»Was sich im Gestrüpp der Ideen verbirgt«

Gespräch mit Isabel Monal. Über Kuba, die Revolution und die Philosophie.

Warum sind kubanische marschierende Rekruten auf dem Stadtplatz und ihre Mütter ein Beweis für das Gesetz der Dialektik?

Wie soll ich denn das beantworten? Das ist doch eine unsinnige Frage.

Das ist aus einer Rede, die Sie 1999 gehalten haben. Sie sprachen davon, was es heißt, Philosophie zu unterrichten, und was man dabei falsch machen kann.

Jetzt haben Sie mich kalt erwischt. Das hatte mir eine Freundin erzählt, die einen Philosophiekurs belegt hatte. Ihr Professor hatte das behauptet. Wer so etwas sagt, versteht nicht, was Dialektik, was Philosophie oder was Politik ist. Ich wollte zeigen, dass einige Genossen diese Dinge erklären wollten, ohne dass sie wussten, wovon sie sprachen. Das verursacht mehr Schaden als Nutzen. Allerdings war das Anfang der 70er Jahre. Später kam so etwas nicht mehr vor. Anscheinend haben viele Leute sich darüber aufgeregt, nicht nur ich.

Sie sprachen in der Rede auch von der Herausforderung, Philosophie und Theorie im Sozialismus in der Bevölkerung zu verbreiten.

Nicht die Massenverbreitung ist notwendig, sondern die Vergesellschaftung des Wissens. Die Philosophie kann nicht dauerhaft Elitewissen bleiben. Im Sozialismus muss der Bürger die Welt und die Gesellschaft verstehen, in der er lebt. Schließlich muss dort jeder wichtige Entscheidungen treffen oder ist zumindest an ihnen beteiligt. Dafür braucht es einen gewissen Bewusstseinsstand. Der Sozialismus ist eine Gesellschaft, die sich nicht entwickeln kann und soll ohne eine sehr aktive Beteiligung der Bürger. Der Sozialismus fordert den Menschen mehr als andere Gesellschaftsformationen, er verlangt von den Bürgern ein hohes Wissen und viele Fähigkeiten, um die Realität zu erfassen und Lösungen zu finden, die nicht bloß improvisierte Auswege sind oder auf Wunschdenken beruhen. Und wenn Fehler geschehen – wie es Menschen unvermeidlicherweise passiert –, muss man auch in der Lage sein, diese zu überwinden. In diesem Sinne verwandeln sich Kenntnisse der Philosophie, aber auch der Geschichte in eine Notwendigkeit. Ich bin nicht naiv, das ist sehr schwierig, und es gibt dabei viele Fallstricke, die es zu vermeiden gilt.

Derzeit versuchen die Kubaner, eine Reihe von Problemen im wirtschaftlichen und politischen Bereich zu lösen. 2011 legte die Kommunistische Partei PCC dafür umfassende Vorschläge vor, die breit diskutiert wurden und jetzt umgesetzt werden. Unter anderem gibt es neue Möglichkeiten zur geringfügigen selbständigen Arbeit, außerdem soll die Effizienz in den Betrieben gesteigert werden. Welche Herausforderungen bringt das für die ideologische Arbeit mit sich?

Die sogenannten Aktualisierungen waren unbedingt notwendig. Man mag mit Nuancen nicht einverstanden sein, mit der Reihenfolge, in der sie umgesetzt werden, oder man kann sich – wie ich – Sorgen machen, dass wir mit unseren Maßnahmen nicht die gewünschten Ergebnisse erzielen, aber an der Notwendigkeit besteht kein Zweifel. In vielen Bereichen sind wir leider immer noch nicht besonders effizient. Diese Veränderungen schaffen außerdem neue soziale Gruppen und damit neue gesellschaftliche Widersprüche. Das ist unvermeidlich, denn das liegt in der Logik der Sache. Man muss also lernen, mit diesen Widersprüchen zu leben. Das bedeutet, man muss auch wissen, mit ihnen zu leben und wie man mit ihnen umgeht. Wir sind daran gewöhnt, dass alle wichtigen Entscheidungen analysiert und diskutiert werden, mit den Bauern, den Arbeitern, den Frauen, mit den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft. Das ist jetzt schwieriger und vielfältiger geworden, es gibt neue Dynamiken, die wir nicht gut kennen. Man muss Einigkeit mit sozialen Kräften suchen, die es vorher nicht gab und mit denen man sich deshalb nicht abstimmen musste. Ich mache mir darüber viele Gedanken, im positiven Sinne, nämlich darüber, wie wir diese Entscheidungen gut treffen können und dabei die Einheit unseres Volkes bewahren.

Wieso ist die Einheit trotz dieser neuen Widersprüche so wichtig?

Die Geschichte Kubas hat immer und immer wieder gezeigt, dass wir verlieren, wenn wir nicht einheitlich auftreten – in den ersten Unabhängigkeitskriegen im 19. Jahrhundert, im Kampf gegen den Imperialismus. Und wenn in Kuba die Revolution fällt, verliert das Land seine Unabhängigkeit. Deswegen hängt das zusammen, nicht weil jemand das will, sondern weil sich das historisch so ergeben hat. Wer das nicht versteht, wird sich auch sehr schwer damit tun zu verstehen, warum wir so handeln, wie wir es jetzt tun. In Europa versteht man das oft nicht, denn hier gab es schon seit Jahrhunderten Einzelstaaten, wir dagegen waren eine Kolonie.

Sie haben lange im Bildungsbereich gearbeitet. Angesichts der neuen Herausforderungen spielt Bildung doch sicher eine riesige Rolle – insbesondere, wenn sich auch das Verhältnis zu den USA verändert.

Die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten ist ein Triumph, denn sie resultiert aus der Stärke der Revolution, daraus, dass sie nicht besiegt werden konnte, was immer man auch versucht hat. Trotzdem schafft das natürlich neue Schwierigkeiten und Gefahren. Das weiß auch das kubanische Volk. Der Imperialismus ist schließlich lernfähig. Das Ziel, die Revolution zu besiegen, gibt es immer noch. Versuche, Kuba subversiv zu unterwandern, gab es schon früher. Aber mit diesen neuen Formen des Austauschs muss das ganze Volk, nicht nur die Führung, viel aufmerksamer sein. Das Bildungssystem spielt natürlich eine große Rolle in diesem Kontext. Es muss an die neuen Formen der Aggression und Subversion angepasst werden. Die Gefahr, dass kubanische Jugendliche bei subversiven Plänen gegen ihr Land mitmachen wollen, ist nicht so groß, sehr wohl aber besteht die Gefahr, dass sie sie nicht kommen sehen. Dafür braucht es nicht nur Bewusstsein, sondern man darf auch nicht naiv sein. Und das ist die kubanische Jugend oft, zwar nicht in bezug auf Kuba, aber darauf, was im Rest der Welt passiert. Sie sehen manchmal nicht die böse Absicht, die hinter etwas steht.

Wie meinen Sie das?

Einige Jugendliche sollten beispielsweise in ein gegen Kuba gerichtetes Programm der USA eingebunden werden. Sie haben das zu Beginn nicht gemerkt, aber als sie festgestellt haben, dass sie benutzt werden und welche Intention dahinter steckt, haben sie sofort reagiert.

Als junge Frau waren Sie selbst alles andere als naiv. Bereits 1957 haben Sie sich der Bewegung Fidel Castros, »Movimiento 26 de Julio« oder kurz »M-26-7«, angeschlossen. Nach der Revolution 1959 übernahmen Sie früh verantwortungsvolle Positionen. Haben Sie sich also über die politische Praxis an den Marxismus angenähert?

Nicht ganz. Ich habe ja Philosophie in den USA studiert. Jeder, der zur Universität gegangen ist, hat sich in irgendeiner Form mit Theorie beschäftigt. Irgendwann identifizierte ich mich mit der revolutionären Sache und entschied mich, Fidel Castro zu folgen, weil ich dachte, dass er recht hat. Und dann schloss ich mich eben der Bewegung M-26-7 an, in der ich Mitglied war. Die Revolution radikalisiert sich, und man radikalisiert sich mit ihr, durch die gleichen Ereignisse. Ich war natürlich Anti­imperialistin, bevor ich die ganze Imperialismustheorie studierte. Das geschieht, weil man sich in seiner Umgebung umschaut und sich entscheidet, dass man die Gesellschaft verändern muss, weil man sieht, dass sie nicht gerecht ist. Und damit hat man einen Anstoß zu fragen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. So vervollständigt sich langsam das eigene Weltbild. Man sieht den Marxismus als Weltanschauung, als Wegweiser und Methode, in diesem Sinne wächst man sowohl durch die Praxis als auch durch die Theorie.

Wie wird denn ihr Fach, die Philosophie, in Kuba heute der jungen Generation vermittelt?

In den weiterführenden Schulen gibt es keinen Philosophieunterricht, aber ein Fach, das wir »politische Kultur« nennen, in dem einige Grundlagen besprochen werden. An der Universität wird Marxismus-Leninismus unterrichtet. Dann gibt es die Forschungseinrichtungen, in denen auch Philosophie und andere Geisteswissenschaften ihren Platz haben. Die Mehrheit der Philosophen in Kuba sind Marxisten, aber einige eben auch nicht. Sie alle veröffentlichen ihre Ergebnisse beispielsweise als Artikel.

Wie beurteilen Sie denn das Niveau der philosophischen Arbeit in Kuba?

Heute ist die Situation ständig im Umbruch. Vieles wird man erst in einem Jahrzehnt beurteilen können. Mitte des 19. Jahrhunderts kamen einige der wichtigsten Philosophen des Kontinents aus Kuba. Aber diese Tradition ist leider bereits Ende des 19. Jahrhunderts verlorengegangen, und bis heute haben wir dieses Niveau nicht wiedererlangt. So sehe zumindest ich es, andere mögen das anders sehen. In den 20er Jahren gab es bei uns die ersten wichtigen marxistischen Denker, deren Werk für mich eine ganz wichtige Grundlage des kubanischen und lateinamerikanischen Marxismus bildet. Dabei gab es in Kuba jedoch immer auch andere Einflüsse, etwa durch diverse Formen des Irrationalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder durch den Existentialismus. Es gab in der kubanischen Philosophie einige ernsthafte Denker, aber insgesamt lag das Niveau weit unter dem, was in anderen Ländern Lateinamerikas an theoretischer Arbeit geleistet wurde, beispielsweise in Argentinien oder Mexiko. Ich würde mir sehr wünschen, dass die Philosophie in Kuba heute auf einem besseren Stand wäre. Sie ist nicht schlecht, aber in theoretischer Hinsicht könnte sie tiefergehend und anspruchsvoller sein. Einige Genossen in Kuba sehen das ähnlich. Wir tragen unseren Teil bei, aber es ist natürlich nicht sicher, dass das klappt.

Aber die Kubaner sind doch ein sehr gebildetes Volk, auch durch die Errungenschaften der Revolution. Wie passt das damit zusammen, dass das theoretische Niveau nicht so hoch ist?

Dafür habe ich bisher einfach keine Erklärung gefunden. Ich kann für meinen Teil nur sagen, dass ich es gerne gesehen hätte, wenn wir das theoretische Niveau wiedererlangt hätten, das wir Mitte des 19. Jahrhunderts hatten. Das ist nicht gelungen. Zu Beginn der Revolution und in den 60er Jahren schien es, als ob wir erneut durchstarten würden. Es gab einige Hoffnung, aber die hat sich nicht erfüllt. Das ist allerdings nur meine Sicht der Dinge, viele sehen das anders. Natürlich sind wir heute weiter als 1959. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die Revolution hat in mancher Hinsicht gute Ausgangsbedingungen geschaffen – Institute und andere Möglichkeiten, damit sich die Menschen der Philosophie widmen können. Davor existierte praktisch nichts davon, es gab keine Möglichkeit, das philosophische Denken zu entwickeln. Die kubanische Pseudobourgeoisie des 20. Jahrhunderts hatte kein Interesse daran. Vor der Aufgabe, die Philosophie zu entwickeln, stehen wir also heute noch.

Wie beteiligen Sie sich an dieser Aufgabe?

Ich kümmere mich zusammen mit einigen anderen Genossen darum: Wir organisieren Seminare, Treffen und Konferenzen. In Kuba findet man durchaus ein ähnliches theoretisches Niveau wie bei den brasilianischen Genossen, die ich sehr schätze. Aber es sind nicht so viele an den Debatten beteiligt, und das liegt nicht nur daran, dass Kuba kleiner ist als Brasilien. Im Vergleich zu anderen Ländern sind wir natürlich besser dran, aber weder tröstet mich das, noch stellt es mich zufrieden. Ich hätte gerne ein tiefe und gute Theorietradition. Bei meinen Wünschen spielen sicher auch meine Charakterzüge eine große Rolle. Ich werde mir immer noch etwas mehr wünschen. Wie sollen wir uns auch mit dem zufriedengeben, was wir bereits erreicht haben? Die Revolution muss ständige Veränderung mit sich bringen, und das bedeutet ständige Verbesserung, ständiges Wachstum. Das bedeutet, etwas zu erreichen und im gleichen Moment zu sagen, was wir erreicht haben, genügt nicht mehr, wir müssen weiter gehen. Wir sollten uns selbst gegenüber anspruchsvoller sein.

Was muss denn bei der Weiterentwicklung der Theorie berücksichtigt werden?

Die Theorie muss die veränderte Situation der Welt in sich aufnehmen, wir dürfen also nicht von einer abgeschlossenen, unantastbaren Theorie ausgehen und andere Realitäten, die dort nicht hineinpassen, einfach außen vor lassen. Das ist das Antimarxistischste, was man tun kann. Der Marxismus und der Leninismus sind fortwährend unvollendet, allein schon weil es im biologischen Leben eines Menschen nicht möglich ist, eine immer gültige Konzeption zu entwerfen. Aber auch weil die Welt sich verändert, das Wissen und die Menschen. Alles Wissen unterliegt bestimmten Bedingungen, nicht nur sozialen und politischen, sondern auch erkenntnistheoretischen. An der Entwicklung des Marxismus arbeiten wir also alle – mit mehr oder weniger großem Erfolg, aber das ist ein anderes Problem.

Welche philosophischen Fragen sollten unbedingt weiterbearbeitet werden?

Fragen der Erkenntnistheorie sind in meinen Augen zentral: Was ist Wissen, wie kommt es zustande, was sind die Grundlagen dafür? Marx hat in bezug auf seine eigene Theorie von Wissenschaft gesprochen, auf deutsch ist dieser Begriff viel umfassender als auf spanisch, französisch oder englisch. Wenn wir theoretische Arbeit leisten und Philosophie betreiben, geht es letztlich um diese Art des wissenschaftlichen Herangehens. Marx hat außerdem die soziale Bedingtheit des Wissens und des wissenschaftlichen Prozesses entdeckt – er hat das nicht so gesagt, aber es steckt implizit in seinem Werk. Wer das versteht, macht im Denken einen großen Schritt vorwärts. Aber es gibt zu diesem Thema keine systematischen Studien.

Welche philosophischen Auseinandersetzungen werden denn in Kuba derzeit geführt?

Innerhalb des Marxismus – oder vielmehr unter denen, die sich Marxisten nennen – sind die gleichen Fragen aktuell wie zu der Zeit, als der Marxismus entstanden ist: über die materiellen und die geistigen Faktoren und ihr Verhältnis zueinander. In Kuba gibt es einige Genossen, die sagen, dass die materiellen Faktoren nicht so wichtig sind. Sie halten die Politik und die Ideen für bestimmend, die Ökonomie dagegen für nicht so wichtig. Einige denken sogar, dass es dogmatisch sei zu sagen, dass die Ökonomie den Lauf der Dinge bestimmt. Damit bin ich überhaupt nicht einverstanden. Zumindest müssten sie begründen, warum das ein Dogma sein soll, und auf diese Argumente warte ich immer noch. Viele denken außerdem, dass die Dialektik keinen Sinn ergibt, sie wird außerdem fast nicht diskutiert. Auch wenn sie an den Universitäten natürlich unterrichtet wird, ist sie kaum Gegenstand weiterführender Artikel. Mit Engels denke ich, daß Marx herausgefunden hat, was sich im Gestrüpp der Ideen verbirgt. Mehr noch: Er hat festgestellt, dass es überhaupt Gestrüpp gibt. Mir kommt es so vor, als ob diese Genossen im Gestrüpp hängengeblieben sind.

Woher kommen diese Tendenzen?

Das sind Strömungen, die bereits mit der Entstehung des Marxismus zutage getreten sind. Den Höhepunkt ihres Einflusses hatten sie bereits im 20. Jahrhundert. Der Vulgärmarxismus, wie er beispielsweise in den Lehrbüchern vertreten war, dient heute noch als Rechtfertigung, um zu idealistischen Auffassungen zurückzukehren und zu behaupten, dass die Ideen das Schicksal der Gesellschaft bestimmen. Wir müssen uns alle gegen den Vulgärmarxismus stellen, ich habe mein Leben lang gegen ihn gekämpft. Aber er wird eben auch als Vorwand verwendet, um alte Muster idealistischen Denkens zu rehabilitieren, die Marx bereits hinter sich gelassen hatte.

Isabel Monal ist eine kubanische Philosophin. Sie kämpfte seit 1957 in der Bewegung »Movimiento 26 de Julio« um Fidel Castro. Nach der Revolution übernahm sie wichtige Funktionen in dem jungen sozialistischen Staat. Unter anderem war sie Vorsitzende des Instituts für Philosophie in Kuba und Direktorin des kubanischen Nationaltheaters. Bis heute gibt sie die wissenschaftliche Zeitschrift Marx Ahora (Marx heute) heraus

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

Veröffentlichung
mit freundlicher Genehmigung von

junge Welt

Interview: Lena Kreymann
Junge Welt, 01.04.2017