Bis zum letzten Inning ...
Granma-Interview mit dem venezolanischen Analysten Basem Tajaldine zur lateinamerikanischen Einheit.
Wenn man von den gleichzeitig ablaufenden Realitäten in verschiedenen Ländern der Region ausgeht, sieht es so aus, als ob der südamerikanische Kontinent über einem Meer politischer Lava balanciert.
Allerdings ist dieses Zusammentreffen höchst verdächtig, wenn wir den demokratischen Ursprung und die soziopolitische Lage der bedrohten Regierungen betrachten: ein von einer wütenden Rechten angefeindetes Ecuador, die es sich zum Ziel gesetzt hat, den Präsidenten von der Macht zu vertreiben, ein Brasilien, das von ähnlichen Bestrebungen einer eindeutig putschistischen Opposition erschüttert wird, die die verknöcherten Formeln einer militärischen Intervention beschwört, El Salvador, bedrängt von einem terroristischen Ansturm organisierter Kriminalität, in Bolivien die unaufhörliche Ermunterung zur Spaltung, aus dem Versuch heraus, einen Vorteil aus der Plurinationalität des Staates zu ziehen, sowie die gegen Venezuela unter den verschiedenartigsten Vorwänden ausgeübte beständige Provokation, die gerade jetzt wieder ihren stärksten Ausdruck in der klaren Absicht findet, die Wirtschaft zu sprengen.
Basem Tajaldine, venezolanischer Analyst |
Und gerade jetzt präsentiert sich die Regierung der Vereinigten Staaten, die größte und historische Bedrohung für die demokratische gesellschaftliche Ordnung, die politische Souveränität und den wirtschaftlichen Fortschritt der Region, mit einer Änderung in ihrem Diskurs und ihrer Haltung.
Sind diese Erschütterungen also ein ausschließliches Ergebnis der internen Widersprüche dieser Länder, ohne irgendeiner Verbindung? Ist es ein purer Zufall, dass nur die progressivsten Regierungen davon betroffen sind? Hat sich die Geschichte vielleicht schon geändert und die Vereinigten Staaten spielen nicht mehr mit gezinkten Karten?
"Die Geschichte des Kontinents ist zu eindeutig und ihre Lektionen geben den Völkern nicht das Recht naiv zu sein", so begann Basem Tajaldine, venezolanischer Analyst für internationale Politik mit syrischer Abstammung, der ein bekannter Kommentator in Telesur und Russia Today ist, sein Gespräch mit Granma.
An erster Stelle handelt es sich hier um eine historische Frage. Schon vor Beginn an haben die Vereinigten Staaten Lateinamerika immer als einen sehr wichtigen Raum angesehen, der manchmal schwierig zu kontrollieren war.
Hier gibt es eine mehr als 200 Jahre alte Tradition des Kampfes, der verschiedenartige Völker und Kulturen haben sich zu gemeinsamen Aktionen er Befreiung vereint. Das machte es für die Vereinigten Staaten schwieriger, diese Länder entsprechend ihren imperialen Interessen zu schlucken.
Es gibt eine Art lateinamerikanischer Identität, die für sie eine Barriere darstellt, eine Hürde, die sie sehr wohl erkannt haben und die sie dazu geführt hat, mehr auf Spaltung und Fragmentierung der Gesellschaft und ihrer politischen Vertreter zu setzen.
In der Region haben diese Prozesse tiefe Spuren hinterlassen. Diese Einmischung, das in die Knie Zwingen hat die Vereinigten Staaten einen hohen Preis gekostet. Deshalb ist es wichtig, zu erkennen, welche historische Barriere die lateinamerikanische Integration für ihre imperialen Vorhaben darstellt.
Sprechen wir z.B. vom Sandinismus, dem argentinischen peronistischen Nationalismus, der abgebrochenen Periode von Allende in Chile, der Bolivarischen Revolution in Venezuela und natürlich von der kubanischen Revolution, die als Leuchtturm aller sozialen Bewegungen der Linken die große Lektion erteilte, wie man unter den schwierigsten Bedingungen in der Verteidigung eines souveränen, unabhängigen und sozialistischen Prozesses widerstehen kann.
Zusammen mit Kuba, das zu einem der stärksten Motive für die aggressive Haltung der Vereinigten Staaten gegenüber dem Kontinent wurde, hat Venezuela in der letzten Zeit neue Gründe für eine Verhärtung dieser Position gegeben.
Nicht erst seit jetzt, sondern seit Bolivar und seinem emanzipatorischen Prozess ist Venezuela ein Störfaktor für die imperialen Ambitionen über den Kontinent gewesen und mit der Bolivarischen Revolution ist Venezuela noch gefährlicher geworden, weil seine Politik der sozialen Gerechtigkeit zusammengeht mit seiner Position als weltweiter energetischer Machtfaktor und es diese Macht alsbald in den Dienst eines regionalen integrativen Projekts gestellt hat.
Chávez wollten sie schon sehr früh in die Knie zwingen, ihn erpressen, aber es war ihnen unmöglich seine Prinzipien zu beigen und sie sahen, wie ihnen das Land schon aus den Händen glitt. Das erklärt den Staatsstreich vom Jahr 2002 und das daraufhin ablaufende Drehbuch an terroristischen Aktionen, Provokationen, dem Aufhetzen zur Gewalt und zuletzt dem Wirtschaftsboykott.
Die Führung der kubanischen und bolivarischen Revolutionen kann man nicht auseinanderbringen. Einmal wegen ihrer moralischen Stärke, ihrer Erfahrung, ihrer Ethik und zum Anderen, weil sie ein sozialistisches Projekt mit nationalem Anspruch gewagt haben, das gleichzeitig den großen Traum der Integration fördert und dabei die energetischen und finanziellen Stärken einsetzt.
In mancher Hinsicht geht das Entstehen der demokratischen und progressiven Regierungen auf dem Kontinent darauf zurück. Sie haben Programme der Gerechtigkeit und der Souveränität entsprechend ihren nationalen Gegebenheiten verfolgt und müssen jetzt die Folgen eines arglistigen Krieges tragen.
Mit dem Amerikagipfel in Panama stellte sich eine Art Änderung im Diskurs der Vereinigten Staaten gegenüber dem Kontinent ein: von der seit Jahrhunderten praktizierten offenen Aggression zur Förderung der Annäherung. Was impliziert diese Wendung?
"Der Amerikagipfel in Panama ist nicht der Beginn dieses Programms. Es ist nichts anderes als die Nachfolge der Politik der Putsche in der Region, aber mit einer anderen Maske.
Wir haben die neuen Formen der Aggression bereits gesehen, z.B. gegen die Bürgerrevolution in Ecuador, von dem Augenblick an, als Rafael Correa die Macht übernommen hat, oder gegen Bolivien, von den ersten Jahren der Präsidentschaft von Evo Morales an. Er sah sich eines Drucks ohnegleichen durch die Oligarchien der Departements der sogenannten Media Luna ausgesetzt, die ermuntert von den Vereinigten Staaten mit einer Art anthropologischer Söldnerpolitik versucht haben, die Plurinationalität des Staates auszunutzen und die Urbevölkerung zu spalten, indem sie verschiedene indigene Bewegungen infiltriert haben.
Die Vereinigten Staaten wissen, dass es die unipolare Welt nicht mehr gibt, in der die Sowjetunion zusammenbrach und man das Entstehen des Blocks der Schwellenländer noch nicht erkennen konnte. Heute sind dies schon keine Schwellenländer mehr, sondern mittelgroße oder sehr große wirtschaftliche Mächte, China z.B., das in Strukturen wie die Organisation der Kooperation Shanghai, die BRICS und andere regionale asiatischen Blöcke integriert ist.
Es gibt jetzt eine multipolare Welt, die den Vereinigten Staaten aus den Händen gleitet und andere Realitäten hervorbringt wie die lateinamerikanische, wo neue direkte Beziehungen entstehen, die das Imperium außen vor lassen.
China hat den Investitionsmarkt der USA aus Lateinamerika verdrängt, wartet mit dem Plan von 250 Milliarden Dollar für die nächsten Jahre auf und macht damit alle von den Vereinigten Staaten auf dem Gipfel in Panama angebotenen Optionen lächerlich.
Der Imagewechsel ist für die Vereinigten Staaten eine Notwendigkeit und das haben ihre Think Tanks auch so akzeptiert. Die Realität im Land wird immer schwieriger, denn die sozialen Gegensätze sind ganz offensichtlich, die wachsende Segregation, der Ku Klux Klan, der wieder in Aktion ist, und Donald Trump, der mit einem rassistischen Diskurs in den Umfragen den ersten Platz bei den republikanischen Präsidentschaftskandidaten einnimmt. Das Land durchlebt also eine ganze Reihe von Folgen dieser strukturellen Krise, von dem Desaster, das die Regierung George W. Bush im diplomatischen Bereich hinterlassen hat, ganz zu schweigen.
Es gibt definitiv eine Konjunktur, die darauf ausgerichtet ist, den Diskurs hin zu einer scheinbaren Akzeptanz der Artikel der UN-Charts zu drehen, hin zu einer Politik der Annäherung, des Verständnisses, der Vernunft. Aber Lateinamerika darf nicht naiv sein."
Die politische Reife der progressiven Regierungen Lateinamerikas hat es ermöglicht, die regionale Integration zu einer Art Schutzschild angesichts dieser Absichten, der sichtbaren wie der verdeckten, zu machen. Wie können die Mechanismen der Einheit einmal dabei helfen, die gemeinsamen Positionen festzulegen aber auch bei der Lösung spezifischer Probleme der Länder mit Erschütterungen?
"Wir haben uns festgelegt. Lateinamerika ist nicht als eine Gruppe von isolierten Ländern zum Amerikagipfel gekommen, sondern als Block wie CELAC, UNASUR, ALBA, MERCOSUR und das war die wesentliche Botschaft der kontinentalen Position.
Es gibt eine unverzichtbare Realität, die auf der Integration begründet ist, mit konkreten, ganz klaren Mechanismen, um auf der einen Seite den regionalen ökonomischen Markt in immer mächtigere Blöcke zu gliedern, mir MERCOSUR als fundamentaler Achse durch eine enge Beziehung mit BRICS den Arm auszustrecken.
Im politischen Bereich braucht man die Bolivarische Allianz für die Völker Unseres Amerika mit ihren festen, starken und eindeutigen Positionen, ihrer ausdrücklichen Bekundung der Solidarität angesichts der sozialen Konflikte in den bedrohten Ländern der Region gar nicht zu erwähnen.
UNASUR hat auch als eine Art Wahlbeobachter die interventionistischen Kommissionen mit ihrer tendenziösen Überwachung entthront und trägt jetzt dazu bei, den Wahlprozessen Legitimität zu verleihen. Es ist dies auch ein UNASUR mit Mechanismen der militärischen Kooperation, die mit der Sichtweise der "Escuela de las Americas" brechen und ein System wahrer Ergänzung bei der gemeinsamen Ausbildung für die Verteidigung und die Souveränität der Völker vorschlagen.
Was den wirtschaftlichen Bereich angeht, sprechen wir meistens von MERCOSUR, aber wir müssen auch von den anderen Finanzierungsräumen wie der Bank des Südens sprechen, die noch am Anfang steht, aber im Wachsen begriffen ist.
Auf jeden Fall ist das Auftreten unserer Länder als Gemeinschaft lateinamerikanischer und Karibischer Staaten sehr markant gewesen, nicht nur in Panama, sondern auch beim Gipfel mit der Europäischen Union.
Die Tatsache, als CELAC nach Panama gegangen zu sein, bedeutete eine größere Macht gegenüber den historischen Anmaßungen der Vereinigten Staaten gegenüber der Region, ein Schulterschluss der Einheit gegen die traditionelle Politik der 'teile und herrsche'. Aber uns muss klar sein, dass trotz dieses Diskurses diese Politik nicht tot ist.
Das was in Lateinamerika entsteht, diese Konsolidierung der progressiven souveränen und integrativen Muster, entspricht in nichts dem, was die Macht des Nordens historisch immer gewollt hat. Deswegen ist ihre Prämisse weiterhin die Spaltung und der widmet sich sich auch heute noch."
Ist also die regionale Integration die fundamentale Strategie bei der Auseinandersetzung mit diesen destabilisierenden Programmen, die die internen Konflikte fördern?
"Um es mit den Begriffen des Baseballs zu sagen – das Spiel wird erst im letzten Inning entschieden. Der Kampf, den wir ausfechten, und die Schubkraft, die heute diese Völker und ihre Regierungen mit allem, was auf sozialem Gebiet erreicht wurde, bilden, wird nicht einfach einzureißen sein außer mit einer Rückkehr zu eisernen Diktaturen, mit einer anderen 'Internationale der Schwerter', wie Präsident Nicolás Maduro in Erinnerung an jene Tyranneien gesagt hat, die den Kontinent einst mit Terror übersäten.
Aber heute sind andere Zeiten, die Völker sind andere und man kann überzeugt sein, dass jene diktatorischen Regime, die auf Raub und Irrationalität beruhen, nicht werden zurückkehren können.
An den Beispielen Griechenlands und Spaniens äußert sich das, was die neoliberalen Rezepte weltweit bewirken, eine Realität, die nicht mehr verborgen werden kann. Es wäre ein Fiasko, wenn man versuchen sollte, sie in die Region zu bringen.
Währenddessen spielen wir das Spiel weiter, das sich im letzte Inning entscheidet; aber die Strategie muss zweifellos weiterhin die Integration sein."
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Dilbert Reyes Rodríguez
Granma Internacional, 15.09.2015