In Kuba stehen die Gewerkschaften wegen der Veränderungen in der Gesellschaft vor einem Umbruch. Für ihren Erfolg müssen sie mehr anbieten als »Durchhalteparolen«.
In Kuba werden am 1.Mai auch in diesem Jahr wieder Menschen aus aller Welt an den Feiern, Demonstrationen und Kundgebungen zum Internationalen Kampftag der Arbeiterklasse teilnehmen. Obwohl das vom Gewerkschaftsdachverband »Central der Trabajadores de Cuba« (CTC) herausgegebene zentrale Motto »Für Kuba: Einheit und Verpflichtung!« auf die Entwicklung im eigenen Land zielt, kündigte CTC-Generalsekretär Ulises Guilarte de Macimiento auf einer Pressekonferenz in Havanna die Teilnahme Dutzender internationaler Delegationen von Gewerkschaften und anderen sozialen Organisationen an. Angesichts »der Offensive der Rechten und des transnationalen Kapitals in Amerika und der Karibik« rief Guilarte zur Solidarität mit progressiven Regierungen wie denen Venezuelas, Ecuadors, Boliviens und Brasiliens auf. In Kuba werden die Mai-Demonstrationen, aus Anlass des 55. Jahrestages der Beseitigung des Analphabetismus, von den Gewerkschaften des Bildungswesens und Aktivisten der damaligen Kampagne angeführt.
Die Rolle der kubanischen Gewerkschaften wird in den westlichen Medien teils aus Unkenntnis, meist aber bewusst verfälscht. Während es – im Gegensatz zur DDR – in der Bundesrepublik rund 70 Jahre nach ihrer Gründung noch immer kein einheitliches Arbeitsrecht gibt, werden in Kuba die Rechte der Beschäftigten seit den 1980er Jahren in einem Arbeitsgesetz garantiert. Vor dessen Aktualisierung im Dezember 2013 hatten rund 2,8 Millionen Gewerkschaftsmitglieder in mehr als 69.000 Belegschaftsversammlungen Kommentare, Kritiken und Änderungsvorschläge eingebracht. Danach waren 101 Artikel verändert und 28 neue Regelungen aufgenommen worden. Verfahren und Inhalt sind nicht nur in Lateinamerika, sondern weltweit ohne Beispiel. So garantiert das Gesetz Frauen einen Rechtsanspruch auf gleiche Bezahlung wie Männern. Achtstundentag, Lohnfortzahlung bei Krankheit, Kündigungsschutz, Höchstgrenze für Überstunden, Anspruch auf Nacht- und Feiertagszuschläge, Urlaubsanspruch und ein Recht auf unbezahlte Freistellung bei längerer Abwesenheit, beispielsweise zur Pflege Angehöriger, Mutterschutz und Arbeitslosengeld sind für Beschäftigte in Kuba selbstverständlich. In den USA, ganz zu schweigen von anderen Ländern Lateinamerikas träumen Beschäftigte nicht einmal von derartigen Leistungen.
Der Dachverband CTC, dem 18 Einzelgewerkschaften mit rund 3,3 Millionen Mitgliedern angehören, blickt auf eine knapp 100jährige Tradition zurück. Seine Vorgängerorganisation, die 1920 von dem Arbeiterführer Alfredo López Rojas in Camagüey gegründete marxistisch orientierte »Nationale Arbeiterkonföderation Kubas« (Confederación Nacional Obrera de Cuba, CNOC) Hatte eine wichtige Rolle im vorrevolutionären Kuba gespielt. 1933 organisierte die CNOC etwa einen Generalstreik, der zum Sturz des Diktators Gerardo Machado führte, der den USA treu ergeben war. 1939 beschlossen 1.500 Delegierte, die 800 Gewerkschaften mit 500.000 Mitgliedern vertraten, ihre Vereinigung zur »Konföderation der Arbeiter Kubas« (Confederación de Trabajadores de Cuba CTC). Trotz Verfolgung von Aktivisten erkämpfte die kubanische Arbeiterorganisation den Achtstundentag für Frauen und setzte weitere Forderungen durch. Der Preis dieser Erfolge war hoch. Von 1920 bis 1958 wurden Hunderte Gewerkschaftsmitglieder verhaftet, eingesperrt, gefoltert und ermordet. Das US-Außenministerium half den wechselnden Diktatoren bei der Niederschlagung von Streiks, der Verfolgung, Folter und Ermordung von Aktivisten. Die Hatz auf Gewerkschafter fand erst am 1. Januar 1959 mit dem Sieg der Revolution, die von der Gewerkschaftsbewegung unterstützt und getragen wurde, ein Ende. Seit November 1961 nennt sich der CTC »Central de Trabajadores de Cuba«.
Heute achten die Gewerkschaften in jedem Betrieb darauf, dass die Rechte der Belegschaft eingehalten werden. Ausländische Unternehmen, die sich in Kuba an Jointventures beteiligen oder in der Sonderwirtschaftszone Mariel eigene Betrieb planen, müssen die starke Position der Beschäftigtenvertretungen akzeptieren. Angestellte in Unternehmen mit ausländischer Beteiligung arbeiten zu den gleichen Bedingungen wie die in kubanischen Betrieben. Investoren aus kapitalistischen Ländern bezeichnen die betriebliche Macht der Gewerkschaften, die so weit geht, dass sie den Direktor einer Fabrik stürzen kann, als Produktivitätskiller. Mangelnde Produktivität wird nicht geleugnet und auch in Kuba als Problem gesehen, das zum Beispiel den Spielraum für Lohnsteigerungen einschränkt. Dennoch versuchen Politik und Gewerkschaften, dem Übel mit Diskussionen, Überzeugung und Motivationskampagnen entgegenzutreten, statt mit der im Westen üblichen Schocktherapie.
Obwohl sich der Einfluss der Gewerkschaften in Betrieb, Parlament und Gesellschaft positiv für die Beschäftigten auswirkt, wird in Betrieben und Gremien kontrovers über deren künftige Aufgaben und Rolle diskutiert. Dabei werden vor allem mehr Engagement und Konzepte gegen das Problem der sinkenden Kaufkraft erwartet. Neben niedrigen Einkommen, steigenden preisen und der Forderung nach Abschaffung der Doppelwährung geht es auch um Fragen der Arbeitsorganisation und die Perspektiven für gutausgebildete Fachkräfte. Hochqualifizierte Informatiker, deren Jobperspektive darin besteht, in einem Hotel die Software des Reservierungs- ud Abrechnungssystems zu pflegen, fühlen sich unterfordert und sind frustriert. Die Mitglieder erwarten von ihren Organisationen intelligentere Antworten als Durchhalteparolen.
Auch das anwachsen des privaten Sektors, die steigende Zahl ausländischer Investoren, neue Genossenschaftsmodelle in der Landwirtschaft, im Transport und anderen Bereichen sowie die Stärkung der Eigenverantwortung staatlicher Betreibe stellen die kubanischen Gewerkschaften vor große Herausforderungen. Bei den »Cuentapropistas«, wie die auf eigene Rechnung arbeitenden Beschäftigten genannt werden, haben sie mittlerweile Fuß gefasst. Die Mehrzahl der bereits eine halbe Million zählenden selbständigen Handwerker, Dienstleister, Zimmervermieter und Restaurantbetreiber ist gewerkschaftlich organisiert. Auf die Demonstrationen am 1. Mai gehen viele von ihnen selbstbewusst als Arbeiter und fühlen sich nicht als »kleine Unternehmer«. Das allein löst allerdings nicht die Probleme der Beschäftigten und ihrer Familien.
Veröffentlichung |
Volker Hermsdorf
Junge Welt, 27.04.2016