Am 19. November dieses Jahres wäre Tamara Bunke 80 Jahre alt geworden. Am 31. August 1967 wurde sie von bolivianischen Militärs am Ufer des Rio Grande erschossen. Sie war auf dem Weg zu den Revolutionsgruppen Che Guevaras.
Tamara Bunke, geboren am 19. November 1937 in Buenos Aires, erschossen am 31. August 1967 aus einem feindlichen Hinterhalt. Die Aufnahme zeigt sie in Milizionärsuniform kurz nach ihrer Ankunft in Kuba 1961
Foto: jW-Archiv
Es war der ostdeutsche Schriftsteller und Journalist Heinz Knobloch, der stets warnend den Zeigefinder hob: Achtet auf verdächtige Grünanlagen, es könnten sich geschichtsträchtige Bauten dahinter verbergen! Dieses Bonmot verfasste er angesichts der Parkanlage in der Großen Hamburger Straße in Berlin, wo nur noch ein Denkmal und Reste des alten jüdischen Friedhofs darauf hinweisen, dass hier einst – bis zum Abtransport der letzten Bewohner in die Vernichtungslager 1943 – das jüdische Altersheim gestanden hatte.
Nur ein, zwei Kilometer davon entfernt, in der Hannoverschen Straße 26, befand sich zu DDR-Zeiten die 10. Polytechnische Oberschule Mitte »Tamara Bunke«. Mit der Wende entledigte man sich des Namens der jung gestorbenen Kommunistin und Revolutionärin, heute findet dort der Schulbetrieb der Grundschule Neues Tor sowie des deutsch-portugiesisch ausgerichteten Zweiges der Staatlichen Europaschule Berlin statt. Wenngleich die restaurierte Gesellschaft eine andere ist, als sie sich Tamara Bunke für den Osten Deutschlands vorgestellt hatte, die Idee einer die Völkerverständigung fördernden zweisprachigen Schule hätte ihr vielleicht gefallen.
Die »Bunke«, wie die Schule etwas despektierlich von ihren Schülern genannt wurde, war ein Ort der Kindheit und Jugend, ein Treffpunkt. Im Unterschied zu anderen Schulen, die nach Antifaschisten, Widerstandskämpfern, Kosmonauten oder verdienstvollen Kommunisten benannt waren, blieb es nicht bei der bloßen Namensgebung, schließlich sorgte in diesem Fall das unermüdliche Engagement der Eltern Tamara Bunkes, vor allem der Mutter Nadja, dafür, dass das Andenken an ihre Tochter nicht in Vergessenheit geriet. Mehr als 200 Einrichtungen in der DDR, Schulen, Kindergärten, Frauengruppen, NVA-Einheiten, trugen den Namen der in Bolivien beim Versuch, eine Revolution zu initiieren, getöteten Rebellin. Kurioserweise, muss man sagen, denn ihre Ideen und die des argentinisch-kubanischen Revolutionärs Ernesto »Che« Guevara vom militärischen Kampf und dem Export der Revolution stießen in der SED-Führung keineswegs auf Beifall und Zustimmung. Che, das Idol der Westlinken, war der DDR-Führung eher suspekt.
Geboren im Exil
Anfang der 1930er Jahre des vorigen Jahrhunderts lernen sich die aus Odessa stammende Nadja Bider und der Sportlehrer Erich Bunke in Berlin kennen. Beide gehören der Kommunistischen Partei an und kämpfen in dieser stürmischen Zeit für die Durchsetzung ihrer Ideale. Als die Nazis 1933 an die Macht gelangen, gehen die beiden Kommunisten in den Untergrund. Fortan gehören sie zur Widerstandsgruppe Kurt Steffelbauer, in der Illegalität operieren sie gegen das herrschende Hitlerregime. Doch nicht nur ihre kommunistische Überzeugung verbindet Nadja und Erich, Ende 1934 wird Nadja schwanger, im Mai darauf wird Sohn Olaf geboren. Als Nadja Bider eine Vorladung von der Gestapo bekommt, flieht sie mit ihrem polnischen Pass nach Warschau. Erich hingegen setzt sich nach Paris ab, wo sich das Paar wenig später trifft. Gemeinsam setzt die junge Familie die Flucht nach Argentinien fort. Dort treten die inzwischen Verheirateten der dortigen Kommunistischen Partei bei und gründen mit anderen Exilanten die Gruppe »Das andere Deutschland«, die nicht nur gegen Nazideutschland, sondern auch gegen die sogenannten Auslandsnationalsozialisten in Argentinien agiert. Am 19. November 1937 wird ihre Tochter Haydée Tamara Bunke Bider geboren.
Nebst seiner politischen Arbeit findet Erich Bunke Anstellung in der deutschsprachigen Cangallo-Schule, einer von wenigen, die nicht auf Nazikurs waren. Dort wird Tamara 1943 eingeschult. Im Sportklub der Schule, aber auch im sozialistischen Verein »Vorwärts« treibt das quirlige Mädchen viel Sport, Leichtathletik, Schwimmen und Reiten. Daneben interessiert sie sich für Kultur und Musik, erlernt Klavier und Akkordeon. Das Haus der Bunkes im Stadtteil Saavedra ist stets offen für Gleichgesinnte, hier wird nicht nur Kultur und Kunst großgeschrieben, Olaf und die zwei Jahre jüngere Tamara lernen hier auch die politischen Ansichten der Eltern und Freunde kennen und schätzen.
Die politische Lage in Argentinien wird in den Nachkriegsjahren für Kommunisten und Sozialisten schwieriger. Zwar hat der regierende Juan Domingo Perón mit Zugeständnissen an die Gewerkschaften Rückhalt bei den Arbeitern, doch seine Nazisympathien ermöglichen Verbrechern wie Josef Mengele oder Adolf Eichmann die Flucht. Schließlich entscheiden sich Nadja und Erich Bunke 1952, entgegen der Richtung der »Rattenlinien« nach Deutschland zurückzukehren. Naturgemäß in den Osten des vom Krieg zerstörten Landes, wo Gleichgesinnte seit drei Jahren versuchen, eine sozialistische Republik aufzubauen.
Von Buenos Aires nach Stalinstadt
Doch nicht in der Hauptstadt der drei Jahre zuvor gegründeten Deutschen Demokratischen Republik finden sie ihren Wirkungskreis, sondern in der ostdeutschen Provinz, nahe der neuen deutsch-polnischen Grenze. Um ein Stahlwerk herum war dort die erste sozialistische Stadt der DDR gegründet worden, Stalin- bzw. heute Eisenhüttenstadt. Dort sollen sich die beiden aus der »Westemigration« zurückgekehrten Kommunisten bewähren – wie gegenüber den Bunkes haben die führenden Genossen des Zentralkomitees der SED allen Rückkehrern aus England, Nord- und Südamerika gegenüber Vorbehalte und Misstrauen. Eine Tatsache, die die Bunkes stets abgestritten hätten, die jedoch auch Tamaras Haltung zum neuen deutschen Staat beeinflusst.
Erich Bunke wird als Lehrer eingesetzt, auch seine Frau Nadja arbeitet in der Volksbildung. Mitunter wird sie von der Stadtkommandantur im nahegelegenen Fürstenberg (Oder) als Dolmetscherin gerufen, wenn es Fragen mit der örtlichen Staats- und Parteimacht zu klären gab. So auch rund um die Ereignisse des 17. Juni 1953, als die Bauarbeiter von Stalinstadt, die ringsum in Barackenstädten untergebracht sind, gegen die von der SED-Führung beschlossenen Normerhöhungen protestieren. Nadja Bunke erinnerte sich später an diese Tage:
»Der größte Teil der Bauarbeiter, etwa 4.000, war am 17. Juni der Arbeit fern- und demonstrativ in der Barackenstadt geblieben. Auf dem Bau erschienen nur die Lehrlinge vom Lehrkombinat des VEB Bau-Union. In der folgenden Nacht wurde ich gegen zwei Uhr von unserem Abteilungsleiter für Inneres durch Rufen geweckt und mit dem Motorrad in die SED-Kreisleitung Stalinstadt gebracht, weil ich als Dolmetscherin für den Stadtkommandanten von Fürstenberg/Oder fungieren sollte. Die Lage an den Hochöfen war ernst, denn eine ziemlich große Gruppe Bauarbeiter aus der Barackenstadt des EKO drohte, die Anlagen zu stürmen. Die Schmelzer verteidigten sich und drohten ihrerseits: Jeder, der die Hochofenbühne zu betreten wage, würde mit glühendem Stahl übergossen. Eine wirklich schwierige Situation. Der zu Hilfe gerufene sowjetische Kommandant aus Fürstenberg traf ein, wurde informiert und versprach, in etwa 40 Minuten mit einigen Geschützen wiederzukommen. Nach seiner Rückkehr sagte er: ›Sie können durch die Bäume die Apparatiki sehen, die wir dort aufgestellt haben. Lassen Sie durch Lautsprecher bekanntgeben, dass sie in Aktion treten, wenn sich die Arbeiter nicht innerhalb von zehn Minuten in die Baracken zurückziehen.‹ Die Bekanntmachung ertönte im Lautsprecher, und innerhalb weniger Minuten war der Platz vor den Hochöfen leer. Vorsichtshalber blieben die Geschütze noch für einige Zeit stehen, aber es fiel kein Schuss.«
In der Folgezeit kümmert sich der Stadtkommandant um soziale Missstände in den Barackensiedlungen. Häufig reichen Warmwasser und Heizung nicht aus, es mangelt an sauberer Wäsche, von einem Freizeitangebot ganz zu schweigen. Auf Anordnung der örtlichen sowjetischen Militäradministration wird Abhilfe geschaffen, ein Kino eröffnet, Theatergruppen aus Frankfurt/Oder treten auf, zwei Jahre später wird das Friedrich-Wolf-Theater eröffnet. Da der Rat der Stadt über keine eigene Kulturabteilung verfügt, fallen die Arbeiten in das Ressort von Nadja Bunke. Es ist die Zeit, in der die 16jährige Tamara in engerem Kontakt zu den sowjetischen Militärangehörigen steht. Sie interessiert sich für die sozialistische Entwicklung im Heimatland der Mutter, die aus einer jüdischen Familie aus Odessa stammt. Etwa in jenen Jahren muss Tamara auch das Buch »Soja und Schura« von Ljubow Kosmodemjanskaja gelesen haben. Darin beschreibt die russische Mutter das Leben ihrer beiden Kinder, die im Großen Vaterländischen Krieg für die Sowjetunion gefallen waren. Besonders der Lebensweg Soja Kosmodemjanskajas interessiert Tamara. Die Partisanin führte hinter der Front Sabotageeinsätze gegen die nazideutschen Besatzer durch. Bei einem dieser Kampfeinsätze wurde Soja am 27. November 1941 im Dorf Petrischtschewo (Moskauer Oblast) von mit den Deutschen kollaborierenden Bauern verraten und festgenommen. In den folgenden Verhören gab sie nichts preis außer ihrem (Kampf-)Namen »Tanja«. Am 29. November wurde sie öffentlich gehenkt, um ihren Hals trug sie ein Schild, auf dem auf deutsch und russisch »Brandstifter« zu lesen war. Die Schilderung von Sojas Leben muss bei Tamara einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. Im Andenken an die Partisanin wählt sie später in Bolivien ihren Guerillanamen »Tania«.
Sehnsucht nach der Heimat
Partisanin, Revolutionärin sein, das beflügelt Tamaras Phantasie. Wie bereits in Argentinien widmet sie sich in Stalinstadt intensiv dem Sport, auch der militärischen Körperertüchtigung. Kurz vor der Rückkehr der Bunkes nach Deutschland ist in der DDR die »Gesellschaft für Sport und Technik« gegründet worden, eine Jugendorganisation unter der Führung der SED, die sich vor allem der sportlich-technischen und vormilitärischen Erziehung der Jugend widmet. In den Reihen der GST erhält Tamara eine gründliche Schießausbildung, nimmt an sportlichen Wettkämpfen teil und gewinnt Preise und Medaillen.
Trotz aller Anerkennung bleibt das Heimweh nach Argentinien. Das Lebensgefühl in Südamerika ist – auch wenn im neuen Deutschland der Versuch unternommen wird, eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen – ein anderes, ein leichteres, weniger preußisches. Bereits mit 17 Jahren, noch als Schülerin, dolmetscht sie für eine brasilianische Sportlergruppe und seitdem öfter für Delegationen aus Lateinamerika. Sie sammelt Folklore und Musik aus der südamerikanischen Heimat, verfolgt aufmerksam die Geschehnisse, die sich seit 1957 auf Kuba zutragen.
Nach ihrem Abitur – Bruder Olaf studiert dort bereits Mathematik – zieht die Familie nach Berlin. Dort arbeitet Tamara in den Reihen der FDJ als Pionierleiterin, 1958 erhält sie schließlich einen Studienplatz am Romanistischen Institut der Humboldt-Universität. Bereits zu diesem Zeitpunkt scheint der Plan zu reifen, nach Lateinamerika zurückzukehren und sich dort in den Dienst der Revolution zu stellen. Mit anderen Kommilitonen aus lateinamerikanischen Ländern, die in Berlin studieren, gründet sie eine nach dem deutschen, von den Nazis ermordeten KP-Vorsitzenden Ernst Thälmann benannte Gruppe. Dort debattieren sie über künftige politische Entwicklungen in den Heimatländern, verfolgen den Weg der Revolutionäre in Kuba. Nach dem Sieg Fidel Castros und seiner Genossen Ende 1959 wird Tamaras Landsmann Ernesto »Che« Guevara zum Industrieminister der jungen Inselrepublik ernannt. Im Juli 1960 leitet Guevara eine Wirtschaftsdelegation Kubas in der DDR. Bei einem Treffen mit Studenten in Leipzig wird Tamara ihm als Dolmetscherin zur Seite gestellt. Eine entscheidende Begegnung, wie sich später zeigen wird. Von nun an lässt sie den charismatischen und berühmten Landsmann nicht mehr aus den Augen, verfolgt jede seiner Aktivitäten. Ihren Antrag auf Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft und Übersiedlung nach Kuba hatte sie bereits gestellt, von den Behörden in Berlin wird er am 12. Dezember 1960 genehmigt. Was wenige Monate später – nach der Grenzschließung und Abschottung der DDR im August 1961 – wohl nicht mehr so ohne weiteres vonstatten gegangen wäre.
Nochmals dolmetscht sie für eine hochrangige kubanische Delegation. Im Februar 1961 gelingt es Tamara, einen Platz in einem Flugzeug zu bekommen, mit dem das kubanische Nationale Tanzensemble von einer Europatournee nach Havanna zurückkehrt. Eine Tänzerin hatte sich in den Westen abgesetzt.
In Kuba angekommen, setzt sie nicht ihre Studien der Romanistik fort. Arbeit und Kampf für die Revolution ist ihr Credo. Tamara engagiert sich im nationalen Studentenbund, empfängt ausländische Delegationen. Wiederholt wird sie als Dolmetscherin für Deutsch und Russisch angefordert und trifft bei diesen Gelegenheiten Che Guevara wieder. Nach knapp einem Jahr tritt sie den Revolutionären Milizen bei. Fortan ist die junge attraktive Frau meist in Uniform anzutreffen. Hauptberuflich ist sie nun als Übersetzerin im Bildungsministerium angestellt. Doch daneben nimmt sie ein Journalistikstudium an der Universität von Havanna auf. Freunde und Nachbarn berichten von ihrer unerschöpflichen Energie. Eine Nachmieterin ihrer Wohnung in der kubanischen Hauptstadt erklärt ganz stolz, dass Tamara als Ausländerin ihr als Kubanerin richtiges Spanisch beigebracht habe.
Die Wohnung – immerhin drei Zimmer im Zentrum Havannas – ist einfach und dennoch freundlich eingerichtet. Die Nachmieter haben ihre Möbel und die kleine Bibliothek übernommen, darunter auch eine umfangreiche Schallplattensammlung mit lateinamerikanischer Musik. Alles sieht so aus, als wolle sich die junge Funktionärin auf ein Leben für den kubanischen Staat in Havanna einrichten. Doch die kubanische kommunistische Partei, darunter ihre prominentesten Vertreter Che und Fidel, haben längst anderes mit der glühenden Revolutionärin vor.
Leben in der Konspiration
Nicht allen gefällt die Entwicklung auf der karibischen Insel. Vor allem die mächtigen USA befürchten, das revolutionäre Beispiel der Kubaner könne Schule machen und den lateinamerikanischen Kontinent entzünden, auf dem US-Konzerne wie United Fruit oder die Öloligarchen Marionettenregime unterhalten. Attentate auf die Brüder Castro werden von Miami aus geplant. Im April 1961 soll eine Invasionstruppe von der Playa Girón (Schweinebucht) aus die Revolutionsregierung stürzen. Der Einfall der von Guatemala kommenden Exilkubaner scheitert kläglich, ein Debakel für die CIA und den erst seit 90 Tagen amtierenden US-Präsidenten John F. Kennedy. In der Folge rücken Kuba und die Sowjetunion enger zusammen. Eine Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen auf einem NATO-Stützpunkt in der Türkei beantwortet Moskau mit der Stationierung von Raketen auf Kuba. Im Oktober hält die Welt den Atem an, die Kuba-Krise ist auf dem Höhepunkt und droht, in einen offenen Konflikt der Großmächte auszuarten.
Zwar kann die Krise in letzter Gelegenheit beruhigt werden, doch die Kubaner verstärken ihre Wachsamkeit. In dieser Situation tritt der kubanische Geheimdienst DGI an Tamara heran. Der Chef des größten kubanischen Auslandsgeheimdienstes, Manuel Piñeiro, sowie Che Guevara selbst haben die junge Kommunistin monatelang geprüft. Tamara zögert nicht, für die DGI zu arbeiten, es ist der Moment, in dem sie zum Andenken an Soja Kosmodemjanskaja den Kampfnamen »Tania« annimmt. Ein Jahr lang wird sie in geheimdienstlichen Techniken ausgebildet, Waffen- und Sprengstoffkunde gehören ebenso zu dem zu erlernenden Handwerk wie das Anlegen konspirativer Wohnungen, Sondierungen eines Gebietes, der Aufbau von Agentennetzwerken. Tania lernt schnell, wiederholt loben ihre Ausbilder ihre rasche Auffassungsgabe sowie ihr Organisationstalent. Nach einigen Einsätzen innerhalb Kubas, bei denen sie sich in verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Identitäten ein neues Umfeld schaffen soll, kommt ihre erste Auslandsmission.
Im April 1964 reist sie unter dem Namen »Haydée Bider Gonzales« nach Europa. Ihrer Legende nach ist sie die Tochter einer italienischen Familie aus einem Dorf an der österreichisch-italienischen Grenze. Die Eltern seien der Arbeitssuche wegen in den 1940er Jahren nach Uruguay ausgewandert, sie kehre nun zurück. Tania besucht die Orte »ihrer Kindheit«, lernt etwas Italienisch, hält sich eine Zeitlang in Westberlin auf. Ihre Tarnung ist so gut, dass selbst frühere Bekannte sie nicht wiedererkennen. Dennoch weist die Legende zu viele Lücken auf, und sie wird zurück nach Havanna befohlen.
Ein zweiter Einsatz soll schließlich den Erfolg bringen. Diesmal ist ihre Tarnidentität dichter an ihrem wirklichen Leben konstruiert. Als »Laura Gutiérrez Bauer«, 1938 in Buenos Aires als Tochter einer deutschen Emigrantin und eines argentinischen Geschäftsmannes geboren, soll sie als Studentin der Ethnologie über Peru nach Bolivien einreisen.
Zuvor – im August 1964 – hält sie sich wieder in Europa auf, um verschiedene »Lebensorte« ihrer Familie aufzusuchen. Darunter auch wieder den Westteil Berlins. Erstmals wird ihr die Schattenseite des konspirativen Lebens bewusst: so nah bei Eltern und Bruder zu sein und sie dennoch nicht besuchen zu können. Allerdings, so Nadja Bunke, habe sie mehrfach angerufen. Ein herber Verstoß gegen die Regeln des Kampfes im Untergrund. Nach dem Stand heutiger Technik wäre ihre Geheimdienstarbeit somit vielleicht aufgeflogen. Damals jedoch interessierte sich keiner der vielen Geheimdienste, die in Berlin agierten, für die junge Lateinamerikanerin.
Im November jenes Jahres schließlich reist Tania/Laura über Peru nach Bolivien ein. Ihre Aufgabe ist es, sich in die Gesellschaft von La Paz einzuleben, Kontakte zu knüpfen und Informationen zu sammeln, zum Beispiel zum Militär, aber auch zur Logistik des künftigen Guerillaoperationsgebiets. Che hatte die östliche Provinz Santa Cruz als Basis für den Beginn der Revolution gewählt.
Tania stellt sich bei Elena Fortun vor, der damaligen Direktorin des Instituts für Anthropologie in La Paz. Die Professorin erklärt, sie wolle sie gern als Studentin aufnehmen, brauche aber irgendeine Empfehlung hierfür. Die stellt der Kultursekretär der argentinischen Botschaft in La Paz aus, Riccardo Acre Gutiérrez. Tania wird als Mitarbeiterin für bolivianische Folklore angestellt, eine Tätigkeit, die es ihr ermöglicht, im Lande umherzureisen. Acre führt sie auch in die argentinischen Kreise um die Botschaftsangehörigen ein, mehrfach nimmt er sie zu Empfängen mit, auf denen sie die Spitzen aus Politik und Kultur in Bolivien kennenlernt. Darunter den Maler Moises Chile Barrientos, einen Verwandten des Luftwaffengenerals René Barrientos, der sich wenige Monate vor Tanias Eintreffen in Bolivien an die Macht geputscht hat. Die junge Frau ist bald bekannt und beliebt in La Paz. Sie nutzt ihre Verbindungen geschickt, um die logistischen Vorbereitungen für das Eintreffen der Revolutionäre um Che zu organisieren. Doch wirklich glücklich ist sie mit diesem konspirativen Leben nicht. »Man muss sich vorstellen, wie sie empfand«, erinnert sich Rodolfo Saldaña, damals Mitglied der Stadtguerilla von La Paz, »sie musste zwischen all diesen Leuten leben, den Politikern, den Militärs, zwischen denen, die wir ja bekämpfen wollten, die wir vernichten wollten. Aber ihre Aufgabe war eben dies.« Die Einsamkeit der Konspiration war für Tania schwer zu ertragen. Gegen die Regeln sucht sie Kontakte zu den Kämpfern, lange Zeit steht das Glück an ihrer Seite, sie wird nicht enttarnt.
Der letzte Kampf
Im November 1966 kommt Che – nach einem gescheiterten Revolutionsversuch im Kongo – nach Bolivien. Nun soll der Kampf hier beginnen. Zwei Jahre lang hat Tania die Guerilla vorbereitet, Vorrats- und Waffenlager eingerichtet, Stützpunkte organisiert. Im Januar 1967 soll sie in Ches Auftrag Kontakt zu argentinischen Vertrauensleuten aufnehmen. Sie trifft Ciro Roberto Bustos und den Franzosen Régis Debray, die sie beide ins Lager der Kämpfer bringt. Ein verhängnisvoller Fehler, wie sich später erweisen wird. Für die Fahrt ins Lager nutzt sie einen eigens angeschafften Jeep. Die letzten Kilometer müssen die drei jedoch zu Fuß zurücklegen. Eine Militärstreife findet den Jeep, in dem Tania – Leichtsinn, Vergesslichkeit? – eine Mappe mit Dokumenten und ihr Notizbuch gelassen hat. Ihre Identität fliegt auf, eine Rückkehr nach La Paz ist ausgeschlossen. Wochen und Monate der Kämpfe folgen, das bolivianische Militär ist der Guerilla auf der Spur. Die Gruppe wird getrennt. Tania, die entkräftet und fiebrig erkrankt ist, bleibt bei der Nachhut, während Che sich mit dem Haupttrupp in die Berge von Santa Cruz zurückzieht. Beim Versuch, beide Gruppen wieder zu vereinen, gerät die Nachhut um Tania am 31. August 1967 an den Ufern des Rio Grande in einen Militärhinterhalt. Die junge Kämpferin, gerade einmal 29 Jahre alt, wird von einem Schuss tödlich getroffen, ihre Leiche treibt im Fluss ab und wird erst Tage später gefunden. Wenige Wochen später wird auch die Hauptgruppe aufgerieben und Che Guevara auf Anordnung von General Barrientos exekutiert.
Was bleibt? Die Revolution ließ sich nicht exportieren, Ches Idee war gescheitert. Dennoch werden Che und Tania zu Symbolen einer Sehnsucht nach einer gerechteren Welt, nicht nur in Lateinamerika. In der Studentenbewegung in Europa wird Che zum Idol. In der DDR wird Tania geehrt. Nach dem Zerfall des sozialistischen Systems gerät sie fast in Vergessenheit. Nur ein Funke der Erinnerung bleibt, eine Idee, dass eine andere Welt, eine gerechtere als die heutige, möglich sei und es sich lohnt, für sie zu kämpfen.
Wolf H. Wagner arbeitet seit 1977 als Journalist und Autor, unter anderem bei der außenpolitischen Zeitung horizont und der aktuellen kamera. Seit 1983 ist er als freiberuflicher Autor tätig. Er ist Verfasser der Bücher »Der Hölle entronnen« (eine Biographie des Malers Leo Haas) und »Wo die Schmetterlinge starben. Kinder in Auschwitz«. Seit 1999 berichtet er vom politischen, kulturellen und Alltagsgeschehen in Italien.
Veröffentlichung |
Wolf H. Wagner
Junge Welt, 18.11.2017