Unternehmer für die Revolution

In Kuba wird das Leben durch die Vorherrschaft von Arbeitern und Gewerkschaften geprägt. Und zwar derart stark, dass sich sogar viele kleine Selbständige zum Sozialismus bekennen.

Seit fünf Jahren ist Orelvis Bormey Kleineigentümer in Kuba. »Cuentapropista«, wie man sie dort nennt. In Santa Clara vermarktet er seine Erdnussprodukte professionell, seine »Casa de Maní Bormey« wird täglich von 300 Kunden aufgesucht. Schon seit weit mehr als fünf Jahren ist er noch etwas anderes: Revolutionär »Die Revolution kann sich auf die selbständig Beschäftigten verlassen«, sagt er. Für die Qualität seiner Waren wurde er bereits ausgezeichnet, mittlerweile darf er sie auch auf den Flughäfen des Landes anbieten. Heute beschäftigt seine »Unternehmensgruppe Bormey« ein Dutzend Mitarbeiter. An seiner positiven Haltung zum kubanischen Sozialismus hat sich dennoch nichts geändert.

Orelvis Bormey gehört zu jenen Kleinunternehmen, die es in dem Inselstaat nun vermehrt gibt. Sie stehen auch für einen weitreichenden Wandel der Gesellschaft, auf den sich gerade die kubanischen Gewerkschafter einstellen müssen. Darin haben die Arbeiterorganisationen mittlerweile einige Erfahrung: In ihrer fast 100jährigen Geschichte haben sie ihre Position mehrfach angepasst. Aus den verfolgten »Kampfverbänden« gegen die Ausplünderung der Fabrik- und Landarbeiter durch US-Konzerne und durch die nationale Oligarchie wurden nach der Revolution 1959 einflussreiche Interessenverbände der Beschäftigten. So wie Kubas sozialistische Gesellschaft sich im Laufe der Jahrzehnte wandelte, taten sie das auch. Die vom IV. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas im April 2011 eingeleiteten Änderungen am Wirtschafts- und Sozialmodell des Landes bedeutete große Änderungen: In Folge bauten staatliche Unternehmen eine halbe Millionen Arbeitsplätze ab. Im gleichen Umfang nahm die Tätigkeit im privaten Sektor zu.

Derzeit arbeiten in Kuba bereits mehr als 530.000 Menschen auf eigene Rechnung. Neben der zahl solcher »Cuentapropistas«, die ihrerseits Angestellte haben dürfen, nimmt auch die Gründung von Kooperativen zu. Die Genossenschafter dürfen ebenfalls zusätzliche Arbeitskräfte beschäftigen. Diese sind jedoch nicht oder nur in geringem Umfang an den Erträgen beteiligt, sondern erhalten ein festes Entgelt. Obwohl nach wie vor rund 70 Prozent der Erwerbstätigen in staatlichen Betrieben arbeiten, müssen die Gewerkschaften sich auf eine wachsende Zahl neuartigen Beschäftigungsverhältnisse einstellen. Zugleich suche sie nach einem neuen Selbstverständnis.

Debatte in den Gewerkschaften

Insgesamt 18 Verbände mit rund drei Millionen Mitgliedern bilden den Gewerkschaftsdachverband »Central de Trabajadores de Cuba« (CTC). In den Arbieterorganisationen wird lebhaft diskutiert. So berichtete das CTC-Zentralorgan Trabajadores kürzlich über die Debatten während der letzten Tagung des CTC-Nationalrates, des höchsten Gremiums des Dachverbandes zwischen den Gewerkschaftstagen. Generalsekretär Ulises Guilarte De Nacimiento erklärte dort zunächst, dass der Durchschnittslohn im staatlichen Sektor in den letzten Jahren um mehr als 50 Prozent auf 824 Pesos (34 Euro) der nationalen Währung (CUP) gestiegen sei. Etwas mehr als 38 Prozent der Beschäftigten erhielten nach dieser Statistik Entgelte zwischen dem Durchschnittslohn und 2.000 CUP (82 Euro), lediglich 1,7 Prozent lagen darüber.

Zugleich räumte Guilarte De Nacimiento ein, dass 60 Prozent der kubanischen Arbeiter und angestellten weniger als das Durchschnittsentgelt bekommen. Der CTC-Vorsitzende unterstützte die immer wieder erhobene Forderung nach kräftigen Lohnerhöhungen, wies aber darauf hin, dass diese an das tatsächliche Wachstum gekoppelt sind. Um Erträge zu verteilen, müssten sie zuerst einmal erwirtschaftet werden, sagte er. Die Aussage wurde von den Gewerkschaftern zwar akzeptiert, doch etliche Teilnehmer kritisierten, dass es bei den Löhnen Abweichungen von diesem Grundsatz in beide Richtungen gibt. Deren Ursachen seien oft nicht nachvollziehbar.

Einerseits hätten über 90 staatliche Betriebe in den letzten Monaten Prämien ausgezahlt, obwohl die als Voraussetzung dafür vorgeschriebene produktive Leistungen nicht erbracht worden war. Auf der anderen Seite berichtete Leonardo Aguilera, Gewerkschaftssekretär der Zigarettenfabrik »Lázaro Peña« in Holguín, dass der Lohnfonds um bis zu 70 Prozent gekürzt worden sei, obwohl der Betrieb 2016 das historisch beste Ergebnis erreicht hatte. Dies sei kein Einzelfall. Der Vizeminister für Wirtschaft und Planung, René Hernández, gab den Kritikern recht und bezeichnete die Vorgänge als »unfassbar«.

Diskussionsteilnehmer forderten die Gewerkschaftsvertreter in der weiteren Debatte auf, verstärkt von ihrem Recht auf Beteiligung am Finanzmanagement der staatlichen Betriebe und dessen Kontrolle Gebrauch zu machen. Die Erhöhung der Produktivität und die Reduzierung von Ausgaben und Kosten sei zwar unbestreitbar für die Entwicklung der gesamten Wirtschaft notwendig, doch müssten alle Maßnahmen letzten Endes auch zu höheren Einkommen der Arbeiter und angestellten führen.

Probleme in Privatbetrieben

Zu häufig herrsche in Betrieben noch immer das Motto vor, dass eine Hand die andere wäscht. Regelverstöße würden mit der Behauptung gerechtfertigt, die Gewerkschaft habe zugestimmt. Neben niedrigen Einkommen, steigenden Preisen und der Forderung nach Abschaffung der Doppelwährung geht es in den gewerkschaftlichen Debatten zunehmend auch um Fragen der Arbeiterorganisation und fehlende Perspektiven für gut ausgebildete Fachkräfte.

Die Gewerkschaftsmitglieder erwarten von ihren Organisationen Konzepte für Verbesserungen in ihrem Interesse und stellen entsprechende Ansprüche. Die zunehmende Bedeutung des privaten Sektors, die steigende Zahl ausländischer Investoren, neue Genossenschaftsmodelle in der Landwirtschaft, im Transport und anderen Bereichen sowie die Stärkung der Eigenverantwortung staatlicher Betriebe sind eine Herausforderung.

Bei den »Cuentapropistas« haben de Gewerkschaften mittlerweile Fuß gefasst. Rund 75 Prozent der als Handwerker, Dienstleister, Zimmervermieter oder Restaurantbetreiber tätigen Kleinunternehmer sind nach CTC-Angaben Mitglieder. Über den Organisationsgrad ihrer Angestellten gibt es jedoch keine Zahlen. Während die gesetzlichen Mitsprache-, Vorschlags- und Kontrollrechte der Beschäftigten im staatlichen Sektor in der Regel problemlos respektiert werden, fehlt eine Übersicht über die Mitwirkung der Gewerkschaften an betrieblichen Entscheidungen in privaten Unternehmen und Kooperativen. Oft gibt es dort weder Arbeits-, noch Tarifverträge. Auch die Einhaltung von Arbeitsschutzregeln, Urlaubsanspruch, Kündigungsschutz, Arbeitszeiten und Mitbestimmungsrechten wird im privaten Bereich bislang kaum kontrolliert.

Umfassende Rechte

Das kubanische Arbeitsgesetz gilt zwar als das beste in ganz Lateinamerika, doch dessen Durchsetzung im privaten Sektor hängt vom Organisationsgrad und der Schaffung effizienter gewerkschaftlicher Strukturen ab. Viele Funktionäre haben mit der Mitgliederwerbung und dem Aufbau von Beschäftigungsvertretungen in Privatunternehmen und Kooperativen kaum Erfahrung und bewegen sich auf unbekanntem Terrain. Auch deshalb werden in Betrieben und Basisorganisationen derzeit das vom VII. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas 2016 vorgelegte »Konzept für das künftige Wirtschafts- und Sozialmodell Kubas« und der »Nationale Entwicklungsplan bis zum Jahr 2939« sehr engagiert diskutiert. Beide Dokumente enthalten konkrete Vorschläge über Veränderungen in der Arbeitswelt und sind deshalb wichtig für die Künftige Rolle der Gewerkschaften.

Die als »Aktualisierung« bezeichnete Entwicklung des Wirtschaftsmodells ist nicht die erste Herausforderung in der Geschichte der kubanischen Gewerkschaftsbewegung. 1920 gründeten marxistisch orientierte Arbeiter in Camagüey die »Nationale Arbeiterkonföderation Kubas« (Confederación Nacional Obrera de Cuba, CNOC), die oft eine entscheidende Rolle in den Auseinandersetzungen des vorrevoutionären Kuba spielte. So organisierte die CNOC 1933 einen Generalstreik, der zum Sturz des Diktators Gerardo Machado führte. Einer seiner Nachfolger, Carlos Mendieta, schlug 1935 zwar einen vom CNOC organisierten Streik der Zuckerarbeiter nieder, doch trotz zunehmender Repression schlossen sich immer mehr Land- und Fabrikarbeiter, Hilfskräfte und Tagelöhner zusammen.

1939 beschlossen 1.500 Delegierte, die 800 kleinere Gewerkschaften mit 500.000 Mitgliedern vertraten, ihre Vereinigung zur CTC. Die kubanische Arbeiterorganisation erkämpfte unter anderem den Achtstundentag für Frauen. Für ihre Erfolge zahlten sie allerdings einen hohen Preis. Von 1920 bis 1958 wurden Tausende Gewerkschafter verhaftet, eingesperrt, gefoltert und ermordet. Die Verfolgung endete erst am 1. Januar 1959 mit dem Sieg der Revolution, die von der Gewerkschaftsbewegung unterstützt und getragen wurde.

Mit der Entwicklung Kubas zu einem sozialistischen Land bekamen die Gewerkschaften erstmals umfassende Rechte zur Mitgestaltung und Mitbestimmung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Mitgliedschaft in ihnen ist freiwillig, und sie sind laut laut Gesetz unabhängig und materiell autonom, da sie sich aus den Beiträgen ihrer Mitglieder finanzieren. Zu ihren Rechten gehört die Mitbestimmung bei der Leitung und Organisation der Betriebe, Einflussnahme auf die Erstellung der Planvorgaben und des Staatshaushaltes sowie Mitsprache und Kontrolle bei allen betrieblichen Angelegenheiten wie Arbeitszeit-, Überstunden- und Urlaubsregelungen, Einstellungen, Beförderungen, Versetzungen oder Entlassungen.

In Kuba wirken die Gewerkschaften an allen vom Parlament erlassenen Gesetzen, die Beschäftigte betreffen, mit. Für die Arbeiter und Angestellten, die bis dahin keine Mitwirkungsmöglichkeiten hatten, veränderte die Revolution den Arbeitsalltag komplett. Seit den 1980er Jahren werden die Rechte der Beschäftigten in einem Arbeitsgesetz garantiert, das 2013 – nach monatelangen Beratungen in Zigtausenden Belegschafts- und Gewerkschaftsversammlungen – aktualisiert wurde. Das kubanische Arbeitsgesetz basiert auf dem verfassungsmäßigem Recht auf Arbeit und garantiert Frauen für gleiche Tätigkeiten dieselbe Bezahlung wie Männern. Achtstundentag, Lohnfortzahlung bei Krankheit, Kündigungsschutz, Höchstgrenze für Überstunden, Anspruch auf Nacht- und Feiertagszuschläge, 30 Tage bezahlter Urlaub, das Recht auf unbezahlte Freistellung bei längerer Abwesenheit, Mutterschutz und Arbeitslosengeld sind im staatlichen Sektor selbstverständlich.

Kontras hoffen auf Selbständige

Westliche Kritiker des kubanischen Systems, in deren Ländern Beschäftigte von den Rechten ihrer kubanischen Kollegen nicht einmal träumen können, kritisieren dennoch die Rolle der Beschäftigtenvertretungen in Kuba. Sie fordern vehement die »Gründung unabhängige Gewerkschaften«. Unterstützung für einen Systemwechsel erhoffen sich die Antikommunisten von Miami bis Berlin außerdem vor allem vom privaten Sektor in der kubanischen Wirtschaft.

Doch Unternehmer wie Orelvis Bormey werden sie dabei kaum auf ihrer Seite haben. Der will mit seinen Beschäftigten demnächst demonstrieren gehen: »Wir von >Maní Bormey< werden am 1. Mai für den Aufbau und die Vertiefung einer souveränen, unabhängigen, sozialistischen, demokratischen und wohlhabenden Nation marschieren.« Wie Bormey wollen zahlreiche Selbständige am 1. Mai wieder gemeinsam mit den Beschäftigten aus staatlichen Betrieben, Kooperativen und privaten Unternehmen sowie Gäste aus aller Welt ihre Verbundenheit zur Kubanischen Revolution zeigen.

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

Veröffentlichung
mit freundlicher Genehmigung von

junge Welt

Volker Hermsdorf ist Buchautor und Journalist. 30 Jahre arbeitete er als hauptamtlicher Gewerkschafter bei der IG Metall. Seit 1982 besucht er regelmäßig Kuba.

Junge Welt, 26.04.2017