Realität soll Anspruch gerecht werden: Kampagne gegen sexistische Gewalt auf Kuba.
In Havanna wurde auf der diesjährigen Internationalen Buchmesse im Februar eine Kampagne vorgestellt, mit der das Thema Gewalt gegen Mädchen und Frauen verbindlich im Unterricht in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen behandelt werden soll. Trotz aller Erfolge ist dies auch in Kuba eine Herausforderung. Das dortige Bildungssystem gehört anerkanntermaßen zu den besten der Welt. Als einziges Land Lateinamerikas erreichte die sozialistische Karibikinsel alle sechs im UNESCO-Programm »Bildung für alle 2000–2015« formulierten Vorgaben, von denen zwei den Milleniumszielen der Vereinten Nationen entsprechen. Mit rund 20 Prozent des Staatshaushalts investiert das Land zudem mehr in Bildung und Erziehung als manche Industrienation. Für kubanische Pädagogen und Politiker ist das allerdings kein Grund, die Augen vor noch bestehenden Defiziten zu verschließen. Einige Mängel dokumentierte der 2014 gedrehte Film »Conducta« (Benehmen) von Ernesto Daranas, der in Kuba und weltweit zum Publikumsrenner wurde. Auch auf der diesjährigen Internationalen Buchmesse war das Thema Erziehung präsent. In zahlreichen Veranstaltungen wurde über das auch in Kuba existierende Problem der Gewalt an Schulen, in Familien und Gesellschaft diskutiert.
Ein Autorenkollektiv verschiedener Experten aus dem Bildungssektor stellte dazu ein Handbuch mit dem Titel »Educar para la igualdad« (Erziehung zur Gleichstellung) vor, das Pädagogen und Schülern in fünf Kapiteln theoretische und praktische Anleitungen gibt, um Bildungseinrichtungen als »diskriminationsfreie Räume« zu gestalten. Die Erziehung zum friedfertigen, respektvollen und solidarischen Umgang miteinander müsse bereits im frühen Kindesalter ansetzen, sagte Yoanka Rodney, eine der Autorinnen, bei der Präsentation des Buches. »Die Atmosphäre der Schulen bietet hervorragende Bedingungen, um dominantes Auftreten und stereotypes Geschlechterverhalten zu problematisieren, und gibt uns zugleich die Chance, die Gestaltung von gleichberechtigten Beziehungen frei von jeder Diskrimination zu erlernen.« Viele der heutigen Lehrer und Erzieher seien selbst noch in einer patriarchalen Kultur aufgewachsen und ihre Denk- und Verhaltensweisen dadurch geprägt, so Rodney. In Kuba sei aber der Schutz von Kindern und Heranwachsenden, Mädchen und Frauen vor jeder Art von Gewalt und Diskriminierung nicht nur gesetzlich verankert, sondern werde auch als gesellschaftliche Verantwortung angesehen. Das Handbuch setze sich mit der im Alltag noch verbreiteten sexistischen Sprache, mit homophoben Ausdrücken, »Mobbing« und Hänseleien unter Jugendlichen auseinander. Lehrer- und Erzieherkollektive würden die Vorschläge in Abstimmung mit Familien, Wohnbereichskollektiven und Behörden umsetzen.
Die Herausgabe des Leitfadens wird vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) und der Schweizer Agentur für Entwicklung und Zusammenarbeit unterstützt. Seine Präsentation war auf der Buchmesse Teil einer Veranstaltungsreihe im Rahmen der von den Vereinten Nationen 2008 gestarteten Kampagne »Únete« (Schließ dich an), die Gewalt gegen Mädchen und Frauen in Lateinamerika beenden soll. In Kuba wird sie von staatlichen Stellen und zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt. Ein entscheidender »Motor« ist dort das von Mariela Castro Espín geleitete Nationale Zentrum für Sexualerziehung (Cenesex).
Veröffentlichung |
Volker Hermsdorf
Junge Welt, 21.04.2017