Den Sozialismus bewahren

Vorabdruck. Seit fast zehn Jahren steht Raúl Castro an der Spitze Kubas. Unter seiner Ägide leitete der sozialistische Staat tiefgreifende Reformen ein.

In der kommenden Woche erscheint im Berliner Verlag Wiljo Heinen die von Volker Hermsdorf verfasste Biographie »Raúl Castro – Ein Leben für die Revolution«. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck eines redaktionell gekürzten Kapitels. (jW)

Raúl Castro sei jemand, der niemals danach gestrebt habe, die Nummer eins im Staat oder in der Partei zu werden, meint Nikolai Leonow, der seit mehr als sechzig Jahren einer seiner engsten Bekannten ist. Raúl habe seinen Bruder Fidel Castro stets als Führer der Revolution, der Kommunistischen Partei und des Staates gesehen und respektiert. Leonow charakterisiert die Brüder als »unzertrennliches Paar«, wobei die Fähigkeiten und der Einfluss eines jeden sich durch die Verbindung in ihrer Wirkung vervielfachten.(1) Die britische Wochenzeitschrift The Economist bezeichnete die beiden als Don Quijote und Sancho Panza der Kubanischen Revolution. Fidel Castro als derjenige, der sich jedem Gegner furchtlos entgegenstellt, werde unterstützt vom Pragmatiker Raúl Castro, der sich zugleich um den Erhalt der eigenen Kräfte und um so wichtige Dinge wie die Versorgung mit Nahrung kümmere.(2) Diese Rollenverteilung zwischen Fidel und Raúl Castro lässt sich jedoch nicht so durchgängig nachvollziehen, wie es die britische Zeitschrift suggerieren möchte.

Unzertrennliches Paar

Klar geregelt war dagegen immer die Vertretung im Fall von Abwesenheit, Krankheit oder Tod. Bereits kurz nach dem Sieg der Revolution hatte Fidel – angesichts des Risikos, Opfer eines Attentates zu werden – auf einer Kundgebung in Havanna vorgeschlagen, dass Raúl im Falle seines Todes alle Ämter und Funktionen übernehmen solle. (…) Als gewählter Vizepräsident des Staats- und Ministerrats und als Zweiter Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei war Raúl Castro der designierte Stellvertreter Fidels.

Zu Beginn des neuen Jahrtausends zeigte Fidel Castros bis dahin als unverwüstlich geltende Kondition erstmals Schwächen. Am 23. Juni 2001 musste er in einem Stadtteil Havannas eine Rede – nach drei Stunden in der prallen Sonne – wegen einer leichten Schwindelattacke unterbrechen. Da ihm ähnliches nie zuvor passiert war, bejubelten die rechtskonservativen Medien in Miami bereits den nahenden Tod des Comandante en Jefe. Die nächsten Freudenausbrüche der militanten Castro-Gegner in Florida verursachte ein – von den Fernsehkameras festgehaltener – Sturz am 24. Oktober 2004 in Santa Clara, bei dem Fidel sich Brüche im rechten Arm, dem Schlüsselbein und der linken Kniescheibe zuzog. (…) Zwei Jahre später – Fidel Castro war gerade von einer anstrengenden Reise aus Argentinien zurückgekehrt und hatte am 26. Juli 2006 in Bayamo eine lange Rede zum Jahrestag des Sturms auf die Moncada- Kaserne gehalten – hielten viele Menschen in Kuba und der Welt den Atem an.

Fidel Castros Sekretär verlas am 31. Juli 2006 im Fernsehen eine »Erklärung des Comandante en Jefe an das kubanische Volk«. Da Castro Tag und Nacht ohne ausreichend Schlaf gearbeitet hatte, informierte dieser die Bevölkerung, habe extremer Stress zu einem Darmbruch mit starken Blutungen geführt. (…) Zum ersten Mal seit 1959 übertrug Fidel all seine Ämter und Funktionen vorübergehend auf eine Gruppe von sieben Personen, die von Raúl Castro geleitet wurde. Am 1. August wandte Fidel Castro sich mit einer kurzen Botschaft erneut an »das Volk Kubas und die Freunde auf der Welt«. Er schrieb: »Das Land ist auf seine Verteidigung durch die Revolutionären Armeestreitkräfte und das Volk vorbereitet.« (…)

Wahl zum Präsidenten

Obwohl Fidel Castros Gesundheitszustand sich gebessert hatte, deutete er am 17. Dezember 2007 (…) den endgültigen Rückzug von seinen Staatsämtern an. »Es ist meine elementare Pflicht, mich nicht an Ämter zu klammern, und erst recht nicht den Weg für jüngere Menschen zu versperren ...«,(3) schrieb er und gab damit Anlass zu Spekulationen. Wohl auch um der Gerüchteküche endlich ihre Zutaten zu nehmen, stellte Fidel am 18. Februar 2008 – sechs Tage vor der im Parlament anstehenden Wahl des Staatsrats – klar, dass er zwar ein Mandat als Abgeordneter akzeptieren, aber »weder das Amt des Staatsratsvorsitzenden erstreben noch annehmen werde«.(4) (…)

Schon Jahre zuvor hatte er gesagt: »Wenn mir morgen etwas passiert, dann tritt mit Sicherheit die Nationalversammlung zusammen und wählt ihn (Raúl), da gibt es keinen Zweifel.« Fidel Castro fügte hinzu: »Aber er ist nicht viel jünger als ich, und es ist schon mehr ein Generationenproblem. Glücklicherweise haben diejenigen, die die Revolution gemacht haben, drei Generationen geschult. (…) Es sind neue Generationen, die andere ersetzen werden. Ich habe Vertrauen, (…) aber wir sind uns darüber bewusst, dass einem revolutionären Prozess viele Gefahren drohen können.«(5) Bei der Wahl zur Nationalversammlung am 20. Januar 2008 erreichte Raúl Castro die höchste Stimmenzahl aller Kandidaten. Fidel Castro wurde als Abgeordneter der Nationalversammlung bestätigt. Sein Amt als Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas übte er vorerst weiter aus.

Am 24. Februar 2008 wählte das Parlament Raúl Castro erwartungsgemäß zum Vorsitzenden des Staatsrates (Staatsoberhaupt) und zum Vorsitzenden des Ministerrates (Regierungschef). Zum Stellvertreter Raúls in beiden Positionen bestimmte die Nationalversammlung José Ramón Machado Ventura, einen verlässlichen Kampfgefährten aus den Tagen der Guerilla in der Sierra Maestra. Das Amt des Verteidigungsministers, das bis dahin Raúl Castro innehatte, wurde dem Drei-Sterne-General Julio Casas Regueiro übertragen. Mit Ricardo Alarcón de Quesada wählten sich die Abgeordneten zudem einen auf vielen Gebieten erfahrenen Politiker zum Präsidenten des Parlaments, dessen Zusammensetzung sich stark verändert hatte. So war der Frauenanteil um sieben Prozent gestiegen und betrug nunmehr dreiundvierzig Prozent. Auch die Zahl der jüngeren, 18- bis 30jährigen Abgeordneten hatte sich um mehr als ein Drittel erhöht.

In seiner mit zwanzig Minuten ungewöhnlich kurzen Antrittsrede bat Raúl Castro die Nationalversammlung »als höchstem Machtorgan des Staates« um die Erlaubnis, »Entscheidungen mit besonderer Tragweite für die Zukunft der Nation, vor allem die, die Verteidigung, Außenpolitik und sozioökonomische Entwicklung des Landes betreffen, weiterhin mit dem Anführer der Revolution, dem Genossen Fidel Castro Ruz, zu beraten«. Er bekräftigte die Führungsrolle der Kommunistischen Partei Kubas, die im Artikel fünf der von den Bürgern in einem Referendum angenommenen Verfassung verankert ist.(6)

Danach umriss Raúl Castro sein »Regierungsprogramm« für die nächsten Jahre. Als wichtige Ziele kündigte er eine Restrukturierung der Institutionen und die Dezentralisierung der Verwaltung an, forderte mehr Effizienz in der Regierungsarbeit und den Abbau von Bürokratie. Zu den strategischen Zielen gehöre vor allem, dass der »legal erarbeitete Lohn« zum Leben reiche und wieder zur Haupteinnahmequelle der Menschen werden müsse. Auch die Abschaffung der Doppelwährung sei langfristig vorgesehen. Dies sei jedoch ein sehr komplexes Problem, dessen Lösung große Umsicht erfordere, um eine Inflation und die Explosion der Lebenshaltungskosten zu vermeiden.

Erneut rief Raúl Castro die Bürger zur stärkeren Beteiligung auf und ermunterte sie, konstruktive Kritik zu üben. »Es gibt keinen Grund, Meinungsverschiedenheiten in einer Gesellschaft wie unserer zu fürchten, in der aufgrund ihres Wesens keine antagonistischen Widersprüche bestehen, denn sie basiert nicht auf sozialen Klassen. Aus dem intensiven Austausch abweichender Meinungen entspringen die besten Lösungen, solange dieser durch gesunde Vorsätze gelenkt wird und verantwortungsvolle Kriterien angewandt werden«, fügte er hinzu.(7) (…)

Turbulenzen im Kabinett

Wiederholt forderte Raúl Castro die Führungskräfte in Staat und Partei auf, ihre Arbeit mit größerer Transparenz, höherer Arbeitsmoral und mehr Pflichtgefühl zu erledigen. Ebenso energisch wie er Bürger, Beamte und Funktionäre zur offenen Kritik ermutigte, wandte er sich gegen Schlendrian, Vetternwirtschaft, Illoyalität und Machtmissbrauch im Apparat. (…) »Wir müssen die Lügen in unseren Versammlungen wie einen Feind bekämpfen«, schrieb Raúl Castro bereits 2004 und bekräftigte seine Position, dass »Kriecher und Streber gefährlicher seien als CIA-Agenten«. Klipp und klar kündigte er an: »Es gab und gibt kein Pardon für diejenigen, die ein öffentliches Amt missbrauchen und gegen Gesetze verstoßen.«(8) Wenige Jahre später musste Raúl Castro beweisen, dass er entschlossen war, diese Anforderungen an das Führungspersonal auch in der Praxis konsequent durchzusetzen. Anfang März 2009 wurden – für die Öffentlichkeit überraschend – einige Minister und höhere Funktionäre ihrer Posten enthoben und durch andere ersetzt. Schnell kochten Spekulationen und Gerüchte über die Gründe hoch, zumal sich unter den Ausgewechselten zwei jüngere Regierungsmitglieder befanden, die ausländische Medien bis dahin als »Kronprinzen« gehandelt hatten. Es waren Vizepräsident Carlos Lage Dávila und Außenminister Felipe Pérez Roque, die am 3. März 2009 in Briefen an Raúl Castro ihren Rücktritt von sämtlichen Ämtern erklärt hatten. Ihnen waren Verstöße nachgewiesen worden, die letzten Endes – so lautete der Vorwurf – die Sicherheit des Landes gefährdet hatten. Zum Verhängnis war den beiden unter anderem ihre freundschaftliche Verbindung zu Conrado Hernández, einem hohen Vertreter der kubanischen Wirtschaft, geworden.

Hernández hatte hervorragende Kontakte und setzte seine Beziehungen unter anderem für Millionengeschäfte mit Spanien ein. (…) Im Jahr 2007 filmten kubanische Sicherheitskräfte in Havanna ein Treffen zwischen Hernández und Agenten des spanischen Geheimdienstes »Centro Nacional de Inteligencia« (CNI). So auf ihn aufmerksam geworden, beobachteten kubanische Ermittler, dass Hernández häufig Besuch von Carlos Lage, Felipe Pérez und anderen hohen Funktionären auf seiner Finca in Matanzas hatte. Auf den Partys wurde offen über hohe Regierungsvertreter gelästert und gelegentlich – was zum Hauptvorwurf wurde – auch über vertrauliche Angelegenheiten des Staates gesprochen. Wie die spanische Tageszeitung El País berichtete, war der spanische Geheimdienst CNI zu dieser Zeit bestens über zahlreiche vertrauliche Vorgänge informiert.(9) Hernández wurde am 14. Februar 2009 auf dem Flughafen von Havanna verhaftet. Carlos Lage Dávila und Felipe Pérez Roque traten nach einer Anhörung im Politbüro – auf der sie sich zu den Vorgängen äußerten – von allen ihren Ämtern zurück. (…)

Wirtschaftliche Probleme

Mit Carlos Lage Dávila war – nach Darstellung westlicher Medien – der Hauptverfechter und Architekt einer Umstrukturierung der kubanischen Wirtschaft abgetreten. Doch Lage war zwar ein exponierter und im Ausland zu dieser Zeit der bekannteste, aber nicht der einzige kompetente Vertreter einer Neuausrichtung der kubanischen Ökonomie. Nach zunächst noch beachtlichen Wachstumsraten in den Jahren 2005 und 2006 war den Experten spätestens seit 2007 klar geworden, dass das Land auf einen wirtschaftlichen Kollaps zusteuerte. Trotz positiver Entwicklung in einigen Bereichen, die durch Zuwächse im Tourismus und günstige Lieferverträge für Öl aus Venezuela bedingt waren, überwogen die negativen Einflüsse.

Hurrikans und Dürreperioden verursachten zwischen 1998 und 2008 Verluste in Höhe von 22 Milliarden Dollar, das waren rund zwanzig Prozent des Staatshaushalts. Preisschwankungen auf dem Weltmarkt schmälerten zwischen 1997 und 2009 den Ertrag der von Kuba exportierten Güter um 15 Prozent. Die 2007 beginnende Weltwirtschaftskrise traf Kuba – wie alle Staaten der »dritten Welt« – zudem besonders hart. Die externen Faktoren wurden durch mangelnde Effizienz der eigenen Produktionsanlagen, der Verwaltung, des Dienstleistungssektors und der Landwirtschaft verschärft. Zwischen 1998 und 2007 lagen zum Beispiel zwei der sechseinhalb Millionen Hektar Ackerland brach (…). Allein 2008 mussten knapp zweieinhalb Milliarden Dollar für Importe von Lebensmitteln aufgewendet werden – gut 800 Millionen mehr als im Vorjahr.

Im April 2008 und im Juli 2009 wurde die ernste Lage bei den Plenen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei zum Hauptthema gemacht und eine Kommission beauftragt, die Probleme zu analysieren sowie Vorschläge zu deren Lösung zu entwickeln. (…) Die Vorschläge der Kommission sollten der Bevölkerung präsentiert und breit diskutiert werden, bevor sie im April 2011 dem VI. Parteitag der Kommunistischen Partei zur Beratung und Abstimmung vorgelegt werden sollten, um danach in die parlamentarische Beratung zu gehen. (…) Die Vorschläge zur Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft wurden in weit über 100.000 Versammlungen in Betrieben, Universitäten und Stadtteilen diskutiert. Dabei waren rund 62 Prozent der ursprünglichen Vorschläge verändert worden.

Kritische Analyse

Raúl Castro eröffnete den VI. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas symbolträchtig am 16. April 2011. (…) Damit war klar, dass Fidel nicht wieder für den Parteivorsitz kandidieren würde. Die Wahl Raúl Castros zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas war danach am 19. April 2011 keine wirkliche Überraschung mehr. Bereits zu Beginn des Kongresses hatte Raúl Castro in seinem Rechenschaftsbericht all denen, die auf einen Kurswechsel in Richtung Marktwirtschaft hofften, eine Absage erteilt. (…) Das Ziel aller auf dem Kongress zu diskutierenden Maßnahmen sei die »Verteidigung des Sozialismus und nicht dessen Abschaffung«. Keine Errungenschaft der Revolution würde aufgegeben werden und das sozialistische Prinzip der Planwirtschaft erhalten bleiben. Niemand, erklärte Raúl Castro in Richtung USA und Europa, solle sich der Illusion hingeben, dass die auf dem Parteitag diskutierten Themen und Beschlüsse erste Schritte für eine Rückkehr zum kapitalistischen und neokolonialen Kuba vor der Revolution seien. Dann wurde Castro konkret: Eine Konzentration von Eigentum an Produktionsmitteln in Privatbesitz werde das Land auch in Zukunft nicht dulden.(10)

Den Delegierten des Parteitags wurden die Vorschläge für mehr als 300 »Leitlinien« vorgelegt, die von 2011 bis 2015 umgesetzt werden sollten. Die vorausgegangene Analyse war schonungslos ausgefallen. Neben einer Darstellung der Verluste durch die US-Blockade, Naturkatastrophen und die internationale Wirtschafts- und Finanzkrise standen die selbst verursachten Probleme im Zentrum der Untersuchungen. Danach erbrachten über eine Million Beschäftigte in staatlichen Betrieben und Verwaltungen keinerlei Leistungen, unflexible Betriebsführungen wurden zu Produktivitätskillern, zentralisierte bürokratische Verwaltungen bremsten die Produktion, Vetternwirtschaft und Korruption waren trotz aller Appelle verbreitet und zerstörten die Arbeitsmoral. Auch von der angestrebten Nahrungsmittelsouveränität war das Land weit entfernt. Obwohl die Vergabe von brachliegenden Ackerflächen an Einzelbauren etwas Besserung gebracht hatte, musste ein Großteil der Lebensmittel weiterhin für kostbare Devisen importiert werden. Die Sozialpolitik entspräche noch den Anforderungen aus der Zeit kurz nach dem Sieg der Revolution, hieß es. So würden Sozialleistungen – unabhängig von der Einkommenssituation – nach dem Gießkannenprinzip für alle gewährt. Gut verdienenden Beschäftigten, die auf eigene Rechnung arbeiten (Cuentapropistas) und von Angehörigen aus dem Ausland unterstützten Kubanern würden über die Lebensmittelkarten die gleichen Leistungen zustehen wie wirklich Bedürftigen. Derartige Subventionen, die jeder Bürger – vom Kleinkind bis zum Greis – erhalte, kosteten den Staat pro Person jährlich mehr als 1.000 Dollar.

Nach dreitägigen, oft hitzigen Diskussionen kamen die 997 Delegierten zu dem Ergebnis, dass das seit 50 Jahren bestehende kubanische Gesellschaftsmodell dringend verändert werden müsse (…). Der Parteitag beschloss ein aus 313 Richtlinien bestehendes Paket zur »Aktualisierung« von Wirtschaft und Gesellschaft. Die vereinbarten Ziele (…) bestanden unter anderem darin, einseitige Abhängigkeiten zu reduzieren und die Anbindung Kubas an den Weltmarkt voranzutreiben. Innerhalb des Landes wurden die Anhebung der Einkommen, die Stabilisierung des Lebensstandards sowie die Abschaffung des Systems der Doppelwährung aus dem nationalen »Peso cubano« und des an den Dollar gekoppelten »Peso cubano convertible« als vorrangig betrachtet. Als weitere Ziele wurden Dezentralisierung, stärkere Effizienzorientierung und Abbau des Paternalismus definiert.

Reformen

Unter diesen Prämissen sollten die Maßnahmen nach dem VI. Parteitag – wie es hieß – »mit Bedacht, aber ohne Pause« umgesetzt werden. Der Abbau des Überhangs von rund einer Million Beschäftigten in den Staatsbetrieben sollte so erfolgen, dass möglichst viele der davon Betroffenen Arbeit in anderen Bereichen fänden. Angebote zur Umschulung, Anreize zum Wechsel in den Gesundheits- und Erziehungssektor oder in die Landwirtschaft und die Vergabe von Krediten für »Cuentapropistas« trugen dazu bei, dass dies weitgehend auch gelang.

Ende 2015 waren rund eine halbe Million »Cuentapropistas« registriert. Neben selbständigen Handwerkern wie Tischlern, Maurern, Klempnern und Elektrikern konnten nun auch Sprachlehrer, Übersetzer, Informatiker oder Fotografen ihre Dienstleistungen als Selbständige anbieten. Ein neues Steuersystem sollte Provinzen und Gemeinden Einnahmen bringen, die kommunale Investitionen für die Sanierung von Schulen, Kitas und Polikliniken sowie Straßenreparaturen in eigener Regie ermöglichten. Durch staatliche Kredite und Preissenkungen für Baumaterial setzte ein »Boom« bei der Renovierung privater Häuser und Wohnungen ein. Die traditionelle, aber zuletzt wenig erfolgreiche Zuckerindustrie wurde mit Investitionen in Höhe von zehn Millionen Dollar modernisiert. Neben den Rohstoffen Nickel und Kobalt wurde Erdöl aus Venezuela und dessen Verarbeitung zu einem Standbein der kubanischen Wirtschaft. Produktion und Export von Arzneimitteln wie insgesamt die Exportorientierung der Wirtschaft wurden weiter verstärkt, während Importe zurückgefahren werden konnten. Als wichtige Faktoren der Wirtschaft wurden –neben den auf Kosten Kubas fortgeführten internationalen Einsätzen von Ärzten, Pädagogen und anderen Fachkräften in der »dritten Welt« – das Angebot bezahlter ärztlicher Dienstleistungen in medizinisch unterversorgten Ländern sowie der Tourismussektor ausgebaut. Im Januar 2014 weihten Kubas Präsident Raúl Castro und die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff in der westlich von Havanna gelegenen Bucht von Mariel den mit brasilianischen Krediten gebauten größten Containerhafen der Karibik ein, der später zum Umschlagszentrum für die gesamte Region ausgebaut werden soll. Zugleich wurde der erste Abschnitt der dort errichteten Sonderwirtschaftszone seiner Bestimmung übergeben. Im März 2014 verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz über Auslandsinvestitionen, um die Voraussetzungen für ausländische Investitionen in nahezu allen Bereichen der Wirtschaft zu schaffen. Die Führung des Landes erhoffte sich von den Regelungen einen Zustrom ausländischen Kapitals und den Zugang zu neuen Märkten. (…)

Außer in der Wirtschaft fanden auch in nahezu allen anderen Bereichen der Gesellschaft Veränderungen statt, die in der Bevölkerung überwiegend positiv aufgenommen und oft zu Recht auf Raúl Castros zupackende Herangehensweise zurückgeführt wurden. Seit 2008 sind Mopeds, Mobiltelefone, Computer, DVD-Player und andere – vorher legal kaum aufzutreibende – Produkte der Unterhaltungselektronik frei erhältlich. Kubanerinnen und Kubaner konnten in den – bis dahin nur für ausländische Besucher zugänglichen – Hotels übernachten und Urlaub machen. Auch der Zugang zum Internet wurde – trotz der durch die US-Blockade bestehenden Einschränkungen – langsam ausgebaut, zunächst in Hotels, später folgten Internetcafés, und seit einiger Zeit gibt es im ganzen Land Wifi-Hotspots.

Am 14. Januar 2013 traten neue Reiseregelungen in Kraft, denen zufolge kubanische Bürger für Auslandsreisen nur noch einen Reisepass und das Visum des Ziellandes benötigen. Danach folgten erste kleine Schritte zur Anhebung der Renten und des im internationalen Vergleich noch immer äußerst niedrigen Lohnniveaus. Im Jahr 2014 stiegen die Einkommen im Schnitt um gut neun Prozent, allerdings war diese Zahl vor allem auf überdurchschnittliche Entgelterhöhungen für die Beschäftigten im Gesundheitswesen und im Sportbereich zurückzuführen. Gewerkschafter und Wirtschaftspolitiker forderten entsprechende Einkommenssteigerungen auch in anderen Sektoren. Die Ökonomen wiesen aber darauf hin, dass dies eine Erhöhung der Produktivität in allen Bereichen voraussetzen würde. »Um Reichtum zu verteilen, muss er erst einmal geschaffen werden«, erklärte Raúl Castro im Februar 2014 auf dem Kongress des kubanischen Gewerkschaftsdachverbandes Central de Trabajadores de Cuba. (…)

Nach der erfolgreichen ersten Amtsperiode war Raúl Castros erneute Kandidatur und Wiederwahl als Präsident Kubas im Februar 2013 fast ein Selbstläufer. (…) Erwartungsgemäß wurde Raúl Castro als Vorsitzender des Staats- und Ministerrats bestätigt. (…)

Nach seiner Wiederwahl erklärte der neue und alte Präsident Raúl Castro: Kubas Gesellschaft werde den Bürgern künftig etwas weniger Gleichmacherei, aber mehr Gerechtigkeit bieten. Dies werde allerdings nicht zu einer Änderung des politischen Kurses führen, versicherte er. »Ich bin nicht gewählt worden, um den Kapitalismus in Kuba zu restaurieren und auch nicht, um die Revolution aufzugeben. Ich wurde gewählt, um unseren Sozialismus zu verteidigen, zu erhalten und weiterzuentwickeln und nicht, um ihn zu zerstören«, betonte der Staatschef. (…)

Anmerkungen: 1) Nikolai S. Leonow: Raúl Castro – Un hombre en Revolución, Havanna 2015, S. 293
2) http://www.economist.com/node/21550418
3) http://www.cuba.cu/gobierno/discursos/2007/ale/ f171207a.html
4) http://www.cuba.cu/gobierno/discursos/2008/ale/ f180208a.html
5) Ignacio Ramonet: Fidel Castro – Mein Leben, Berlin 2008, S. 675 f.
6) http://www.cubafreundschaft.de/Fidel-Reden%20(2)%20ab%2001-2007/RAUL,%202008,%2002%20-%2024.pdf
7) Ebd.
8) El pensamiento de Raúl Castro Ruz en la política de cuadros del estado cubano, http://www.sld.cu/galerias/doc/sitios/infodir/b4_raul_castro_ruz_en_la_politica_de_cuadros_10.doc
9) http://elpais.com/diario/2009/06/28/ internacional/1246140001_850215.html
10) http://www.cuba.cu/gobierno/reflexiones/2011/ale/f170411a.html

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

Veröffentlichung
mit freundlicher Genehmigung von

junge Welt

Volker Hermsdorf
Junge Welt, 12.10.2016