Die Revolution, ihre Musik und die Zukunft: Die neue M&R beschäftigt sich mit Kuba.
Blutpumpe, Segunda, High-Pitch-Drum: Congas in Havanna |
Der Volkstanz beginnt mit Gegenschlagstöckchen, den Claves: drei Schläge im ersten Takt, zwei Schläge im zweiten. Die tiefen Töne der großen Conga (Tumba) setzen ein. Die Blutpumpe des Liedes. Es folgen eine kleinere Conga mit mehr Freiheit, die Segunda, und eine noch kleinere dieser kubanischen Trommeln, die Quinto. Sie wird später, völlig ungebunden, auf die Tänzer reagieren. Aber zunächst wird der Gesang zugeschaltet. Der Solist kommt von Nonsenssilben auf die vom Chor zu wiederholende Zeile – und Bamm! Auftritt der Tänzer in klaren Rollen: Hahn und Henne. Er scharrt, plustert sich auf, schlägt mit den Flügeln. Und wenn es der Hüftschwung ihm eingibt, zielen seine Lenden überfallartig auf ihren Schoß. Die Attacken werden von ihr eine Zeit lang abgewehrt, indem sie den Rocksaum mit den Händen durch die Luft wirft oder sich abwendet. Das Ende kann man sich denken. Guaguancó heißt der Volkstanz, eine afrokubanische Rumba.
Kein Flamenco
Einiges spricht dafür, dass Nachfahren kongolesischer Sklaven ihn bei der Beschäftigung mit einem Genre ihrer Kolonialherren entwickelten, dem Flamenco, den sie verballhornten (Tierpantomime) und gleichzeitig weiterentwickelten, vor allem rhythmisch. »Die Afrikaner, die nach Kuba gebracht wurden, hatten ihren Kontakt zum Mutterland vollständig verloren«, sagt Olavo Alén Rodriguez in der neuen M&R, die den Schwerpunkt Kuba hat. »Egal, ob sie Bantú, Yoruba, Arara waren, egal, woher sie stammten – sie würden nie mehr etwas über die Entwicklung ihrer Musikkultur in Afrika erfahren.« Neues im Bewahrenswerten aufzuheben war das einzige, was ihnen übrigblieb, während die Europäer sich auch in Kuba weiter am Flamenco-Markt ihrer »Alten Welt« orientierten, erklärt der Pianist und Musikwissenschaftler: »Deswegen gibt es keinen kubanischen Flamenco.«
Olavo Alén Rodriguez wurde 1947 in Havanna geboren, hat dort ab 1969 studiert und könnte die M&R noch als Melodie und Rhythmus in der Hand gehabt haben. 1977 gewann er den Humboldt-Preis der Berliner Universität, »danach zahlte die DDR meine Promotion«. Jahrzehntelang leitete er ein Zentrum zur Erforschung und Entwicklung kubanischer Musik in Havanna. Zuletzt erschien von ihm ein Buch mit dem leicht erschließbaren Titel »Occidentalización de las culturas musicales africanas en el Caribe«.
In der Erde
Grundverschiedene Hörgewohnheiten von Europäern und Afrikanern führt Rodriguez im Gespräch mit M&R auf so etwas wie eine religiöse Vertikale zurück. »Auf die Frage, wo Gott ist, zeigen Europäer nach oben, Afrikaner sagen: in der Erde. Mutter Erde ist Gott. Alles Gute kommt von unten, ist die afrikanische Einstellung. Sie gilt auch für die Musik.« Während Europäer Schwierigkeiten hätten, Improvisationen in den tieferen Tonlagen wahrzunehmen, kämen Afrikanern Mozart-Sonaten langweilig vor. »Auf die höheren Töne wird nicht geachtet. In der Afromusik findet alles Wichtige in den tiefen statt.« Für die eingangs erwähnte Quinto allerdings sei Gott oben. »Sie ist eine High-Pitch-Drum und wird wie ein Piano benutzt.« Die Rumba sei eben »weder europäisch noch afrikanisch, sondern kubanisch«.
Und so kann der Kammermusik kaum Besseres passieren, als dass sich ein Kubaner ihrer annimmt, wie auf der CD, die M&R beiliegt, zwei Stücke von Javier Zalba beweisen. Frei improvisierte Sonaten für Piano und Saxophon. Zalba hat das Jazzen von der Pike auf gelernt, wie er im Heft erklärt. Jahrzehntelang transkribierte er nach dem Studium in Ermangelung von Notenbüchern »die Soli der größten Jazzer«, bis er den Flow hatte. Die Gefahr einer »Hollywoodisierung« der kubanischen Musik besteht, räumt er ein. Beispielsweise sei der Rhythmus der Timba als Soße – Salsa – in die Charts gekübelt worden. Das sei aber wegen der Unkorrumpierbarkeit vieler Musiker kein Grund zur Sorge.
Die einzigartige Anverwandlung der Stile in Kuba hat eine soziale Grundlage, die sozialistische Gesellschaft mit ihren Musikschulen, der Massenproduktion von Instrumenten, einer »Bewegung der Amateure«, den Festivals. Unvergessen das »1. Internationale Treffen des Protestliedes« (Nueva Trova) im Juli 1967 in Havanna mit Liedermachern aus 16 Ländern. Vorneweg der Kubaner Silvio Rodríguez, Star der Nueva Trova, über den schon diese Zeitung in der DDR begeistert berichtete (vgl. etwa »Mit Gesang zum Kampf« und »Botschafter des neuen Liedes in Berlin« in junge Welt vom 11.2.1979). Auf der M&R-CD ist Rodríguez mit einem Lied von 1992 vertreten, »El necio«. Singer-Songwriter-Kollege Frank Viehweg zitiert im Heft seine eigene Nachdichtung: »›Sie laden mich ein, mein Leben zu bereuen / Bis ich nicht mehr genau weiß, wie ich heiße / Sie laden mich ein, die Skrupel zu zerstreuen / Sie laden mich ein zu soviel Dreck und Scheiße.‹ ›El necio‹ gehört zu den Liedern, die ich gern selbst geschrieben hätte.«
Rap ist kubanisch
Nicht überall im Kuba der »Período especial«, der ökonomisch äußerst heiklen Zeit nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, war es so weit her mit dem Stil- und Klassenbewusstsein. Die Jugend entdeckte den Sprechgesang, reimte Dreck auf Scheiße zu flacher Hintergrundmusik aus Nordamerika, schon weil sie selbst keine zu produzieren vermochte. Für zensorische Gegenmaßnahmen war die Kulturpolitik zu ausgefuchst, wie man im Heft erfährt. Als Harry Belafonte bei einem Abendessen das erste Mal mit Fidel Castro und dem langjährigen Kulturminister Abel Prieto über HipHop sprach, waren diese erstaunlich gut informiert, erinnerte sich Belafonte, dessen Produktion »Beat Street« (1984) auch in Kuba ein Kinohit gewesen war, im Jahr 2003. Ein paar Jahre nach jenem Abendessen hätten sich Musiker aus der Szene bei ihm dafür bedankt, dass »der HipHop eine eigene Abteilung im Ministerium erhalten« hatte und sie ihr »eigenes Studio«.
An anderer Stelle ist M&R zu entnehmen, dass Prieto Rap 2001 zum »authentischen kubanischen Musikstil« deklarierte. Und noch woanders steht, was der Kulturminister 2008 zur Begründung dieser administrativen Maßnahme anführte: Die Revolution könne sich »keinesfalls erlauben«, dass die Jugend von ihr und ihrem Anspruch gelangweilt werde und »statt dessen die Yankee-Musik als modern und attraktiv empfindet«.
Unter diesen Verhältnissen konnte es zu Rap-Alben (z. B. von den Orishas) kommen, die die Timba (statt der Salsa), die Guajira und traditionelle Volksgesänge zur Grundlage haben. »Sogar HipHop wird in Kuba kubanisch«, triumphiert der Musikologe Olavo Alén Rodriguez, und erläutert den richtigen Umgang mit jugendlicher »Entsittlichung« anhand des Reggaetón, einem Mix aus Reggae, Dancehall, HipHop und der notorischen Salsa. »Heutzutage ist der stärkste Reggaetón in der Welt der kubanische«, meint Rodriguez. Dennoch werde er regelmäßig von Studenten auf das »Problem Reggaetón« angesprochen: Ob sie die »schlechten Manieren« meinen würden, frage er zurück, oder die »starke Umgangssprache«, und überhaupt: »Wieso ›Problem Reggaetón‹? Wenn Sie Fieber haben, zum Arzt müssen, vorher 40 Grad messen: Wie lösen Sie das Problem? Zerstören Sie das Thermometer?«
Was die Menschen in den kubanischen Kulturinstitutionen jetzt, da die ausländischen Firmen Schlange stehen, dringend lernen müssen, ist das internationale Urheberrecht, damit die Musiker auf Kuba auch weiterhin über ihre Musik verfügen können, sagt die Anwältin Darsi Fernández Maceira. Es geht auch ohne Mehrheiten, wie man von Fidel Castro weiß (»Einen Guerillakrieg kann man mit nur fünf Prozent Unterstützung durch die Bevölkerung führen«). Aber so kann der Kampf um die kulturelle Hegemonie angenommen werden: mit der afrokubanischen Musikinternationale.
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Alexander Reich
Junge Welt, 01.07.2016