Vor 50 Jahren wurde Che Guevara in Bolivien auf Befehl der CIA ermordet.
»Che hat mir den Weg gewiesen«, beendet der heute 83jährige Schweizer Soziologe Jean Ziegler gern eine Anekdote über ein Gespräch mit Ernesto Guevara. Ziegler war während einer Weltzuckerkonferenz in Genf im Jahr 1964 für zwölf Tage der Fahrer des damaligen kubanischen Industrieministers. Als der Schweizer diesen am Vorabend seiner Abreise mit den Worten ansprach »Comandante, ich möchte mit euch gehen«, stand Guevara in seiner olivgrünen Jacke und der Baskenmütze mit dem goldenen Kommandantenstern am Fenster eines Hotels und schaute über das abendliche Genf. »Siehst du diese Stadt«, sagte er. »Das ist das Gehirn des Monsters. Da bist du geboren, da musst du kämpfen.« Ziegler ist überzeugt davon, dass der Kampf, in dem der Revolutionär Che Guevara am 9. Oktober 1967 in Bolivien auf Befehl der CIA ermordet wurde, angesichts der »kannibalischen Weltordnung, in der wir leben« noch heute gerechtfertigt ist. 50 Jahre nach dem Tod des zur Legende gewordenen Comandante stehe sein Beispiel noch immer für die Hoffnung von Millionen Menschen, dass eine andere Welt möglich sei.
Medizin ist nicht genug
Das kurze Leben des Ernesto Rafael Guevara de la Serna, der am 14. Juni 1928 in der argentinischen Industriestadt Rosario als ältestes von fünf Kindern auf die Welt kam, war nicht das eines romantischen Helden, sein Tod nicht der eines Märtyrers. Guevara war durch und durch Realist. Tausende junge Menschen in Lateinamerika und anderen Teilen der Welt erlitten und erleiden im Kampf für dieselben Ziele ein ähnliches Schicksal. Und wie sie wurde Ernesto nicht als Revolutionär geboren. Als seine Großmutter 1946 an Krebs verschied und er 17 Tage lang an ihrem Sterbebett gewacht hatte, beschloss er, ein Heilmittel gegen die Krankheit zu finden, um andere davor zu bewahren. 1947 immatrikulierte Ernesto sich an der medizinischen Fakultät der Universität von Buenos Aires und bewältigte das Pensum eines sechsjährigen Studiums, obwohl er seit dem zweiten Lebensjahr schwer an Asthma litt, in drei Jahren. Er verließ Argentinien, bereiste mit einem Freund auf dem Motorrad Südamerika und träumte von großen Taten, die er vollbringen wollte. »Als er dann jedoch die Wirklichkeit auf unserem Kontinent, die Armut seiner Völker und die Ausbeutung, der sie unterworfen sind, erlebte, reifte der junge Mann und entwickelte sich zu einem sozialen Wesen«, urteilte die 1960 in Havanna geborene Tochter Aleida Guevara später über diese Zeit im Leben ihres Vaters. In Ernesto keimte die Überzeugung, so schrieb er selbst, dass es etwas gab, das »ebenso wichtig ist, wie ein berühmter Forscher zu sein oder einen bedeutenden Beitrag zur Medizin zu leisten, nämlich jenen Menschen zu helfen, die durch Unterernährung und dauernde Unterdrückung erniedrigt werden«.
Trotz solcher Überlegungen promovierte Ernesto Guevara 1953 mit einer Dissertation über Allergien zum Doktor der Medizin. Er verzichtete jedoch auf eine bürgerliche Karriere als Arzt und reiste über Bolivien, Peru und Ecuador nach Guatemala, wo Präsident Jacobo Árbenz Guzmán Ländereien des US-Konzerns United Fruit Company verstaatlicht und an landlose Bauern übergeben hatte. In Guatemala erhielt der junge Idealist nach seiner Motorradtour eine zweite Lektion, die sein weiteres Leben prägen sollte. Mit Hilfe der CIA initiierte das noch heute unter dem Namen Chiquita existierende Obst- und Gemüseunternehmen 1954 einen Putsch. US-Bomber zerstörten seinen Traum von sozialen Veränderungen, die den Menschen ein Leben in Würde ermöglichen sollten. Vergeblich versuchte er gemeinsam mit anderen den Widerstand gegen die United Fruit und die Invasoren zu organisieren. »In Guatemala war es notwendig gewesen zu kämpfen, aber fast niemand kämpfte«, beklagte er später. Die Erfahrungen, so meinte sein jüngerer Bruder Juan Martín Guevara später, ließen in ihm einen definitiven Entschluss reifen: »Medizin war nicht genug, um die Menschheit zu heilen.«
Bekanntschaft mit den Castros
Auf der Flucht vor den Mörderbanden der Putschisten landete Ernesto Guevara in Mexiko, wo er die Bekanntschaft Raúl Castros machte. Der ebenfalls im Exil lebende junge Kubaner studierte wie er die Werke von Marx, Engels und Lenin, um Erklärungen für die sozialen Probleme sowie Anregungen zu deren Überwindung zu finden. Als Raúl den Freund an einem Tag im Juli 1955 seinem älteren Bruder Fidel vorstellte, diskutierten die beiden die ganze Nacht hindurch. Fidel Castro stellte in Mexiko eine Rebellengruppe zusammen, um die Rückkehr nach Kuba vorzubereiten. In Erinnerung an den gescheiterten Überfall auf die im Osten Kubas gelegene Moncada-Kaserne zwei Jahre zuvor erhielt sie den Namen »Bewegung 26. Juli«. Ernesto, so bat Castro, sollte sich der Truppe als Feldarzt zur Verfügung stellen. Schon bald beteiligte sich der Argentinier am militärischen Training unter dem Kommando von Oberst Alberto Bayo, einem erfahrenen Ausbilder, der im spanischen Bürgerkrieg auf seiten der Republikaner gegen die Franco-Faschisten gekämpft hatte. Als am 25. November die Yacht »Granma« mit 82 Guerilleros an Bord vom mexikanischen Tuxpan aus gen Kuba in See stach, war auch Guevara an Bord.
In den Bergen der Sierra Maestra wurde er zum »Che«. Seine Gefährten hatten ihm den Namen verpasst, weil er als Argentinier jedem Satz am Ende »che« (»Hör mal!« oder »Mann!«) hinzufügte. Er selbst empfand seinen Spitznamen als Ehre, denn »Che« steht im Süden Argentiniens und Chiles auch für die indigenen Ureinwohner vom Stamm der »Mapuche« und bedeutet »Menschen der Erde«.
In den Bergen der im Osten Kubas gelegenen Sierra Maestre traf Che auf ausgehungerte und unterernährte Kinder, von denen der Großteil nicht wusste, wie Milch schmeckt. Die Verhältnisse vor allem im ländlichen Kuba waren katastrophal. Lediglich vier Prozent der Kubaner konsumierten Fleisch. Eine medizinische Versorgung auf dem Land war de facto inexistent. Der direkte Kontakt mit dem Elend des Volkes spornte Ches Kampfgeist weiter an. Im Juli 1957 wurde er von Fidel Castro wegen seiner Umsicht, Entschlusskraft und Durchsetzungsfähigkeit zum Comandante ernannt. Am 29. Dezember 1958 nahm Che Guevara mit seiner nur 300 Mann starken Einheit die Stadt Santa Clara gegen 5.000 von den USA unterstützte Batista-Soldaten ein. Damit war der Weg nach Havanna frei. Nach einem zweijährigen erbitterten Kampf hatten die Rebellen die Schreckensherrschaft des Diktators Batista und seiner korrupten Clique gebrochen. Am 1. Januar 1959 floh Batista in die Dominikanische Republik. Kurz darauf zog die Guerilla als umjubelter Sieger in der Hauptstadt ein. Che Guevara wurde einen Monat später der Ehrentitel »von Geburt an kubanischer Staatsbürger« verliehen. In den folgenden fünf Jahren der Festigung des Revolutionssieges, der Abwehr konterrevolutionärer Anschläge, der Vereinigung der Sierra-Maestra-Kämpfer mit der Kommunistischen Partei und der Annäherung an das sozialistische Lager erwies er sich dieser Ehre als würdig. Er arbeitete im Institut für Agrarreform, als Präsident der Nationalbank und ab 1961 als Industrieminister. Neben Raúl Castro wurde er zur treibenden Kraft der Agrarreform und der Verstaatlichung der US-Monopolgesellschaften.
Gegner der Kubanischen Revolution und westliche Biographen werfen Guevara seine Rolle bei der Verfolgung und Verurteilung von Anhängern der Batista-Diktatur vor. Tatsächlich wurde jedoch nach dem Sieg der Rebellen im Volk die Forderung nach Bestrafung der Folterknechte und anderer Täter des verhassten Regimes immer lauter erhoben. Am 22. Januar 1959 versammelten sich rund eine Million Menschen vor dem ehemaligen Präsidentenpalast in Havanna und verlangten die Abrechnung mit den Mördern der Diktatur. Die Rebellenführer fürchteten, dass sich Szenen wie nach dem Sturz des Diktators Gerardo Machado im Jahr 1933 wiederholen könnten, als dessen Anhänger von den wütenden Massen aus ihren Häusern geholt und durch die Straßen geschleift worden waren. Über das Radio warnten sie die Bürger vor ähnlichen Racheaktionen. Die Revolutionsführer versprachen, die Beschuldigten vor Gericht zu stellen und zur Verantwortung zu ziehen. In Diskussionen wurde an die Nürnberger Prozesse gegen die Kriegs- und Naziverbrecher in Deutschland erinnert. Auch Batistas Schergen sollten ordentliche Gerichtsverfahren und das Recht auf Verteidigung erhalten. In öffentlichen Prozessen, an denen Beobachter und Journalisten aus aller Welt teilnahmen, wurden die Anklagen verlesen, Zeugen angehört und schließlich die Urteile verkündet. Rund 500 Vertreter des alten Unterdrückungsapparates erhielten die Todesstrafe. Die Erschießungen führten zu einer internationalen Protestwelle. Noch heute schlachten Gegner der Revolution die Exekutionen aus, um auf das angeblich verbrecherische Wesen des »Castro-Regimes« hinzuweisen. Fidel Castro selbst räumte später Fehler, verteidigte die Gerichtsverfahren und Exekutionen aber grundsätzlich mit dem Hinweis, dass es nur deshalb »keine persönlichen Rachefeldzüge« und »keine Lynchjustiz« gegeben habe.
Kritik an der UdSSR
Drei Monate nach dem gescheiterten Invasionsversuch exilkubanischer CIA-Söldner vom 17. April 1961 traf der DDR-Schriftsteller Eberhard Panitz an der Playa Girón (Schweinebucht) mit Che Guevara zusammen. Die Deutschargentinierin und DDR-Bürgerin Tamara Bunke, die den Comandante 1960 bei einem Besuch der DDR als Dolmetscherin begleitet hatte und seit Mai 1961 in Kuba lebte, stellte ihn als Journalisten vor, der über die kubanische Revolution schreiben wolle. »Das hier war nur ein kleines Gefecht, kein Krieg, keine Konterrevolution«, sagte Che dem Besucher aus Deutschland. »Aber dass wir es geschafft haben, dass weder ein Krieg, noch eine Konterrevolution daraus geworden ist, das sollte man zur Kenntnis nehmen und sich überall gut merken.«
Nachdem Fidel Castro die Kubanische Revolution zu einer sozialistischen erklärt hatte, verhängten die USA die bis heute geltende und mehrfach verschärfte Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade gegen die Insel. In einer vielbeachteten Rede vor der UN-Vollversammlung kritisierte Che Guevara am 11. Dezember 1964 die atomare Bewaffnung der NATO-Länder und verteidigte das Recht der Völker auf Selbstbestimmung. Kuba sei einer der »Schützengräben für die Freiheit, nur wenige Schritte vom nordamerikanischen Imperialismus entfernt«.
Im eigenen Land versuchte Che Guevara selbst ein Beispiel für das propagierte Leitbild des »neuen Menschen« zu geben. Statt für sich oder seine Angehörigen Vergünstigungen in Anspruch zu nehmen, beteiligte er sich auch als Minister an freiwilligen Arbeitseinsätzen, förderte nichtmonetäre Anreize und die Bildung. »Wir bekämpfen Armut, aber auch Entfremdung«, erklärte er. Auf Auslandsreisen überraschte er seine Gastgeber gelegentlich mit Abweichungen vom Protokoll. »Nichts verachtete er mehr als gedankenlosen Dogmatismus«, erinnerte sich Günther Schaaf, der als Leiter der DDR-Handelsvertretung in den Jahren 1961 bis 1966 mit dem Minister in Havanna zu tun hatte. Im Sommer 1960 verärgerte Che die Regierung der Sowjetunion mit einer Reise in die Volksrepublik China und der Unterzeichnung eines Handelsvertrages. Ende 1960 legte er bei einem Besuch in Moskau gegen den Willen der Gastgeber Blumen am Grab Josef Stalins nieder. Eine Rede in Algier auf einer internationalen Konferenz verschiedener afrikanischer und asiatischer Staaten schlug einige Jahre später hohe Wellen. Am 24. Februar 1965 warf Guevara der UdSSR vor, sich in manchen Fragen wie ein kapitalistisches Land zu verhalten und die revolutionären Befreiungsbewegungen in der sogenannten dritten Welt nicht ausreichend zu unterstützen.
»Fidel und die gesamte Parteiführung waren gar nicht so ganz anderer Meinung als Ernesto, aber Fidel stand unter Druck. Der Staatschef war immer noch er«, berichtet Ches Bruder Juan Martín in seinem jüngst veröffentlichten Buch (»Mein Bruder Che«). Westliche Politiker und Medien spekulierten sofort über ein »Zerwürfnis« zwischen den beiden Revolutionären. An dieser »alten Fabel«, die bis heute immer wieder aufgewärmt wird, sei absolut nichts dran, versichert jedoch Ches Tochter Aleida. »Als sich Fidel und mein Vater in Mexiko kennenlernten, schloss sich mein Vater der Expedition nach Kuba unter der Bedingung an, dass er nach dem Sieg der Revolution seinen eigenen Weg gehen dürfe.«
Nach der Rückkehr von seiner letzten offiziellen Staatsreise nach Algerien habe Che Fidel dann in einer längeren Unterredung mitgeteilt, dass er die Revolution andernorts fortsetzen wolle, schreibt Juan Martín Guevara. »Du kannst anderswo keine Revolution machen, weil du als Kopf der hiesigen weitermachen musst. Ich aber kann das«, habe sein Bruder zu Fidel gesagt. Aleida berichtet, dass Fidel ihm während dieses Gesprächs ein Hilfsgesuch von einer kongolesischen Befreiungsbewegung um Laurent-Désiré Kabila vorgelegt habe. Bald schon wurde eine von Che geleitete Gruppe kubanischer Freiwilliger in den Kongo geschickt. Zahlreiche Dokumente belegen, dass Guevara, so schreibt Aleida, »in diesen Monaten permanent Rücksprache mit Fidel hielt, der die Truppe mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützt hat«. Das »Bolivianische Tagebuch« ihres Vaters belege außerdem, so Aleida Guevara, dass »mein Vater in Bolivien bis zuletzt mit ›Manila‹, das war ja das Codewort für Kuba, in Kontakt« stand.
Dorthin war Che nach seiner enttäuschten Rückkehr aus dem Kongo 1966 mit einer Gruppe bewaffneter kubanischer Kämpfer aufgebrochen. Aber auch hier scheiterte der Versuch, die kubanischen Guerillaerfahrungen zu übertragen. Ches Kampf in Bolivien war aussichtslos. Nachdem die inzwischen zu »Tania la Guerillera« gewordene Tamara Bunke, die zur Nachhut der Partisanen gehörte, bereits am 31. August 1967 am Rio Grande im Kugelhagel der bolivianischen Regierungssoldaten gefallen war, wurde am 8. Oktober 1967 auch Che als Anführer der Hauptgruppe festgenommen. Der für die CIA arbeitende Exilkubaner Félix Rodríguez flog daraufhin extra nach Bolivien, um ihn zu verhören. Einen Tag später wurde Ernesto Che Guevara ohne Gerichtsverhandlung auf Befehl von Rodríguez von dem Soldaten Mario Terán Salazar in der Gemeindeschule des Ortes La Higuera erschossen. Man schnitt ihm beide Hände ab und verscharrte die Leiche. Der von der CIA gedungene Mörder Rodríguez wurde für »besondere Tapferkeit« mit einem Orden ausgezeichnet wurde. Er lebt heute unbehelligt in den USA und wird von den alten Batista-Anhängern in Miami und den von Washington finanzierten Systemgegnern auf Kuba verehrt.
Aus einem Guss
Es ist nicht genau bekannt, wann Che das von ihm sehr geschätzte Buch »Wie der Stahl gehärtet wurde« des sowjetischen Schriftstellers Nikolai Ostrowski zum ersten Mal las. Doch wie dessen Held Pawel Kortschagin lebte auch er so, dass er im Sterben hätte sagen können: »Mein ganzes Leben, meine ganze Kraft habe ich dem Herrlichsten in der Welt – dem Kampf für die Befreiung der Menschheit – geweiht.« Fidel Castro würdigte seinen Freund, Genossen und Kampfgefährten nach dessen Tod mit den Worten: »Als Che fiel, verteidigte er keine anderen Interessen, keine andere Sache als die der Ausgebeuteten und Unterdrückten dieses Kontinents, die der Armen und Gedemütigten dieser Erde.«
Jahre später begründete der französische Philosoph Jean-Paul Sartre seine Bewunderung für Che Guevara damit, dass bei ihm »Wort und Tat aus einem Guss sind«. Ches Tochter Aleida Guevara sieht das ganz ähnlich. Das ungebrochen große Interesse am Denken und Wirken ihres Vaters, die anhaltende Begeisterung für seinen Kampf resultiert ihrer Meinung nach auch aus der Enttäuschung vieler Menschen über die Unehrlichkeit und die Manipulationen in der heutigen Politik. »Mein Vater sagte immer, was er dachte und tat das, was er sagte«, so Aleida Guevara. Ähnlich wie ihr Vater vor 53 Jahren führte sie in einem Interview aus: »Die beste Hilfe für Kuba wäre ein Durchbruch der Linken in den kapitalistischen Zentren.«
Veröffentlichung |
Volker Hermsdorf
Junge Welt, 09.10.2017