Kubas lebendige Debatten spiegeln sich in der Literatur. Auf der Buchmesse in Havanna ist das zu erleben. Gespräch mit Alpidio Alonso Grau.
Kuba erlebt tiefgreifende Veränderungen: Es wurden »Richtlinien« zur »Aktualisierung« des Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells verabschiedet, die »Normalisierung« der Beziehungen zu den USA hat begonnen. Wie haben diese Ereignisse in den vergangenen Jahren die Rolle der Intellektuellen und Schriftsteller in Kuba verändert?
Alpidio Alonso Grau ist Dichter und Schriftsteller, Abgeordneter der kubanischen Nationalversammlung und Funktionär der Abteilung für Ideologie beim ZK der Kommunistischen Partei Kubas. Am 9. Januar war er zu Gast bei der XXI. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz |
Von solchen tiefgreifenden Veränderungen bleibt natürlich auch die Welt der Kultur nicht unbeeindruckt. Als Teil des Volkes haben sich auch die Künstler und Intellektuellen an der Diskussion und Analyse der Richtlinien beteiligt, die dann in der Nationalversammlung und auf dem Kongress der Partei beschlossen wurden. Seither erleben wir einen Aktualisierungsprozess, der die gesamte kubanische Gesellschaft erfasst. Dessen Hauptziel ist es, unseren Sozialismus effizienter zu machen. Kuba strebt einen Sozialismus an, der wohlhabend und nachhaltig ist. Das bezieht sich nicht nur auf die wirtschaftliche Sphäre, sondern auch auf die geistige Ebene, die sich vor allem aus der Kultur speist. Die Kultur hat also eine entscheidende Bedeutung, wenn wir die von uns angestrebten Ziele erreichen wollen. Kubas Intellektuelle haben sich an diesem Prozess sehr aktiv beteiligt und von Anfang an auf die Wichtigkeit des kulturellen Faktors hingewiesen, um nicht in ökonomistische Fehler abzurutschen.
Haben sich kubanische Schriftsteller schon literarisch mit diesen Veränderungen auseinandergesetzt, oder ist es dafür noch zu früh?
Die kubanische Literatur steht seit dem 19. Jahrhundert in einer ideellen und intellektuellen Tradition, die eng verbunden ist mit der Entwicklung der nationalen Identität. In unserer gesamten Geschichte hat die Kultur – und als Teil von ihr die Literatur – die Herausbildung der nationalen Identität begleitet. Die kubanische Kultur ist deshalb eine Kultur der Teilnahme, in der sich alle Entwicklungen widerspiegeln. Man könnte die Geschichte unseres Landes allein gestützt auf seine Literatur aufschreiben. In der kubanischen Poesie, in kubanischen Essays, in kubanischen Romanen kann man die gesamte Geschichte Kubas wiederfinden.
Bis heute stehen die kubanischen Dichter und Schriftsteller nicht abseits. Auch wenn die aktuelle Literatur nicht journalistisch ist, sondern menschliche Fragen und Konflikte vertieft, findet man in vielen Werken Episoden, die konkret aktuelle Entwicklungen oder Ereignisse widerspiegeln. Es ist nicht schwer, die gegenwärtigen Veränderungen, die sich im nationalen Sein Kubas vollziehen, in seiner Literatur wiederzufinden.
Unsere Poesie ist reich und komplex, aber sie ist zugleich eine Poesie, die sich im Rhythmus der heutigen Entwicklungen bewegt. Unsere Literatur und Poesie sind von einem sehr kritischen Ansatz geprägt, der sich aus der Erziehung durch die Revolution und aus den Entwicklungen, die wir Tag für Tag in Kuba erleben, entwickelt hat. Zugleich handelt es sich um eine Literatur, die der Welt zugewandt ist.
Kuba war immer eine Kreuzung vieler Wege, eine für die Welt geöffnete Insel, in der viele kulturelle Einflüsse zusammenkommen. Ich glaube, das drückt sich heute mehr denn je in der kubanischen Literatur aus und ist meiner Meinung nach auch ein Ergebnis der Politik der kubanischen Revolution. Diese ist offen und atmet eine absolute Meinungsfreiheit, in der man eine Kultur der ständigen Diskussionen erlebt. Sehr oft werden diese Debatten in den großen Medien jedoch verschwiegen und geleugnet. Ein Großteil der internationalen Medien hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Eindruck zu verbreiten, als gäbe es in Kuba keine Diskussionen. Dabei würde es schon genügen, ein einziges der Bücher aufzuschlagen, die unsere Schriftsteller – vor allem die jungen Autoren – verfassen, um sich einen Eindruck von der tiefgreifenden Diskussion der Ideen zu verschaffen. Das gilt auch für die Gedichte, für die Lieder, für die Verse unserer Rapper und nicht zu vergessen das kritische und vielschichtige Schaffen unserer bildenden Künstler und das in Kuba produzierte Theater. Wer sich dafür interessiert, sollte nach Kuba kommen und zum Beispiel auf die Buchmesse gehen, um dort mit uns diese einzigartige Atmosphäre zu erleben. Es ist faszinierend, wie die Menschen dort in den Büchern stöbern, sie mit nach Hause nehmen und sich an den vielen Veranstaltungen beteiligen. Oder er soll das Internationale Theaterfestival oder die Kunstausstellung der Biennale in Havanna besuchen, um sich einen Eindruck von der Vielzahl der Debatten zu verschaffen.
Hierzulande kann man den Eindruck haben, dass das gedruckte Buch von Kurznachrichten im Internet und auf Smartphones abgelöst wird. Wie erleben Sie das in Kuba?
Eine der ersten großen Leistungen der Revolution war die Alphabetisierungskampagne. Mit ihr begann das Kultur- und Bildungsprogramm der Revolution, durch das überhaupt erst der Leser als solcher geschaffen wurde, den es zuvor in Kuba nicht gab. Vor der Revolution gab es in Kuba keine Verlage. Die Schriftsteller, die es in Kuba damals gab – großartige darunter –, mussten den Druck ihrer Bücher selbst bezahlen. Die Revolution änderte das und initiierte die Gründung neuer Verlage. Dadurch erreichte sie, was ich für das Wichtigste halte, dass das Lesen alltäglich wurde. Diesen Leser gibt es auch heute noch. In Kuba wird auch heute noch viel gelesen, auch das beweist die Buchmesse.
Auch wir bleiben aber natürlich nicht von dem verheerenden Einfluss vieler Faktoren verschont, die mit der Globalisierung einhergehen. Auch wenn Teile der Presse anderes behaupten, wird in Kuba eine Politik der Ausbreitung der Computerisierung vorangetrieben. Schon seit geraumer Zeit gibt es in Kuba mehr Mobiltelefone als Festanschlüsse, momentan sind es mehr als drei Millionen Handys. Inzwischen gibt es 65 offene WLAN-Hotspots, die vor allem in den Wohnvierteln eingerichtet werden, und mehr als 300 Internetzentren in allen Provinzen des Landes. Das führt ein neues Element ein, das es früher in der Kultur nicht gab und das berücksichtigt werden muss.
Wir haben in Kuba immer gesagt, dass die Technik kein Feind ist, sondern zur Entwicklung der Kultur beitragen kann. Alles hängt von den Inhalten ab, die dort zirkulieren. Dazu werden in Kuba Anwendungen und Apps entwickelt, um Nachrichten, geschichtliche Informationen, kulturelle Inhalte zu transportieren. So kann die neue Technologie zur Bildung der Jugendlichen beitragen und dazu dienen, den verheerenden Einflüssen dieses Kulturkampfes zu begegnen. Das Schlachtfeld der ideologischen Auseinandersetzung hat sich zu einem Großteil in die »sozialen Netzwerke« verlagert. Dessen sind wir uns bewusst, und die Aufgabe der Revolution ist es, die Jugend darauf vorzubereiten, diesen Kampf zu gewinnen. Ich glaube, dass die Revolution die menschlichen und materiellen Möglichkeiten hat, dieser Herausforderung zu begegnen und den Sieg davonzutragen.
Die neuen Technologien ersetzen aber nicht das Buch aus Papier. Deshalb werden weiter umfangreiche Mittel aufgewendet, um das Lesen zu fördern und Bücher zu drucken – auch gegen die Wirkung einer zerstörerischen Kultur, die versucht, den Menschen von seinen Werten zu entfremden und ihn vom Denken und von der Beteiligung an seiner eigenen Realität abzulenken. Wir brauchen Kubaner, die in der Lage sind, auf der Grundlage ihrer Kultur selbst zu denken und aufgrund ihrer eigenen Schlussfolgerungen zu entscheiden, was sie tun. Schon José Martí sagte: Bildung ist die einzige Möglichkeit, frei zu sein. Und Fidel Castro sagte: Eine Revolution ist immer eine Revolution der Kultur und der Ideen. Ohne Kultur ist Freiheit unmöglich. Ich glaube, das ist heute von ganz besonderer Bedeutung.
Veröffentlichung |
Interview: André Scheer
Junge Welt, 11.02.2016