Kein vorzeitiger Abgesang

Niederlagen, Proteste, ökonomische Probleme: Ist Lateinamerikas Linke schon am Ende?

Das linke Projekt in Lateinamerika ist noch nicht verbraucht, aber es bedarf dringender Korrekturen. Ohne sie steht die Linke in der Region aufgrund eigener Fehler in großer Gefahr, sich selbst abzuschaffen.


Die Niederlage von Daniel Scioli, dem Kandidaten von Argentiniens Präsidentin Cristina Kirchner im November 2015, und der Erfolg des konservativen Mauricio Macri, der Erdrutschsieg der venezolanischen Opposition bei den Wahlen im Dezember 2015 sowie das für Präsident Evo Morales im Februar 2016 negativ verlaufene Referendum über eine Verfassungsänderung, die ihm eine erneute Wiederwahl eröffnen sollte, stehen als Glieder einer Kette von Wahlentscheidungen, die ein Ende linker Vorherrschaft in der Politik Lateinamerikas ankündigen.

Der vom verstorbenen Präsidenten Venezuelas Hugo Chávez ausgerufene »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« scheint an sein Ende zu gelangen. Es schwindet die soziale Akzeptanz, zumindest was die Re-Legitimierung durch Wahlen angeht. Der Rekurs auf Ideologeme wie »das gute Leben« (buen vivir) oder die »endogene Entwicklung«, die sich von den konjunkturellen Zyklen der kapitalistischen Wirtschaft unabhängig machen wollten, verfangen an den Wahlurnen immer weniger; die Wirtschaftskrise hat mit dem Ende des Rohstoffbooms in den Ressourcenökonomien wieder Einzug gehalten und verunsichert die Wählerschaft.

Dieses Bild verdichtet sich auch jenseits der Ermüdung der Wähler mit linken Präsidenten: Das angelaufene Amtsenthebungsverfahren gegen Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff weist auf die Verstrickung der Arbeiterpartei PT und ihrer Führer in Korruption großen Ausmaßes hin. Und selbst in dem Kronjuwel linker Projektionen, dem Kuba der Castro-Brüder, deuten sich mit der Entspannung der Beziehung zu den USA seit Dezember 2014 Tendenzen an, die auf eine Einbeziehung des Revolutionsregimes in die kapitalistische Weltwirtschaft hindeuten.

Steht Lateinamerika vor dem Ende der Dominanz linker Regierungen? Tritt eine Pendelbewegung ein, die wieder stärker in Richtung konservativer Kräfte weist? Schnell sind die Urteile gefällt, dass die »rosa Welle« ausgelaufen sei. Sie hatte seit 2003 linke Regierungen an die Macht gespült, die in Wahlen bestätigt wurden. Doch nun ist deren Akzeptanz gebrochen, die Wählerschaft wendet sich ab und sucht neue politische Optionen.

Doch ein generelles Ende des linken Projektes in Lateinamerika ist damit nicht besiegelt, ein Abgesang verfrüht: In Bolivien, Chile, Ecuador und Uruguay sind weiterhin Präsidenten verschiedener linker Ausrichtung im Amt. Das linke Projekt in der Region ist noch nicht verbraucht, aber es bedarf dringender Korrekturen. Ohne Umsteuerung steht die Linke Lateinamerikas aufgrund eigener Fehler in großer Gefahr, sich selbst abzuschaffen.

Gründe des Niedergangs

Der Einbruch in der Wählergunst ist ein Alarmzeichen für die linken Regierungen und verweist zunächst auf alte Fehler. Da ist zum einen die Selbsttäuschung, mobilisierte Massen auf der Straße für eigene Mehrheiten zu halten. Zum anderen mangelt es an Erneuerungsfähigkeit. Dies gilt in personeller Hinsicht, da alle linken Präsidenten - soweit sie dafür die Mehrheiten mobilisieren konnten - durch Verfassungsänderungen eine Wiederwahlmöglichkeit einführten und so personelle Kontinuität als Garantie für das politische Projekt ausgaben. Nach Venezuela hat Nicaragua als zweites Land der Region die unbegrenzte Wiederwahlmöglichkeit im Präsidentenamt eingeführt.

Auch externe Faktoren spielen eine Rolle. Seit 2003 stand Lateinamerika für Wachstum, Reduzierung der Armut und Einkommensumverteilung, während sich in anderen Weltregionen wirtschaftliche Krisen zuspitzten. Der Ressourcenboom, insbesondere die Nachfrage Chinas, garantierte hohe Staatseinnahmen, mit denen Sozialprogramme und die Subventionierung staatlicher Dienstleistungen finanziert wurden. Nicht zuletzt ist der viel gerühmte Aufstieg der Mittelklassen in Südamerika ein Symptom dieses tief greifenden Wandels. Hohe Weltmarktpreise und eine führende Rolle von Staatsunternehmen gingen bei diesem Wachstumsmodell Hand in Hand.

Doch die Nachhaltigkeit dieser Entwicklung ist fraglich. Viele strukturelle Probleme wie die Mängel in den Bildungssystemen, unzureichende Gesundheitsversorgung sowie der mangelnde Ausbau der öffentlichen Infrastruktur blieben ungelöst. Heute stehen deutlich gefallene Rohstofferlöse und damit rückläufige Wachstumsraten, steigende Inflation, Korruption und soziale Unzufriedenheit auf der politischen Tagesordnung. So hat die Wirtschaftsflaute den Expansionskurs der lateinamerikanischen Ökonomien massiv getroffen, in vielen Ländern de facto abgebrochen. Die Preise für Erdöl und -gas sind gefallen, die chinesische Nachfrage nach Eisenerz, Kupfer und Soja hat sich abgeflacht. Damit sind für die auf Rohstoffexporte ausgerichteten Ökonomien die Einnahmen drastisch geschrumpft und die Staatshaushalte nicht mehr in der Lage, Sozialleistungen und Investitionen zu finanzieren.

Nur wenige Länder haben Vorsorge gegen diese Schwankungen getroffen, die große Mehrheit der linken Regierungen hat im Boom die finanziellen Ressourcen eingesetzt, um Sozialprogramme aufzulegen und staatliche Leistungen auszuweiten. Ein Beispiel dafür sind die Misiones Sociales (Sozialprogramme), die von der Regierung von Präsident Hugo Chávez direkt beim nationalen Ölkonzern PdVSA angesiedelt wurden und damit außerhalb der öffentlichen Haushalte arbeiten. Die lateinamerikanischen Rohstoffökonomien sind damit erneut in die Ressourcenfalle geraten und haben es verpasst, in die Neuaufstellung ihres Landes in Bezug auf technologische Innovation und höheres Bildungsniveau zu investieren.

Schließlich haben die langen Regierungsjahre eine Selbstbedienungsmentalität gefördert, bei der die Grenzen zwischen persönlichem Gewinnstreben, Parteiinteressen und staatlichen Unternehmen ins Rutschen geraten sind. In vielen Ländern wird »die Linke« heute mit Korruption gleichgesetzt. Diesen Makel werden die politischen Organisationen des linken Spektrums nicht so schnell abstreifen können; er wird auch die anstehende personelle und programmatische Erneuerung belasten.

Nicht Gegner, die Linke besiegt sich selbst

Wie Argentinien, Venezuela, Bolivien, aber auch Brasilien zeigen, ist die Linke nicht angesichts der Stärke ihrer Gegner im Niedergang. Die Gegenspieler sind jeweils breite Sammlungsbewegungen von Parteien und außerparlamentarischen Kräften, die wenig gemeinsame Substanz aufweisen, weder in organisatorischer noch in programmatischer Hinsicht. Es eint sie die Ablehnung der linken Regierungen. Bei der Bestimmung eines positiven Programms treten die inneren Divergenzen schnell zutage. Die Linke ist weniger an der Stärke ihrer Opponenten als an ihren eigenen Schwächen gescheitert, wie der Unfähigkeit zur Korruptionskontrolle in den eigenen Reihen, an einem übersteigerten Personalismus ihrer Führungsfiguren und an der Realitätsverweigerung, wenn es um die Anerkennung der unmittelbaren Bürgerinteressen geht. In einer kritischen Selbstbeschau könnten diese Defizite erkannt und beseitigt werden. Ob die linken Kräfte dazu in der Lage sind, ist jedoch zweifelhaft, wenn jetzt führende Vertreter auf die ideologische Karte setzen und vor einer Rückkehr des Neoliberalismus warnen.

Ist das »linke Projekt« in Lateinamerika schon gescheitert?

Eine unmittelbare Lehre aus den jüngsten Wahlen ist: Mit traditioneller Klientelpolitik sind auch in Lateinamerika keine Wahlen mehr zu gewinnen. Die Wählerschaft ist selbstbewusster und lässt sich immer weniger mit traditionellen Politikmustern binden. Hinzu kommt die personelle Erschöpfung der Linken, denn neue Führungspersönlichkeiten sind nicht in Sicht. Das Projekt der Linken der Jahrhundertwende ist das Werk einer Generation geblieben. Namen wie Luiz Inácio »Lula« da Silva (Brasilien), Hugo Chávez (Venezuela), Evo Morales (Bolivien), Cristina Kirchner (Argentinien), José Mujica und Tabaré Vazquez (Uruguay) oder Rafael Correa (Ecuador) haben ebenso den Kontinent geprägt wie Fidel und Raúl Castro Kuba oder Daniel Ortega Nicaragua.

Doch die sie tragenden politischen Bewegungen verloren an Dynamik, sie wurden Anhängsel personalistischer Projekte. Die Schwierigkeiten für Nachfolger sieht man am Niedergang des chavistischen Projekts unter Präsident Nicolás Maduro in Venezuela, aber ebenso bei Dilma Rousseff in Brasilien. Die kubanische intra-familiäre Nachfolgeregelung unter den Castro-Brüdern ist andernorts nicht durchführbar, mit dem angekündigten Abtreten von Raúl Castro als Präsident im Jahr 2018 steht hier die Nagelprobe bevor.

Unterschiedlichkeit der Projekte beachten

Die Gleichzeitigkeit in der Amtsführung der genannten linken Präsidenten sollte nicht dazu führen, von einem kollektiven Projekt zu sprechen, wie dies oft mit der Formel der »progressiven Regierungen« versucht wurde. Übergreifende Projekte wie die »Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika - Handelsvertrag der Völker« (ALBA-TCP) dürfen angesichts des Versiegens ihrer wirtschaftlichen Grundlagen aus dem Ölgeschäft Venezuelas als gescheitert gelten. Es bleiben Gemeinsamkeiten wie die erfolgreiche Bekämpfung der Armut, eine Verbreiterung der Mittelschicht, die Unterstützung des Castro-Regimes in Kuba, die damit verbundene Distanzierung von den USA sowie die Zusammenarbeit bei Infrastrukturprojekten im Binnenraum Südamerikas. Diese müssen weiter entwickelt werden.

Dass Kuba aus der Phalanx gegen die USA ausgeschieden ist und eine Normalisierung zum nördlichen Nachbarn betreibt, ist von der Sorge um sein wirtschaftliches Überleben angesichts des Niedergangs Venezuelas getrieben. Es macht auch deutlich, wie flexibel die Positionen der einzelnen Länder sind, sodass die jeweiligen politischen Projekte stark nationalen Besonderheiten und den persönlichen Prioritäten der jeweiligen Präsidenten folgen. Das reicht vom »andinen Sozialismus« in Bolivien bis zum bolivarischen Projekt Venezuelas, das im verstorbenen Präsidenten Chávez seinen eigenen Bezugspunkt als »Chavismus« gefunden hat und letztlich autoritär erstarrt.

Diese Heterogenität der »Linken« könnte sich als ihr verbleibendes politisches Kapital erweisen, um das Überschwappen der aktuellen Rückschläge auf die weiterhin links regierten Länder wie Bolivien, Chile, Ecuador und Uruguay zu vermeiden. »Links« in den unterschiedlichen Schattierungen, wie sie heute Lateinamerika prägen, ist ein weithin offenes Konzept geworden, das auf die Dominanz der Führungspersönlichkeiten verkürzt wurde.

Die Parteien und Bewegungen haben ihre gesellschaftliche Bedeutung nicht eingebüßt, sie sind nach wie vor mobilisierungs- und konfliktfähig. Es bedarf der Fähigkeit, die verschleppte personelle und programmatische Erneuerung anzugehen und nicht in etablierten Führungsstilen und Diskussionsverboten zu erstarren. Entscheidend wird somit die Innovationsfähigkeit der Linken sein, um sich selbst am Schopf zu packen und aus der Krise zu ziehen.

Günther Maihold, Jahrgang 1957, ist Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin und stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er war von 2011 bis 2015 Inhaber des Wilhelm-und-Alexander-von-Humboldt-Lehrstuhls an der Universidad Nacional Autónoma de México und dem Colegio de México.

Neues Deutschalnd


Neues Deutschland, 23.05.2016