Reise mit Hindernissen: Die erste US-Tournee des Dokumentarfilms »Die Kraft der Schwachen« über den Kubaner Jorge Jeréz setzte Impulse.
Erfolgreicher Abschluss der Tournee: Nach der letzten Veranstaltung am 25. April 2016 feierten Filmemacher Tobias Kriele (2.v.l.) und Jorgito (m.) mit New Yorker Krankenpflegergewerkschaftern |
Come Meet Jorgito!« Die Aufforderung, durchaus auch als Versprechen gemeint, prangt in großer Schrift auf dem Plakat, mit dem die in Brooklyn ansässige alternative Medienorganisation Women’s Press Collective (WPC) die erste US-Tournee des Dokumentarfilms »Die Kraft der Schwachen« bewirbt. Der 2014 von Tobias Kriele (Regie) und Martin Broschwitz (Kamera) fertiggestellte und in zahlreichen Städten Europas gezeigte Film über den von Geburt an schwer behinderten Jorge »Jorgito« Enrique Jeréz Belisario aus Kuba dokumentiert seine umfassende Förderung durch das dortige Gesundheits- und Bildungssystem. Aus Gesprächen mit Jorgito, seinen Freunden und Angehörigen, mit Ärzten und Lehrern wird deutlich, wie die soziale Integration behinderter Menschen in die kubanische Gesellschaft erfolgreich gestaltet wird. Der Film berichtet auch von seinem Kampf für die Freiheit der Cuban Five. Im April 2016 ging diese Doku in einer aktualisierten Version auf Tournee in die USA, wo sie in Anwesenheit von Tobias Kriele, aber auch des Protagonisten gezeigt werden sollte. Neben den von WPC in der Stadt New York organisierten Veranstaltungen waren Vorführungen im Rahmen der vom Internationalen Komitee für Frieden, Gerechtigkeit und Würde (International Committee for Peace, Justice and Dignity) durchgeführten »Zweiten Aktionstage gegen die Blockade« (also das seit 1959 geltende Wirtschafts-, Handels- und Finanzembargo der US-Regierung gegen das sozialistische Kuba) in der Hauptstadt Washington geplant. Sobald der zeitliche und geographische Rahmen der Tournee abgesteckt war, reichte der kubanische Behindertenverband ACLIFIM (Asociación Cubana de Limitados Físico-Motores) bei der US-Botschaft in Havanna den Antrag auf ein Einreisevisum in die USA für Jorgito ein.
Am 17. Dezember 2014 hatten die Präsidenten Kubas und der USA in gleichzeitigen Fernsehansprachen der Weltöffentlichkeit den Beginn eines neuen Kapitels in der Geschichte der Beziehungen ihrer beiden Staaten angekündigt.
Für Jorgito und die meisten Kubaner war der 17. Dezember 2014 auch aus einem anderen Grund ein spezieller Freudentag. An diesem Tag – knapp zehn Tage nach der letzten Veranstaltung der Deutschlandtournee von »Die Kraft der Schwachen« – kehrten die unrechtmässig in US-amerikanischen Hochsicherheitsgefängnissen eingekerkerten kubanischen antiterroristischen Kämpfer Gerardo Hernández, Ramón Labañino und Antonio Guerrero in ihre Heimat zurück. Damit war Krieles Film über Nacht auf erfreuliche Art praktisch überholt. Vieles deutete seither darauf hin, dass der Zeitpunkt für einen kulturellen Austausch mit persönlichen Begegnungen zwischen den beiden Völkern auf US-amerikanischem Boden gekommen war. Barack Obama und Raúl Castro hatten sich die Hand gegeben, bald darauf wurden die Flaggen über den jeweiligen Botschaften in Washington D.C. und Havanna gehisst. Spitzenpolitiker und Vertreter von Wirtschaftsverbänden standen vor dem Palast der Revolution in Havanna, dem Sitz der Staats- und Parteispitze, Schlange und das US-Finanzministerium verteilte großzügig Reisebewilligungen für Kuba an US-Bürger. Im März 2016 reiste Präsident Barack Obama sogar persönlich zu einem offiziellen Besuch in die kubanische Hauptstadt, wo er den Willen zur völligen Normalisierung der Beziehungen seines Landes zum kubanischen Nachbarn bekräftigte.
Auf gepackten Koffern
Nach dem Film eine Partie Schach: Jorgito zu Gast in der Senioren-Begegnungsstätte »The Center at Red Oak« im New Yorker Stadtteil Harlem |
Im April 2016 war es für Filmemacher Tobias Kriele endlich soweit. Für die erste US-Tournee von »Die Kraft der Schwachen« konnte er nach New York aufbrechen. Auch Jorgitos Koffer waren für die bevorstehende Reise in die USA gepackt. Dass sein Visum erst auf sanften diplomatischen Druck hin und mit einer Woche Verspätung eintreffen sollte, entlarvte das von Obama bei seiner Rede am 22. März 2016 im Gran Teatro de La Habana abgegebene Versprechen, sein Land werde sich nicht mehr in die Zukunft Kubas einmischen, als großes Theater.
Bereits Wochen vor der geplante Tournee hatte sich Jorgito zu einer Befragung in der US-Botschaft in Havanna einfinden müssen. Als das Datum der New York-Premiere näher rückte, reisten er und seine Familie erneut die 565 km von ihrem Wohnort Camaguëy in die Hauptstadt, damit Jorgito bei einem positiven Visumsentscheid sofort den nächsten Flieger in die USA besteigen konnte. Zweimal täglich klopfte ein Vertreter des kubanischen Außenministeriums bei der US-Botschaft an. Jedes Mal hieß es, der Entscheid sei noch ausstehend. Als das Visum mit einer Woche Verspätung schließlich eintraf, hatte Jorgito die New Yorker Veranstaltungen bereits verpasst. Er flog nun statt dessen nach Washington D.C., wo er zwei Stunden vor der ersten Filmvorführung eintraf.
In New York hatte sich das Publikum vorerst mit einer virtuellen Begegnung mit Jorgito begnügen müssen. Während dieser in Havanna auf sein Visum wartete, nahmen die Veranstalterinnen von WPC und Filmemacher Tobias Kriele die Situation zum Anlass, um mit den Besuchern der Filmvorführungen die Widersprüche in der US-Außenpolitik sowie die Medienberichterstattung zu Kuba kritisch zu beleuchten. Dank ihrer breiten Verankerung in der Bevölkerung war es WPC gelungen, zahlreiche Menschen außerhalb der Kuba-Solidaritätsgruppen und mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund zu interessieren, darunter etliche ebenfalls behinderte Menschen. Im Publikum saßen viele beruflich im Gesundheits-, Pflege- und Behindertenbereich oder im Bildungswesen Tätige. Angehörige des Personals von Krankenhäusern waren vertreten, ebenso wie Angestellte in anderen Dienstleistungsbereichen mit Niedriglöhnen, zudem Betriebsräte, Medienschaffende, Kirchenmitglieder sowie Vertreter von Wohnortvereinen, Jugend-, Behinderten- und Mietrechtsorganisationen. Viele von ihnen erleben im Alltag die katastrophalen Folgen der Privatisierungspolitik im US-amerikanischen Gesundheits- und Bildungswesen.
Die Nachricht des verschleppten Visums löste beim Publikum Unverständnis aus. In den anschließend an den Film geführten Diskussionen wurde jedoch deutlich, dass Jorgitos Charisma auch über die Leinwand bei den Zuschauern Sympathie und Bewunderung auslöste. Anwesende bedankten sich beim Filmemacher dafür, ihnen eine neue Sicht auf Kuba näher gebracht zu haben. »Uns wird immer nur die US-amerikanische Sicht auf Kuba gezeigt, nie die Sicht der Kubanerinnen und Kubaner selber.« Einen bleibenden Eindruck hinterließ der hohe Stellenwert der Hinwendung zum einzelnen im kubanischen Gesundheitssystem und der Gesellschaft dort allgemein. Überhaupt entsprach das Bild, das die Besucher aus der Mainstreampresse in den USA über die Insel und ihre Bewohner kannten, so gar nicht dem, was sie im Film gesehen hatten. Ein Besucher meinte, ihnen werde immerzu erzählt, alle Kubaner wollten ihr Land so rasch wie möglich verlassen. »Der Film vermittelt einen ganz anderen Eindruck. Die Menschen sind zufrieden mit ihrem Leben und ihrem Land.« Nicht zuletzt wurden durch Jorgitos Geschichte auch die zum Teil katastrophalen gesellschaftlichen Zustände im US-befreundeten nahen kapitalistischen Ausland reflektiert. Eine Besucherin berichtete, in ihrer ursprünglichen Heimat Haiti lebten Kinder wie Jorgito auf der Straße oder seien von Geburt an dem Tod geweiht. Dass die US-Botschaft Jorgitos Visum absichtlich verschleppte, stand für sie außer Frage: »Jorgito erhält kein Visum für die USA, weil unsere Regierung nicht will, dass wir sehen, was kostenlose Gesundheitsversorgung für die Menschen bedeuten kann.«
Unter Freunden: Angeregte Debatte mit Jorgito im Brooklyn Commons, dem Sitz des Women’s Press Collective (New York, 23.04.2016) |
Großes Interesse
Als bekannt wurde, dass Jorgito sein Visum endlich doch erhalten hatte, mobilisierte WPC innerhalb kürzester Zeit noch einmal alle diejenigen, die den Film bereits gesehen oder bei der Organisation der ersten Veranstaltungen in New York mitgeholfen hatten. Innerhalb weniger Tage wurden drei zusätzliche Veranstaltungen organisiert. Die Nachricht von Jorgitos Kommen löste eine regelrechte Fanbewegung aus. Die Leute brachten ihre Freunde, Bekannten und Verwandten mit. Ein Altenheim zeigte den Film in einer Matinee. Nach dem gemeinsamen Mittagessen wurde Jorgito von einer Bewohnerin zu einer Partie Schach herausgefordert. Eine weitere Filmvorführung fand im Sitz der Gewerkschaft der Krankenpfleger (New York State Nurses Association, NYSNA) statt.
Überall wurde Jorgito ein triumphaler Empfang bereitet. Dem US-Publikum gegenüber betonte dieser stets, sein Land sei weiterhin an einer Normalisierung der Beziehungen interessiert. Eine solche müsse jedoch auf Gegenseitigkeit beruhen. Bereits drei Tage nach Jorgitos Abreise aus Kuba zeigte sich einmal mehr, dass die Realität eine andere ist. Entgegen der Zusicherung, sein Land werde sich nicht mehr in die Zukunft Kubas einmischen, unterzeichnete US-Präsident Obama ein 750.000 Dollar teures Programm seines Außenministeriums, mit dem »vielversprechende junge Führer der kubanischen Zivilgesellschaft« in die USA eingeladen und darin geschult werden sollen, Organisationen zu bilden und zu leiten, »welche die demokratischen Prinzipien in Kuba aktiv unterstützen werden.«, wie Granma International berichtete. Außer Frage steht, dass sich diese Einladung nicht an junge Kubaner richtet, die hinter ihrem Land und seiner Revolution stehen. »Ohne Kuba und seine Geschichte wäre ich nicht Jorgito.« Durch den persönlichen Austausch mit Jorgito wurde dem US-Publikum die Tragweite dieser Aussage im Film erst richtig bewusst. Entsprechend würdigten Besucher den Kampf des kubanischen Volkes für eine menschenwürdige Gesellschaft und verurteilten die andauernde US-Blockade. Eine Zuschauerin forderte, Krieles Film müsse den Verantwortlichen in Washington gezeigt werden.
Die Begegnung mit Jorgito verändert, das zeigte sich auch in den USA. Rund 600 Personen besuchten die insgesamt elf Veranstaltungen der ersten US-Tournee von »Die Kraft der Schwachen«. Etwa 370 kamen allein in New York. Der begnadete Redner Jorgito eroberte die Herzen und die Köpfe. Dadurch setzte ein regelrechter Dominoeffekt ein. Etliche der Besucher wollen nun bei der Verbreitung des Films in den USA helfen. So plant eine Studentengruppe, den Film als Anlass für Diskussionen zum Fall der Cuban Five an ihrer Hochschule zu nutzen. Das Zentrum für Studierende mit Behinderung eines öffentlichen Colleges sowie eine Professorin für Lateinamerikastudien an einer privaten Hochschule planen Filmvorführungen im Herbstsemester. Auch kirchliche Organisationen und Bürgervereine planen solche Veranstaltungen. Die breite Aufklärungsarbeit von WPC trägt Früchte.
Gegen den Strom
Keine Einbahnstraße: Drei Tage nach Jorgitos Auftritt im Gewerkschaftslokal der New Yorker Krankenpfleger am 25. April 2016 entsandte die NYSNA eine Delegation nach Kuba |
Als unabhängige Basisorganisation arbeitet WPC bereits seit über 30 Jahren dafür, der arbeitenden Bevölkerung und von Armut betroffenen Menschen im Raum New York mit ihren Publikationen eine Stimme zu geben. Sie bietet ihren Mitgliedern die Möglichkeit, sich kostenlos Kompetenzen zur Herstellung alternativer Medien anzueignen, und stellt die dafür notwendigen Ressourcen zur Verfügung. Medienschaffende unterrichten ehrenamtlich Journalismus und Grafikdesign. Die Mitglieder lernen, die Druckerpressen zu bedienen, die der Organisation von Druckereien gespendet werden, die aufgrund des Konkurrenzdruckes in der Branche ihren Betrieb aufgeben mussten. WPC selbst gibt die vierteljährliche Zeitschrift Collective Endeavor (Gemeinsamer Versuch) zu sozialen Themen, unter besonderer Berücksichtigung der Lage der Frauen, heraus. Neben lokalen werden auch Probleme auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene abgedeckt. Die Zeitschrift hat es sich zudem zur Aufgabe gemacht, ein Bild der Länder Lateinamerikas mit progressiven Regierungen zu vermitteln, das der verzerrten Berichterstattung der Konzernmedien etwas entgegensetzt. WPC-Redaktionsleiterin Lisa Daniell betont die Wichtigkeit dieser Aufgabe: »Die Menschen in den USA haben ein Recht darauf zu wissen, dass eine gerechte Gesellschaft möglich ist.«
Für WPC war die US-Tournee von »Die Kraft der Schwachen« eine von zahlreichen Aktivitäten im Rahmen ihrer Arbeit für internationale Solidarität und Freundschaft zwischen den Völkern. Anfang Juli werden zwei Vertreterinnen der Organisation als Teil einer Delegation zusammen mit Jorgito Jeréz und seiner Schwester Amanda an Veranstaltungen auf dem UZ-Pressefest, dem Volksfest der DKP-Wochenzeitung, in Dortmund teilnehmen (1. bis 3. Juli, Revierpark Wischlingen, Programm siehe: http://pressefest.unsere-zeit.de). Auch im Zelt von junge Welt werden sie anzutreffen sein. Weitere Auftritte sind in der ersten Juli-Woche in der Schweiz geplant, so gibt es am 5. Juli in Zürich eine Podiumsdiskussion zum Thema »Armut und soziale Rechte: Schweiz, USA und Kuba« und am 6. Juli eine Vorführung von »Die Kraft der Schwachen« im Beisein von Jorgito im Kino Sputnik in Liestal bei Basel.
Veröffentlichung |
Natalie Benelli
Junge Welt, 11.06.2016