Volker Hermsdorf hat die erste deutschsprachige Biographie Raúl Castros geschrieben. Eine wahre Geschichte aus heutigen Klassenkämpfen.
Der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel meinte einst: »Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.« Denn Meinungen über dies und das sind zahlreich und wechselhaft, Wissen ist eher selten. Das gilt erstaunlicherweise auch für Raúl Castro, neben seinem Bruder Fidel und Che Guevara wohl der international bekannteste Führer der Kubanischen Revolution. Aber wer weiß etwas über den Präsidenten des Landes seit 2008 und Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas seit 2011? Dabei rückte er am 17. Dezember 2014, als er und US-Präsident Barack Obama in gleichzeitigen Fernsehansprachen ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Havanna und Washington ankündigten, endgültig in das Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit. Dennoch verwenden die großen Medien der westlichen Länder zumeist herabsetzende, grotesk unbedarfte, vor allem aber feindselige Attribute, wenn die Sprache auf ihn kommt. Das ist Pflicht im antikommunistischen Geschäft, merkwürdig erscheint, dass dem noch mit keiner Biographie entgegnet wurde.
Das galt bis zum Sommer 2015. In ihm stellte der russische Autor Nikolai Leonow, ein früherer Diplomat und Mitarbeiter des KGB und mit Castro seit 1953 befreundet, in Havanna dessen weltweit erste Lebensbeschreibung vor. Sie liegt bislang nur auf spanisch vor, eine deutsche Übersetzung ist nicht in Sicht. Aber nun hat Volker Hermsdorf im Verlag Wiljo Heinen mit »Raúl Castro – Revolutionär und Staatsmann« die zweite veröffentlicht. Um es vorwegzuschicken: Sie ist umfassend, enthält zahlreiche neue Details, basiert auf dem Studium auch schwer zugänglicher Quellen, die in Fußnoten und im Literaturverzeichnis nachgewiesen werden. Ein Personenregister ermöglicht rasches Nachschlagen und Überprüfen – der Apparat ist keine Selbstverständlichkeit bei kleinen Verlagen.
Allein der seriöse, durchaus nicht unkritische, aber solidarische Umgang mit Castro und dessen politischem Wirken seit Beginn der 50er Jahre hebt dieses Buch in eine völlig andere Liga als das, was bislang in deutscher Sprache über den Kubaner zu lesen war. Hermsdorf zitiert in der Vorbemerkung als Beispiel dafür eine Passage aus »Das letzte Buch über Fidel Castro« von Carlos Widmann, ehemaliger Korrespondent von Spiegel und Süddeutscher Zeitung, das 2012 erschien. In ihm findet sich ein 15 Seiten umfassendes Kapitel, in dem Widmann einen zwei Jahre zuvor in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel über Raúl Castro ausschmückte: »Unter den pittoresken Guerilleros war er die kurioseste Erscheinung: ein schmächtiger Bursche mit einem verfilzten Zopf hinter der Baskenmütze und einem dünnen, rattenhaften Schnurrbart.«
Hermsdorf kümmert sich nicht weiter um derartiges. Er stellt den Lebenslauf Castros in elf Kapiteln und einem Epilog dar, wobei im elften Kapitel vor allem Zeitzeugen, Mitarbeiter und Weggefährten zu Wort kommen. Hier soll vor allem auf die frühen Jahre eingegangen werden, die am unbekanntesten sind. Raúl Castro wurde am 3. Juni 1931 als viertes Kind des aus dem spanischen Galicien nach Kuba ausgewanderten Arbeiters und dort zum Gutsbesitzer gewordenen ángel María Castro Argiz (1875–1956) und dessen zweiter Ehefrau Lina Ruz González (1903–1963) im Osten der Insel geboren. Der Autor hebt hervor, dass die Eltern großen Wert auf eine gute Schulbildung legten und Raúl schon mit knapp fünf Jahren nach Santiago de Cuba schickten, wo die älteren Brüder Ramón und Fidel bereits das Colegio De La Salle besuchten, das vom Orden der Marianischen Brüder betrieben wurde. Alle drei wurden wegen Aufsäßigkeit bald von der Schule verwiesen. 1937 setzte Fidel jedoch seine Schullaufbahn am Jesuitenkolleg Dolores in Santiago fort. Raúl besuchte unterdessen eine kombinierte zivil-militärische Landschule, bis er acht Jahre alt war und ebenfalls auf das Jesuitenkolleg kam. 1945 folgte er Fidel nach auf das elitäre Jesuitenkolleg Belén in Havanna. Es sollte zur Hochschulreife führen.
Raúl lehnte sich aber gegen die religiösen Rituale auf und kehrte 1946 auf das Gut des Vaters zurück. Nach dessen Geschmack diskutierte er zuviel mit seinen Landarbeitern über Politik, er schickte ihn daher Anfang 1950 wieder nach Havanna zu Fidel, der dort Rechtwissenschaften studierte. Der Jüngere nahm ein Studium auf, für das die Hochschulreife nicht erforderlich war, wurde sofort in der Studentenbewegung aktiv und las erste marxistische Texte, etwa Friedrich Engels’ »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates«. Anders als Fidel schloss er sich nicht der Orthodoxen Partei an, die radikale Reformen gegen Korruption und Spekulation forderte, sondern setzte auf eine Revolution. Sein Bruder verfügte allerdings über gute Kontakte zu Kommunisten und vermittelte ihm deren Bekanntschaft. Raúl marschierte bei Demonstrationen gegen den Putsch des Diktators Fulgencio Batista vom 10. März 1952 in den vordersten Reihen und organisierte 1953 die Einweihung eines Denkmals am Haupteingang der Universität von Havanna für den 1929 in Mexiko ermorderten Studentenführer und Mitbegründer Kommunistischen Partei Kubas, Julio Antonio Mella.
Seine Aktivitäten bewogen mehrere Jugendorganisationen, ihn im März 1953 als Leiter einer kubanischen Delegation auf eine »Internationale Konferenz zur Verteidigung der Rechte der Jugend«, die vom Weltbund der Demokratischen Jugend (WBDJ) organisiert worden war, nach Wien zu schicken. Raúl Castro berichtete dort über die Situation in Kuba, lernte Delegierte aus China und der Sowjetunion kennen, vor allem aber erhielt er das Buch »Der Weg ins Leben« des sowjetischen Pädagogen Anton Makarenko in spanischer Übersetzung geschenkt. Dieses Buch erweckte bei der Rückfahrt nach Kuba an Bord eines italienischen Passagierschiffes die Aufmerksamkeit des jungen sowjetischen Diplomaten Nikolai Leonow, der auf dem Weg nach Mexiko zu seinem ersten Auslandsaufenthalt war. Aus der Bekanntschaft wurde eine lebenslange Freundschaft und aus Leonow schließlich der erste Biograph Castros.
Die frühe Kenntnis marxistischer Arbeiten und das konsequente politische Engagement charakterisieren nach der Darstellung Hermsdorfs Raúl Castro mindestens so wie Fidel. Und es gibt noch eine zweite Eigenschaft, die ihn an die Spitze der Revolution führte: Kaltblütigkeit in gefährlichen Situationen und absolute Verlässlichkeit, Standhaftigkeit. Das zeigte sich bei der Rückkehr nach Kuba, als die Grenzpolizei Raúl verhaftete und kommunistischer Umtriebe beschuldigte. Er hatte sich verdächtig gemacht, weil er sich mit zwei Genossen aus Guatemala solidarisierte, die von den Batista-Schergen rüde behandelt worden waren. Sie kamen aus einem Land, dessen Präsident Jacobo Árbenz fortschrittliche Reformen eingeleitet hatte, das reichte, um sie zu schikanieren. Raúl blieb im Gefängnis. Er ließ den Generalsekretär des kommunistischen Jugendverbandes bitten, ihn aufzusuchen, und erklärte ihm, er wolle der Organisation beitreten. Schließlich wurde er Mitte Juni 1953 ohne Verfahren entlassen und lieferte am 21. Juli 1953 – fünf Tage vor dem Sturm auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba – in einem Interview mit der Zeitung der KP einen Bericht über die Wiener Konferenz. Als es soweit war, schloss er sich sofort dem bewaffneten Aufstand unter Führung Fidels an, obwohl die Kommunistische Partei auf legale Veränderungen setzte.
Dem Leser der Biographie erscheinen diese Schilderungen über den jungen Raúl Castro wie eine Vorwegnahme dessen, was folgte: unerschütterliches Festhalten an den Prinzipien der Revolution und der marxistischen Theorie, ungeheure organisatorische Leistung, also Begabung zu Pragmatismus, ob als Comandante der Guerilla, der während des Revolutionskrieges eine Art sozialistisches Staatswesen in seinem Kommandobereich schuf, ob als damals jüngster Verteidigungsminister der Welt, der auf erfahrene Sowjetmarschälle traf und mit führenden Militärs auch der DDR zusammenarbeitete, oder ob schließlich als Staats- und Ministerpräsident, als Parteivorsitzender. Hermsdorf breitet in seinem Buch keine Sensationen aus, die »Sensation«, wenn man so will, liegt in der Person und dem Lebenslauf Castros. Er fand sich, das ist ein durchgängiges Motiv, immer wieder in Situationen, die ausweglos schienen – Gefängnis, Niederlage vor der Moncada, Rückschläge im revolutionären Krieg, die Aggressionen der USA nach dem Sieg und schließlich auch das, was KPdSU-Generalsekretär Juri Andropow ihm am 29. Dezember 1982 in Moskau eröffnete: »Im Falle einer nordamerikanischen Aggression werden wir diese nicht in Kuba zurückschlagen.« Im »Augenblick der größten Gefahr«, so Raúl Castro später, sei ihm damit erklärt worden, dass Kuba nun alleine sei. Hermsdorf gab dem betreffenden Abschnitt die Überschrift »Allein unter Wölfen«. Als Konsequenz entwickelte die kubanische Führung ein neues Konzept des Verteidigungskrieges, das des Partisanen- und Volkskriegs. Auch dafür steht der Name Raúl Castro.
In Hermsdorfs Buch wird er nicht auf einen Sockel gestellt. Das Buch erzählt vielmehr die wahre Geschichte zu einer Legende, der Legende – wie Franz Josef Degenhardt dichtete – »von der revolutionären Geduld und Zähigkeit und vom richtigen Zeitpunkt«. Von heutigen Klassenkämpfen.
Volker Hermsdorf: Raúl Castro. Revolutionär und Staatsmann. Verlag Wiljo Heinen, Berlin und Böklund 2016, 352 Seiten, 16 Euro.
Volker Hermsdorf und Verleger Wiljo Heinen stellen das Buch am Samstag, dem 5. November, um 14 Uhr auf der 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg vor (Glashaus).
Veröffentlichung |
Arnold Schölzel
Junge Welt, 05.11.2016