Die Kubanerin Yanel Barbeito Delgado ist trotz körperlicher Handicaps Balletttänzerin. Ihre wundersame Karriere begann in der DDR.
Wenn Yanel Barbeito Delgado etwas macht, dann macht sie es ganz oder gar nicht. Und wenn sie irgendwo ist, dann befindet sie sich dort mit ganzer Aufmerksamkeit. Vor Kurzem besuchte die Kubanerin Berlin. Zum ersten Mal seit Jahren kehrte sie in die Stadt zurück, in der sie einen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte, als der Ostteil noch die Hauptstadt der DDR war.
Während sie von ihrem Leben als Balletttänzerin erzählt, nippt sie allenfalls von ihrem Tee - fast scheint es, als lenke sie das Trinken ab und störe sie beim Reden. Sie habe eine Mission, erklärt die 42-Jährige ohne Umschweife während eines Besuchs in der nd-Redaktion. »Mein Ziel ist, das Publikum zu sensibilisieren. Ich möchte ihnen die Augen und die Ohren öffnen, damit sie die Unterschiede zwischen den Menschen erkennen.« Yanel Barbeito leidet unter einer Sprachstörung. Manchmal ist es nicht leicht für sie, die Laute zu formen. Sie spricht daher langsam und bisweilen undeutlich, trotzdem tritt sie überaus bestimmt auf. »Ich meine das nicht nur auf der Oberfläche, dem Offensichtlichen. Vielmehr soll das Publikum es sehen und fühlen und somit zum Nachdenken angeregt werden«, fügt sie hinzu. An Selbstvertrauen mangelt es ihr nicht. Wenn sie über das Tanzen redet, ist sie in ihrem Element. Das Ballett gehörte einst zu ihrer Therapie und verhalf ihr schließlich zu einem ganz anderen Leben.
Als Yanel Barbeito geboren wurde, bekam sie einige Sekunden lang keine Luft. Ihr Gehirn wurde in der Zeit nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Mediziner nennen die dadurch auftretenden Störungen infantile Zerebralparese. Bis heute hat Yanel Barbeito Probleme bei Bewegungsabläufen und beim Sprechen. »Ich wollte noch nicht auf die Welt kommen«, sagt sie lapidar. »Ich hielt mich im Bauch meiner Mutter versteckt, um nicht zu sehen, was draußen alles passiert.« Längst hat sie sich mit ihren Beeinträchtigungen abgefunden.
Heute arbeitet Yanel Barbeito als Solistin und Choreografin beim kubanischen Fernsehballett, obwohl viele, die sie auf der Straße antreffen, dies kaum glauben würden. Die zierliche Frau wirkt nämlich auf den ersten Blick zerbrechlich. Sie geht auf ihre eigene Art mit ungewohnten Bewegungen, staksig und schwankend. Wenn sie aber auf der Bühne steht, wirkt sie wie verwandelt. Dann bewegt sie sich zum Rhythmus der Musik, windet sich, als kämpfe sie mit einer unsichtbaren Kraft, die sie fesseln will, es ist ein ständiger Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung ihrer Muskeln. Fast scheint es, als wollte ihr Körper zucken, als leide er und suche nach Befreiung. Sie nutzt alle Möglichkeiten, die das Theater ihr bietet.
»Ich musste immer die Beste sein, um als Tänzerin überhaupt anerkannt zu werden«, sagt sie. Zwar ist sie sehr ehrgeizig, aber ebenso sehr wurde sie zum Perfektionismus angehalten. »So funktioniert halt das Theater«, gibt sie zu bedenken. »Vielleicht funktioniert so auch das Leben.«
Ihre Entwicklung ist tatsächlich erstaunlich. Als Kind konnte sie nicht einmal laufen und winkelte ihre Hände extrem nach außen. Ihr Arzt empfahl ihren Eltern, sie in die DDR zu schicken, weil es dort mehr Möglichkeiten gab, sie zu behandeln. Auch der deutsche Botschafter setzte sich für sie ein, sodass sie 1979 als Siebenjährige nach Berlin kam. Im Hospital in Berlin-Buch bekam sie eine ganz andere medizinische Betreuung, als sie gewohnt war. »In Kuba gingen die Ärzte sehr technisch vor«, erinnert sie sich. »In der DDR gaben mir die Mediziner dagegen eine psychologische Orientierung.« Sie erhielt spezielle Atemübungen, damit ihr das Sprechen leichter fiel, es gab Wassertherapien und Akupunkturbehandlungen. Nach einigen Monaten hatte sie sich so weit entwickelt, dass sie auf die Georg-Benjamin-Schule für körperlich Behinderte nach Berlin-Lichtenberg kam.
Begleitend zum Unterricht förderten die Ärzte auch ihre künstlerischen Begabungen, weil sie sich dadurch bessere Heilungschancen für sie erhofften. Yanel Barbeito erhielt erst Malunterricht, was sie jedoch langweilte - mit dem Pinsel in der Hand sei sie fast eingeschlafen, erzählt sie. Auch im Chor hielt sie es nicht lange aus, weil sie einfach eine schlechte Sängerin sei. Doch beim Tanzunterricht machte sie Fortschritte. »Am Anfang sprachen sie viel mit mir und zeigten mir, wie ich meine Füße und meine Arme bewegen und mein Gleichgewicht unter Kontrolle halten konnte.« Rasch machte sie Fortschritte. »Sie erklärten mir, wie man sich bewegt und wie man sich am besten fallen lässt.« Irgendwann habe für sie dann das Künstlerische über dem Therapeutischen gestanden, erzählt sie. Das war für sie der Durchbruch. Seitdem ist sie begeisterte Tänzerin. In Berlin-Buch wurde somit der Grundstein für ihre Karriere gelegt.
Nach vier Jahren kehrte sie zurück nach Havanna. Das war kein leichter Schritt für sie, denn mit ihren Beeinträchtigungen hatte sie es in Kuba nicht einfach. Sie kam auf eine Regelschule, ohne dort jedoch die nötige Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie braucht nun einmal länger, wenn sie Sätze formuliert. Erst nachdem sie auf eine Sonderschule für Sprachbehinderte wechselte, kam sie besser zurecht, legte das Abitur ab und nahm anschließend als Gasthörerin Unterricht für zeitgenössische Kunst an der Kunsthochschule. Auch in der Welt der Akademiker behauptete sie sich und schloss ihr Studium der Theaterwissenschaften schließlich mit einem Master ab.
Längst hat sie gelernt, sich durchzusetzen, auf ihre Rechte zu pochen und jeden Tag aufs Neue die Vorbehalte, die andere ihr gegenüber haben, nicht an sich heranzulassen - wenn sie etwa belächelt wird, weil sie ungewöhnlich geht oder spricht. Zweifellos kostet das Kraft. »Viele Kinder mit Beeinträchtigungen gehen in Kuba gar nicht auf die Straße, weil sie sich nicht trauen.« Es sei aber wichtig, »dass unsere Komplexe uns nicht kleinkriegen. Sonst können wir unsere Ziele nicht verwirklichen.« Vieles habe sie während ihrer Kindheit in der DDR gelernt, erzählt sie. Dort sei ihre Persönlichkeit entscheidend gefördert worden, denn in dem Klinikum in Buch sei mit den Fortschritten in der Therapie auch ihr Selbstvertrauen gewachsen.
Zum Abschied ihres damaligen Aufenthalts in Berlin erhielt Yanel Barbeito von ihren Schulfreunden ein Fotoalbum zur Erinnerung geschenkt. Fast dreißig Jahre später entdeckte sie, dass auf der Rückseite eines eingeklebten Fotos von ihrem Mitschüler Dirk Tscherntke etwas geschrieben war. Sorgfältig löste sie den Abzug aus dem Album und sah eine Notiz. Es war seine Anschrift. Zu der Zeit arbeitete sie gerade mit dem Autor Wolf-Dieter Vogel an einem Buchprojekt über Kubaner in der DDR. Kurzerhand bat sie ihn, nachzuschauen, ober ihr Schulfreund noch unter der angegebenen Adresse anzutreffen war - und tatsächlich, er lebte noch immer in einem der Hochhäuser unweit des Ostbahnhofs, wenn auch in einer anderen Wohnung.
»1987 war Yanel zum letzten Mal in Berlin«, erinnert sich Dirk Tscherntke. »Anschließend hatten wir keinen Kontakt mehr, bis Wolf-Dieter Vogel bei mir vor der Tür stand.« 2010 sei das gewesen. Yanel Barbeito und Dirk Tscherntke begannen, sich E-Mails zu schreiben. Mit der Zeit lebte ihre Freundschaft wieder auf, und nach einer Weile hatten beide den Wunsch, dass sie mal wieder nach Berlin kommt. Dirk Tscherntke lud sie ein und ermöglichte ihr die Reise. In Kuba erhält sie zwar ein monatliches Gehalt für ihr Tanzengagement, einen Überseeflug hätte sie sich aber nicht leisten können.
Berlin habe sich sehr verändert, hat die Kubanerin festgestellt. Die Orte ihrer Kindheit erkannte sie kaum wieder. »Nur die Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz steht noch da wie einst.« Doch die Veränderungen der Stadt nahm sie während ihres Besuchs ohnehin nur beiläufig wahr, sie hatte in der Hauptstadt noch mehr vor als Sightseeing im Doppeldeckerbus. Sie wollte Menschen treffen, Zeit mit Dirk Tscherntke verbringen und noch ein Stück des Theaters Thikwa in Kreuzberg sehen, in dem ausschließlich Menschen auftreten, die körperlich beeinträchtigt sind. Aus Kuba kennt sie das nicht. Da ist sie immer die Einzige mit einem Handicap auf der Bühne. Außerdem ist sie auch auf der Suche nach Kontakten zu Theatermachern, weil sie hofft, für ein Engagement noch einmal nach Deutschland zurückkommen zu können. Mit dem Choreografen Daniel Aschwanden arbeitete sie schon einmal in Österreich für vier Monate an einem Tanztheaterstück. 2001 war das; ihr Mann Omar Gómez Hernández begleitete sie während der Zeit.
Er ist auch dieses Mal mit nach Berlin gekommen. »Omar ist meine rechte Hand, der mir helfend zur Seite steht«, sagt sie. Vor mittlerweile 31 Jahren haben sie sich auf einer Schule für Sprachbehinderte in Havanna kennengelernt. Auch Omar Gómez Hernández hat leichte Probleme mit der Aussprache. Beide stützen sich und ergänzen sich mitunter beim Sprechen.
Omar redet bei seinem Besuch in der nd-Redaktion auf Spanisch, Yanel übersetzt für ihn. Bevor beide sich verabschieden, kramt er aus seinem Rucksack einen Laptop und zeigt einen Spot, in dem seine Frau mitspielt. Seit vier Jahren läuft er im kubanischen Fernsehen und wirbt für mehr Akzeptanz von Menschen mit Handicaps. Seitdem werde sie auf der Straße erkannt, erzählt Yanel. Das macht sie stolz, ist es doch ein Zeichen dafür, dass ihre Leidenschaft fürs Tanzen Wellen schlägt.
Stefan Otto
Neues Deutschland, 13.02.2016