Organisierungsdebatte auf Amerikanisch

300 Menschen aus sozialen Bewegungen Amerikas trafen sich in Kolumbien.

Schlechte Nachrichten gab es aus den Ländern Amerikas in den vergangenen Monaten genug: geglückter Staatsstreich in Brasilien und versuchter Putsch in Venezuela, Wahlsieg der Rechten in den USA, »Nein« im Plebiszit zum Friedensprozess in Kolumbien und zuletzt der Tod Fidel Castros. Wie reagieren die politischen Bewegungen auf die sich verändernden sozialen Bedingungen in den amerikanischen Ländern? Welche Strukturen sind nötig, um auf den Aufschwung der Rechten zu reagieren und wieder aus der Defensive zu kommen? Wie kann unter diesen Umständen die bolivarische Revolution verteidigt werden?

Um über diese Fragen zu diskutieren, trafen sich Anfang Dezember rund 300 Aktivist*innen aus unterschiedlichen linken, emanzipatorischen Strömungen aus allen Ländern Amerikas in Kolumbien zur »Asamblea Fidel Castro«. Dieser Zusammenschluss sozialer Bewegungen und politischer Gruppen aus Lateinamerika (»Articulación Continental de Movimientos Sociales hacia el ALBA«) identifiziert sich mit den Zielen des linksgerichteten Staatenbündnisses Bolivarische Allianz. Dies wurde Ende 2004 als Gegenkonzept zur US-dominierten gesamtamerikanischen Freihandelszone ACLA auf Initiative von Venezuela und Kuba entwickelt. Dem Staatenbündnis gehören heute elf Länder an: Bolivien, Ecuador, Kuba, Nicaragua, Venezuela, Antigua und Barbuda, Dominica, St. Kitts und Nevis, St. Lucia, St. Vincent, die Grenadinen und Grenada.

Die ALBA-Bewegungen sind ein kontinentales Bündnis, das sich als Reaktion auf den alternativen Handelsvorschlag gegründet hat, um eine unabhängige, solidarische Wirtschaftsform zu entwickeln. Gegenwärtig ist dieses Netzwerk sowohl länderweise in sogenannten Kapiteln als auch länderübergreifend in Kampffronten organisiert. Es wird von einem Planungskomitee, dem Sekretariat, jeweils von einer verantwortlichen Person in den Bereichen Organisierungsstruktur, Artikulation, Kommunikation und Bildung zusammengehalten. Selbstredend standen eben diese Gremien zur Debatte.

Länderübergreifende Zusammenarbeit

Ziel des Treffens war die Vereinbarung einer gemeinsamen – den Anforderungen angemessenen – Organisationsstruktur und eines Mobilisierungsfahrplans als ALBA-Bewegungen. Die Notwendigkeit einer länder- und regionenübergreifenden Organisierungsstruktur war unter den Teilnehmer*innen unumstritten. Die Frage aber war, wie dies konkret aussehen soll.

Auf der Ebene der länderbezogenen Organisierung zeigen sich vor allem politische Unstimmigkeiten und Richtungsstreits. Aus Kolumbien sind vor allem die beiden landesweiten Organisationen Marcha Partiótica und Congreso de los Pueblos vertreten, die aufgrund ihrer Uneinigkeiten die Teilnahme für kleinere Gruppen erschwert oder unattraktiv macht. Die Vereinigung der Afro-Organisationen PCN bildet darin einen kleinen Ausgleich. Aufgrund von länderinternen Auseinandersetzungen reiste aus Mexiko eine der Gruppen gar nicht an – mit der Begründung, mit den internen Diskussionen das Treffen nicht belasten zu wollen. Aus Argentinien wird vor allem die fehlende Rückbindung der Vertretung aus dem Sekretariat an die lokalen Prozesse kritisiert. Obwohl Argentinien in dem Gremium vertreten ist, werden die übergreifenden Debatten zu wenig rückgekoppelt. Dazu kommt, dass sich auch in Argentinien die politischen Differenzen in zwei Strömungen trennen, von denen eine wesentlich besser an die ALBA-Strukturen angebunden ist als die andere.

Statt in den Grenzen der einzelnen Länder zu denken und die spezifischen Probleme aufzuzählen, entschieden sich die Teilnehmer*innen, auf der kontinentalen Ebene zu denken und so die Begrenztheit aufzulösen. Sehr beeindruckend, dass dies keineswegs dazu geführt hat, in Allgemeinplätze zu verfallen. Allerdings verblieben die Diskussionen in konkreten Arbeitsgruppen teilweise bei der Auflistung einzelner Probleme und Proteste, statt wirklich einen gemeinsamen Kampf zu entwickeln.

Solidarische Ökonomie, Demokratie und Internationalismus

Als Antwort auf diese Schwäche wurde der Vorschlag starkgemacht, die gemeinsamen, übergreifenden Kampffronten zu stärken. Denn weniger kontrovers war, dass die Organisierung notwendigerweise auf die Umgebung reagieren muss und nicht im luftleeren Raum diskutiert werden kann. Die daher auf dem Treffen erneut vereinbarten zentralen Kampffronten sind: Aufbau einer Solidarischen Ökonomie, Erlangen von Nahrungsmittelunabhängigkeit zum Schutz der Erde, Errichten einer Demokratie, in der das Volk die Macht hat, ideologischer Kampf mit dem Ziel einer kulturellen Revolution, Formierung von militantem Internationalismus. Außerdem wurden als zentrale transversale (quer dazu liegende) Themen sowohl Bildung als auch Feminismus (im Plural; »feminismos«) bestimmt. Diese sollen in den nächsten drei Jahren den politischen Kampf der teilnehmenden Gruppen leiten und ihm Orientierung geben.

Große Differenzen bestehen zwischen einerseits politischen Schwergewichten wie der Landlosenbewegung Brasiliens (MST) und der ALBA-Abteilung aus Venezuela, die an der Aufrechterhaltung und Neubesetzung des zentralen operativen Sekretariats festhalten, und andererseits kleineren und weniger stark organisierten Delegationen, die eine Stärkung der Fronten als wichtiges Element hervorheben.

Zudem geht es immer auch um die Frage nach Mitsprache im bestehenden System. Ein Aktivist der MST vertrat die Position: »In diesem historischen Moment müssen wir uns lediglich auf die Organisation und Mobilisierung von Mehrheiten konzentrieren.« Aktivistinnen aus Kolumbien und Bolivien begründeten hingegen die Stärkung der Kampffronten: Aus Bolivien kam der Vorschlag, aus den jeweiligen Fronten eine Person zu einem Koordinationsgremium zu delegieren, wobei die Länder rotieren sollten. Ein Aktivist aus Kolumbien machte außerdem den Vorschlag, dass sich zunächst die Länder einigen sollten und dann erst eine übergeordnete Organisierung stattfinden könne. Konsens herrschte alleine darüber, dass die aktuelle politische Lage die sozialen Bewegungen vor besondere Herausforderungen stellt.

Herausforderungen für die Organisierung des Widerstands

Ein Aktivist aus Kanada fasst die Herausforderungen folgendermaßen zusammen: »Die politische Lage unseres Kontinent zeichnet sich durch Neoliberalismus, Neoentwicklung («neodesarrollismo») und Sozialismus aus. Fast alle unsere Länder außer Kuba sind anhängig vom globalen Kapitalismus.« Dabei wurde der Kapitalismus vor allem im Süden des Kontinents als Raubtierkapitalismus bezeichnet und die von neo-kolonialen Strukturen bestimmte Abhängigkeit der Südländer von Rohstoffen hervorgehoben.

Auch das Fortschreiten der Privatisierungsinteressen von Öl- und Gasvorkommen sowie des Wassers wurde als Element des neoliberalen Systems kritisiert und angemerkt, dass zum Beispiel Coca-Cola mittlerweile mehr Einnahmen mit dem Verkauf von Wasser als mit Softdrinks erziele. Deswegen wurde der Schutz der Erde als ein antikapitalistisches Projekt vorgeschlagen und als Element der Kampffront definiert.

Das Scheitern der Demokratien in Ländern Amerikas wurde als Krise der Politik vor allem am Beispiel der geringen Wahlbeteiligung und des weitverbreiteten Stimmkaufs diskutiert. Mit der Krise der Politik gehe eine »Krise der Werte« einher, beispielhaft an dem Ersetzen von Werten wie »Bildung« und »Partizipation« durch einen erstarkenden Individualismus und Konsumismus debattiert. Aus Brasilien wurde angemerkt: »Auf diesen neuen Werten kann keine gerechte Gesellschaft entstehen, wenn jede*r nur noch an das Auto denkt, dass er*sie kaufen will, aber niemand sich mehr um den Bau von Straßen kümmert.«

Treffen der Frauen

Auf dem bereits im Vorfeld abgehaltenen feministischen Treffen der ALBA-Frauen diskutierten Frauen aus 19 Ländern des Kontinents über »Erfahrungen im Widerstand gegen das patriarchale System und neue Formen der Emanzipation«. Die Ergebnisse der Debatte wurden auf dem ALBA-Treffen als Leitfaden für die Neuaufstellung der feministischen Transversale diskutiert und angenommen.

Die unterschiedlichen Ausrichtungen des antikapitalistischen Feminismus hatten auf der Asamblea einen enormen Einfluss. »Das Fortschreiten des neoliberalen Wirtschaftsmodells ist eine der größten Herausforderungen für den Feminismus in unseren Ländern«, stellt die Abschlusserklärung des ersten amerikaweiten feministischen Treffens fest. Vor allem der Konservativismus in Lateinamerika und die Kriminalisierung des sozialen Protestes stellen in besonderem Maße für Frauen eine Gefahr dar. Eine brasilianische Aktivistin betonte in diesem Kontext, dass das »konservative, rechte Wertesystem nicht nur die emanzipatorischen politischen Alternativen, sondern vor allem den Widerstand der Frauen zu vernichten versucht«. Denn das neoliberale kapitalistische Wirtschaftsmodell habe die Objektivierung der Frau als Ware zur Folge. Der Schutz des weiblichen Körpers gegen Übergriffe sei deswegen wichtiger und notwendiger denn je.

Dementsprechend definierten die teilnehmenden Frauen »ihren Feminismus« als einen »Feminismus gegen das System«. Damit grenzten sie sich gegen internationale Organisationen wie die UNO und Cepal ab und rufen dazu auf, sich nicht vereinnahmen zu lassen, sondern einzelne Aspekte des Feminismus stets im Kontext des Kampfes gegen das System zu denken.

Einheit

Trotz aller Uneinigkeiten war ein Begriff zentral für die Debatte: Einheit. Dies hoben nicht nur die Vorträge in den Workshops und die Beiträge in den einzelnen Panels hervor, sondern auch die Gespräche am Rand des offiziellen Teils waren von der Hoffnung auf Einheit im Kampf geprägt. Hierbei wurde sich immer wieder auf die Errungenschaften von Fidel Castro bezogen. Die Einheit im Kampf für ein sozialistisches Amerika wurde als Voraussetzung und Bedingung für den Erfolg des Projekts dargestellt.

Einheit gilt auch als Schlüssel für eine den Anforderungen angemessene Neuaufstellung und Organisation der ALBA-Bewegungen. So heißt es in der Abschlusserklärung, die von den Teilnehmenden mit Rufen, Singen und Applaus verabschiedet worden ist: »Wir treffen uns hier, elf Jahre nachdem die Völker vereint die Amerikanische Freihandelszone Alca verhindert haben, um die nächsten Schritte hin zu einem indigenen-afro-feministischen Sozialismus unseres Amerikas zu beschreiten.«

Neues Deutschalnd


Neues Deutschland, 06.12.2016