Volker Hermsdorf hat eine Biografie über Raúl Castro geschrieben
Dies ist eine gelungene Biografie. Sie würdigt einen Mann, dessen Verdienste im weltweiten Kampf um Würde und Wohlstand der Menschen in der Bundesrepublik bisher kaum Erwähnung fanden. Seit frühester Jugend hat Raúl Castro sein Leben der revolutionären Umgestaltung Kubas gewidmet, dem Aufbau einer Gesellschaft ohne Ausbeutung, der Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit gegen den scheinbar übermächtigen US-Imperialismus und der selbstlosen Hilfe für andere um ihre Befreiung kämpfenden Völker. 50 Jahre hat der »zweite Mann« hinter Fidel und nunmehr selbst Präsident der sozialistischen Karibikinsel seinen Mann gestanden.
Volker Hermsdorf beschreibt den Werdegang des jüngsten Sohnes eines kubanischen Großgrundbesitzers, der ihm nicht an der Wiege prophezeit worden ist. Raúls atemberaubender Lebensweg verdankte sich dem engem Verhältnis zu dem sechs Jahre älteren Bruder Fidel. Seit Mitte der 1950er Jahre arbeiteten und kämpften sie Seite an Seite. Es gab wenig Reibereien. Sie ergänzten sich vortrefflich: Fidel, der charismatische Volkstribun, der Visionär und Stratege - Raúl, der Organisator, der sich in komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge hineinzudenken vermochte. Die Stärken von Raúl waren die Schwächen Fidels. Und der eine war gewissermaßen der Behüter des anderen.
Raúl Castro bestand seine Reifeprüfung mit 25 Jahren während des Partisanenkampfes in der Sierra Maestra, als Fidel ihn in den Norden sandte zum Aufbau einer zweiten Front. Innerhalb von wenigen Monaten hat Raúl dort eine kleine Armee von 1000 Kämpfern auf die Beine gestellt, die Bauern in Selbstverwaltungskomitees organisiert, ein Netz von Schulen, Krankenstationen und Kleinbetrieben geschaffen.
Es erschien folgerichtig, dass Fidel in der chaotischen Übergangszeit nach dem Sturz der Batista-Diktatur den 28-jährigen Bruder zu seinem Stellvertreter auf Staats- und Parteiebene ernannte und ihm als Hauptaufgabe die Schaffung einer schlagkräftigen Armee übertrug. Innerhalb weniger Jahre konnte Raúl mit Hilfe der Sowjetunion eine Streitmacht formieren, die als wirksame Abschreckung diente angesichts der steten Bedrohung Kubas seitens der USA. Sie hat sich zudem immer als Teil der internationalen revolutionären Bewegung verstanden. Ein beeindruckendes Beispiel ihrer Kampfkraft lieferten die kubanischen Streitkräfte, als sie die südafrikanischen Invasionstruppen besiegten, die 1987 versuchten, das gerade unabhängig gewordene Angola zu besetzen.
Anfang der 1990er Jahre entschieden sich fast alle Staaten des »sozialistischen Lagers« für einen Übergang zum Kapitalismus. Anders Kuba, obwohl die gesamte Unterstützung seitens der RGW-Länder wegbrach. Eine wichtige Rolle bei der Rettung des Sozialismus kam Raúl in seiner Eigenschaft als stellvertretender Ministerpräsident zu, verantwortlich für die Wirtschaft. Unter seiner Leitung wurde 1992 bis 1996 ein umfangsreiches Paket von Maßnahmen erarbeitet, die an die »Neue Ökonomische Politik« der frühen 1920er Jahre in der Sowjetunion erinnerten. Das Kleingewerbe wurde stimuliert, Freihandelszonen wurden geschaffen, private und staatliche Märkte eingerichtet, Bauernmärkte eröffnet. Raúl Castro wird aus diesen Jahren der Ausspruch zugeschrieben: »Brot ist für das Land wichtiger als Kanonen.« Wiederholt betonte er, dass die sozialen Standards in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Sozialversicherung erhalten bleiben und verbessert werden müssten.
2008 hat Raúl alle Ämter als Chef von Staat und Partei von Fidel übernommen. Das Parlament wählte ihn zum Präsidenten des Staatsrates und zum Vorsitzenden des Ministerrates, auf dem 6. Parteitag der KP Kubas 2011 wurde er ihr Erster Sekretär. In die Folgezeit fiel eine schrittweise Normalisierung der staatlichen Beziehungen zwischen Kuba und den USA sowie die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen und die Aufhebung von Reisebegrenzungen.
Hermsdorf weist darauf hin, dass dies nicht zur Beendigung der wirtschaftlichen Sanktionen der USA gegen Kuba geführt hat. Exporte aus den USA für die wichtigsten Zweige der kubanischen Wirtschaft sind verboten, US-Unternehmen, ja sogar Privatpersonen in den USA ist es untersagt, kubanische Erzeugnisse zu importieren, US-Firmen dürfen keine Investitionen in Kuba vornehmen, Bankbeziehungen mit Kuba sind untersagt. Das gesamte Blockadespektrum aus den 1960er Jahren ist noch intakt. Die USA setzen zudem verstärkt auf ideologische Diversion. Bis zu den Parlamentswahlen 2018 soll ein internationaler Druck zur Änderung der kubanischen Wahlgesetze erzeugt werden. Es ist das Jahr, in dem Raúl Castro 87 Jahre alt sein wird und nicht wieder für das höchste Staatsamt kandidiert.
Hermsdorfs Buch bietet neben den detailreich beschriebenen Lebensstationen von Raúl Castro vor allem eine unterhaltsame Geschichte der kubanischen Revolution. Der Publikation ist eine breite Leserschaft zu wünschen. Die Bücher zweier anderer hervorragender Kuba-Kenner werden hierzulande wegen der Sprachbarriere weniger Leser finden: Die russische Biografie über Raúl Castro von Nikolai Leonow (dieses Jahr auch auf Spanisch erschienen) und (inzwischen ebenso in Spanisch und Französisch erhältlich) »After Fidel« des US-Amerikaners Brian Latell.
Johnny Norden
Neues Deutschland, 18.10.2016