministerien: »Dürfen wir jetzt auch Touristen an die Flughäfen bringen? Wie wird sich der Preis für die Privattaxis in Havanna regulieren? Was sind die Qualitätsstandards für einen privaten Kleinbus?« Auf die meisten Fragen folgen sehr allgemeine Antworten – die Regularien in Form von ministeriellen Resolutionen werden oftmals noch weiter verfeinert und überarbeitet. In den Acht-Uhr-Nachrichten wird regelmäßig ein erfolgreiches Kleinbauernprojekt vorgestellt, mit sichtlich beispielgebendem Charakter. In der Parteizeitung »Granma« rechnen Journalisten die neue Besteuerungspolitik vor, um interessierten Lesern zu zeigen, dass eine progressive Einkommensteuer bedeutet, dass sie erst ab 5000 Pesos Jahreseinkommen Steuern zahlen müssen, danach der Prozentsatz sukzessive bis auf 50 Prozent ansteigt. Neu ist der zwangsläufige Beitrag zur Sozialversicherung auch Privatbeschäftigter. Seit längerer Zeit veröffentlicht die »Granma« außerdem jeden Freitag auf zwei der acht Seiten Leserbriefe, die fast unisono bestimmte Missstände kritisieren, so zu hohe Preise, schlechten Service, fehlende Hygienebedingungen im Krankenhaus.
Hoffnung überwiegt gegenüber der Skepsis
Seit der Veröffentlichung der 291 Leitlinien zum VI. Parteitag, der im April 2011 stattfindet und auf dem über den weiteren wirtschaftlichen Kurs entschieden wird, werden in allen Arbeitszentren und Massenorganisationen zudem Diskussionen organisiert, über die in verschiedenen Medien berichtet wird. Wegen des großen Interesses wurden bereits mehrere Hunderttausend Exemplare der Leitlinien nachgedruckt. Auch wenn es paradox erscheint: Trotz des angekündigten Wegfalls oder der Umdisposition von bis zu einer Million Arbeitsplätzen im Staatssektor überwiegt inzwischen die Hoffnung gegenüber der anfänglichen Skepsis. Dass es so nicht weitergehen konnte, haben alle gespürt. Durch die parallele Öffnung für private und genossenschaftliche Initiativen sowie zunehmende Investitionen in die Infrastruktur ist Anlass zur Hoffnung gegeben.
Dass die Obama-Regierung jüngst die allgemeinen Bestimmungen des US-Embargos gegen Kuba verlängerte – trotz einiger Erleichterungen für Cuban-Americans – und damit einen normalen Handel oder Zugang zu Krediten verhindert, hilft dem Wandel à la cubana nicht. In Kuba ist gleichzeitig auch klar, wo die Grenzen des Reformprozesses verlaufen. Wie Regierungschef Raúl Castro nicht müde wird zu betonen, sei er zur Modernisierung, nicht Abschaffung des Sozialismus gewählt worden. In seiner kritischen und lesenswerten jüngsten Parlamentsrede sprach er vieles aus, was zuvor auf den Straßen zu hören war: Die Klassiker des Marxismus hätten nie davon gesprochen, dass alles dem Staat zu gehören habe, lediglich die zentralen Produktionsmittel. Vorerst kann der Historiker Maikel sich also weiter mit der Abschaffung des Kapitalismus beschäftigen und braucht sich nicht dem Gegenteil zu widmen.
*Die Namen der interviewten Personen wurden teilweise auf ihren Wunsch hin geändert
Rainer Schultz, Havanna
Neues Deutschland, 22.02.2011