Raúl Castro: »Die Welt wird immer auf die Stimme Kubas zählen können«
Rede des kubanischen Präsidenten Raúl Castro am Montag vor der UN-Vollversammlung in New York.
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Liebe Staats- und Regierungschefinnen und -chefs,
geehrte Chefs und Chefinnen der Delegationen,
Herr Generalsekretär der Vereinten Nationen,
Herr Präsident,
vor 70 Jahren haben wir Mitglieder dieser Organisation im Namen der Völker die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet. Wir verpflichteten uns dazu, die künftigen Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren und einen neuen Rahmen für unsere Beziehungen zu schaffen. Dieser sollte durch eine Reihe von Vorhaben und Prinzipien geprägt werden, um eine Epoche des Friedens, der Gerechtigkeit und der Entwicklung für die gesamte Menschheit einzuleiten.
Aber seither gab es ständig Aggressionskriege, die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten, den gewaltsamen Sturz souveräner Regierungen, die sogenannten weichen Staatsstreiche und die Rekolonialisierung von Gebieten. Diese wurden perfektioniert durch unkonventionelle Handlungsformen wie den Einsatz neuer Technologien und die Verweise auf angebliche Verletzungen der Menschenrechte.
Die Militarisierung des Cyberspace und der verdeckte und illegale Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnik für Angriffe auf andere Staaten sind ebenso inakzeptabel wie eine Verzerrung der Förderung und des Schutzes der Menschenrechte, die selektiv und in diskriminierender Absicht benutzt werden, um politische Entscheidungen aufzuwerten und durchzusetzen.
Obwohl uns die Charta dazu aufruft, »unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit erneut zu bekräftigen«, bleibt die Geltung der Menschenrechte für Millionen Menschen eine Utopie.
Der Menschheit wird das Recht auf ein Leben in Frieden und ihr Recht auf Entwicklung verweigert. In Armut und Ungleichheit müssen die Gründe für die Konflikte gesucht werden, die zuerst durch den Kolonialismus und die Vertreibung der autochthonen Bevölkerung und später durch den Imperialismus und die Aufteilung der Einflusssphären geschaffen wurden.
Die 1945 eingegangene Verpflichtung, »den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard« der Völker und ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu fördern, bleibt eine Illusion, solange 795 Millionen Menschen Hunger leiden, 781 Millionen Erwachsene Analphabeten sind und jeden Tag 17.000 Kinder an heilbaren Krankheiten sterben, während die jährlichen Rüstungsausgaben weltweit auf mehr als 1,7 Billionen Dollar gestiegen sind.
Schon mit einem Bruchteil dieser Summe könnten die drängendsten Probleme gelöst werden, unter denen die Menschheit leidet.
Sogar in den industrialisierten Ländern sind die »Wohlfahrtsstaaten« praktisch verschwunden, die uns als zu befolgendes Modell angepriesen wurden. Die Wahlsysteme und die traditionellen Parteien, die von Geld und Werbung abhängen, entfernen sich immer mehr von den Zielen ihrer Völker.
Der Klimawandel gefährdet die Existenz der menschlichen Gattung, und die Staaten müssen angesichts der unanzweifelbaren Realität, dass nicht alle Länder gleich verantwortlich sind oder in gleichem Maß die menschlichen und Naturressourcen in einem irrationalen und nicht nachhaltigen Konsumismus verspielen, eine gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung übernehmen.
Die Konsequenzen des Klimawandels sind besonders für die kleinen, auf Inseln gelegenen Entwicklungsländer verheerend und bedeuten für ihre zerbrechliche Ökonomie zusätzliche Spannungen. Dasselbe geschieht durch die unaufhaltsame Ausdehnung der Wüsten in Afrika.
Wir solidarisieren uns mit unseren Geschwistern in der Karibik und fordern, dass sie besonders und differenziert behandelt werden. Wir unterstützen die afrikanischen Länder und verlangen für sie eine gerechte Behandlung und den Transfer von Technologie und finanziellen Ressourcen.
Herr Präsident,
mit der Schaffung der Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft (CELAC) und besonders mit der Unterzeichnung der Proklamation Lateinamerikas und der Karibik zu einer Zone des Friedens durch die Staats- und Regierungschefs im Januar 2014 wurde demonstriert, dass wir unabhängig von unseren Differenzen im Rahmen unserer Vielfalt zur Einheit und zur Umsetzung der gemeinsamen Ziele voranschreiten können.
In der Proklamation bekräftigen wir die unerschütterliche Verpflichtung gegenüber den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts und gegenüber dem Prinzip, die Differenzen auf friedlichem Weg beizulegen sowie die Überzeugung, dass der volle Respekt für das unveräußerliche Recht jedes Staates, sein politisches, wirtschaftliches, soziales und kulturelles System zu wählen, eine Grundbedingung dafür darstellt, das friedliche Zusammenleben der Nationen zu sichern. Wir verlangen, dass diese Prinzipien auch als Grundlage der Beziehungen mit anderen Staaten unserer Region dienen.
Die Bolivarische Republik Venezuela wird immer auf die Solidarität Kubas gegen die Versuche zählen können, die verfassungsmäßige Ordnung zu destabilisieren und zu untergraben sowie die vom Genossen Hugo Chávez Frías begonnene und vom Präsidenten Nicolás Maduro Moros fortgeführte Arbeit für das venezolanische Volk zu zerstören.
Ebenso gilt unsere feste und uneingeschränkte Solidarität der Republik Ecuador, ihrer Bürgerrevolution und ihrem Anführer Rafael Correa Delgado, die zur Zielscheibe desselben Destabilisierungsplans geworden sind, der auch gegen andere fortschrittliche Regierungen der Region angewandt wird.
Wir solidarisieren uns mit den Nationen der Karibik, die gerechte Reparationen für die Schrecken der Sklaverei und des Sklavenhandels fordern – vor allem in einer Welt, in der die rassische Diskriminierung und die Unterdrückung der afrikanischstämmigen Gemeinschaften zunimmt.
Wir bekräftigen unsere Überzeugung, dass es das Volk von Puerto Rico verdient, nach mehr als einem Jahrhundert kolonialer Herrschaft frei und unabhängig zu sein.
Wir solidarisieren uns mit der Republik Argentinien in ihrer gerechtfertigten Forderung nach Souveränität über die Malwinen (Falklandinseln, jW) sowie Südgeorgien und die Südlichen Sandwichinseln.
Wir bekräftigen unsere solidarische Unterstützung für die Präsidentin Dilma Rousseff und für das Volk Brasiliens bei der Verteidigung seiner wichtigen sozialen Errungenschaften und der Stabilität des Landes.
Wir bekräftigen unsere Ablehnung der Absicht, die Präsenz der NATO bis an die Grenzen Russlands auszudehnen sowie, des Einsatzes ungerechter einseitiger Sanktionen gegen diese Nation.
Wir begrüßen das sogenannte Atomabkommen mit der Islamischen Republik Iran, das zeigt, dass Dialog und Verhandlungen die einzigen wirksamen Mittel sind, um die Differenzen zwischen den Staaten beizulegen.
Wir erneuern unser Vertrauen darauf, dass das syrische Volk in der Lage sein wird, selbst seine Differenzen beizulegen und fordern eine Beendigung der ausländischen Einmischung.
Für eine gerechte und dauerhafte Lösung des Konflikts im Mittleren Osten ist es unumgänglich, das unveräußerliche Recht des palästinensischen Volkes wirklich umzusetzen, seinen eigenen Staat in den vor 1967 geltenden Grenzen und mit Ostjerusalem als seiner Hauptstadt aufzubauen. Das unterstützen wir energisch.
In den vergangenen Wochen haben uns die Bilder der Migrationswellen nach Europa bewegt, die eine direkte Konsequenz der Destabilisierung sind, die die NATO in den Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas gefördert und betrieben hat, sowie eine Folge der in Ländern des afrikanischen Kontinents herrschenden Unterentwicklung und Armut. Die Europäische Union muss sofort und umfassend ihre Verantwortung für die humanitäre Krise wahrnehmen, zu deren Entstehung sie beigetragen hat.
Herr Präsident,
nach 56 Jahren heldenhaften und unermüdlichen Widerstands des kubanischen Volkes wurden die diplomatischen Beziehungen (mit den USA) wiederhergestellt und die Botschaften in den jeweiligen Hauptstädten wiedereröffnet.
Nun beginnt ein langer und komplizierter Prozess zur Normalisierung der Beziehungen, die erreicht werden kann, wenn die Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade gegen Kuba beendet wird, wenn unserem Land das von der Marinebasis Guantánamo illegal besetzte Gebiet zurückgegeben wird, die Radio- und Fernsehsendungen sowie die Subversions- und Destabilisierungsprogramme gegen Kuba eingestellt werden sowie unser Volk für die Schäden an Menschen und Wirtschaft entschädigt wird, unter denen es noch heute leidet.
Solange sie existiert, werden wir weiterhin die Resolution unter der Überschrift »Notwendigkeit der Beendigung der von den Vereinigten Staaten von Amerika gegen Kuba verhängten Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade« einbringen.
Den 188 Regierungen und Völkern, die hier und in zahlreichen internationalen und regionalen Foren unsere gerechte Forderung unterstützt haben, bekräftigte ich den ewigen Dank des Volkes und der Regierung Kubas für ihre nachhaltige Unterstützung.
Herr Präsident,
Kuba feiert mit tiefempfundener Verpflichtung den 70. Jahrestag der Organisation der Vereinten Nationen. Wir erkennen an, dass man in diesen Jahren versucht, aber nicht genügend dafür getan hat, die heutigen und künftigen Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren und ihr Recht auf eine nachhaltige Entwicklung ohne Ausgrenzung zu schützen. Die UNO muss gegen den Unilateralismus verteidigt und grundlegend reformiert werden, um sie zu demokratisieren und den Völkern anzunähern.
Wie vor 15 Jahren hier in diesem Saal der Genosse Fidel Castro, der historische Anführer der kubanischen Revolution, erklärte: »Jeder begreift, dass das Hauptziel der Vereinten Nationen im beginnenden Jahrhundert ist, die Welt nicht nur vor dem Krieg zu retten, sondern auch aus der Unterentwicklung, dem Hunger, den Krankheiten, der Armut und der Zerstörung der für die Existenz des Menschen unerlässlichen Natur. Dies muss schnellstens getan werden, bevor es zu spät sein wird!«
Die internationale Gemeinschaft wird immer auf die aufrichtige Stimme Kubas gegen Ungerechtigkeit, Unterentwicklung, Diskriminierung und Manipulation zählen können, für die Errichtung einer gerechteren und ausgeglicheneren internationalen Ordnung, in deren Zentrum wirklich der Mensch, seine Würde und sein Wohlergehen stehen.
Vielen Dank.
Raúl Castro Ruz
29.09.2015, New York
Quelle: junge Welt