»Hamba kahle« Nelson Mandela
Die Menschlichkeit bringt von Zeit zu Zeit bemerkenswerte Menschen hervor. Abschied von einem ganz Großen
Südafrika – und mit ihm Menschen in aller Welt – trauern um Nelson Mandela. Viele denken dabei nicht zuerst an den Staatsmann oder Politiker, sondern an den außergewöhnlichen Menschen Nelson Mandela, unzweifelhaft eine der herausragenden Persönlichkeiten unserer Zeit.
Nelson Mandela – der Name steht für die Überwindung von Rassismus und Apartheid, aber auch für den Sieg der Versöhnung über Unterdrückung und Hass. Gäbe es eine Ehrenbürgerschaft dieser Welt, Mandela wäre einer der ersten Anwärter gewesen.
Eine Begegnung mit diesem außergewöhnlichen Menschen ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben. Es war in jenen entscheidenden Tagen, als mit den ersten freien und allgemeinen Wahlen in Südafrika 1994 die Apartheid zu Ende ging. Am Abend des 2. Mai 1994 feierte der Afrikanische Nationalkongress (ANC) im Carlton Center in Johannesburg. Obwohl das offizielle Wahlergebnis noch ausstand, machte sich Siegesstimmung breit. Schließlich trat Mandela auf die Bühne und verkündete, gerade habe ihm Staatspräsident Frederik Willem de Klerk zum Wahlsieg des ANC gratuliert. Unbeschreiblicher Jubel – der jahrzehntelange Befreiungskampf hatte triumphiert.
Was sich mir damals besonders einprägte, waren Mandelas Bescheidenheit und seine Wärme in dieser Stunde des größten Triumphes. Mandela und seine Befreiungsbewegung hatten einen Sieg von übernationaler Bedeutung errungen – und dort auf der Bühne stand nicht in erster Linie der erfolgreiche Politiker, sondern der Mensch Nelson Mandela. Er gedachte derer, die diesen Triumph nicht mehr miterlebt hatten, und verkündete seine Botschaft der Versöhnung, die in dem von Apartheid und Bürgerkrieg zerrissenen Südafrika so wichtig war.
Als Mandela am 18. Juli 1918 in den ländlichen Weiten der Transkei geboren wurde, gab ihm sein Vater, Berater des Königs der Thembu, den Namen Rolihlahla – sinngemäß der »Unruhestifter«. Den Vornamen Nelson erhielt er später von seiner Lehrerin. Aufgewachsen in traditionellen ethnischen Hierarchien, konnte Mandela ein Studium an der einzigen höheren Bildungsstätte für Schwarze – dem College in Fort Hare – aufnehmen. Er wurde dort aber wegen politischer Aktivitäten entlassen und beendete seine juristische Ausbildung im Fernstudium.
Wer in Mandelas Memoiren seinem »langen Weg zur Freiheit« folgt, stellt fest, wie stark seine menschlichen und politischen Charakteristika bereits durch die traditionelle Erziehung in früher Jugend geprägt wurden. 1944 war Nelson Mandela Gründungsmitglied der Jugendliga des ANC. Als 1948 in Südafrika die Nationalpartei an die Macht kam und rassistische Diskriminierung in Form der Apartheid zur Staatspolitik erhob, antwortete der ANC mit Boykott, Streiks und zivilem Ungehorsam. Mandela, der als erster Schwarzer eine Anwaltspraxis in Südafrika betrieb, wurde 1952 wegen aktiven Widerstands gegen die Apartheid zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, gefolgt vom Bann, einem erweiterten Hausarrest. Das konnte Rolihlahla, den Unruhestifter, aber nicht beeindrucken. Er verstärkte seine politischen Aktivitäten und entwarf einen Plan für die Untergrundarbeit. Rasch stieg er von der Jugendliga in die nationale Führung des ANC auf.
Nach dem Verbot der Organisation 1960 bereits einmal verhaftet, ging Mandela 1961 in den Untergrund, baute die bewaffnete Widerstandsorganisation Umkhonto weSizwe (MK) auf und wurde deren erster Kommandeur. Nach Rückkehr von einer längeren Auslandsreise 1962, bei der er in Algerien auch eine Militärausbildung erhielt, wurde er erneut verhaftet und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Als den Häschern des Regimes im Jahr darauf fast das gesamte MK-Oberkommando mit wichtigen Unterlagen für den bewaffneten Kampf in die Hände fiel, wurde ihnen erst bewusst, dass sie den Kopf dieser »hochverräterischen« Organisation, Mandela, bereits hinter Gittern hatten.
Als Hauptangeklagter im weltweit beachteten Rivonia-Prozess nutzte Mandela die Anklagebank zu einem bewegenden Plädoyer für die Ideale des Befreiungskampfes. In dieser historischen Erklärung beschwor er die Demokratie und das Ideal einer freien, gerechten Gesellschaft, für das er notfalls auch zu sterben bereit sei. Das war nicht leichtfertig dahergesagt. Denn der Staatsanwalt forderte die Todesstrafe. Auch dank internationaler Solidarität entgingen Mandela und seine Mitangeklagten dem Galgen – die Strafe lautete lebenslänglich. Mandelas Rede war für mehr als 27 Jahre seine letzte öffentliche Äußerung.
Auf der Gefängnisinsel Robben Island war Nelson Mandela der anerkannte Führer der politischen Häftlinge. Gegenüber Wärtern, die auch vor körperlichen Misshandlungen nicht zurückschreckten, erzwang er sich Respekt und demonstrierte unter teilweise entwürdigenden Haftbedingungen Stärke und menschliche Größe. Er trug dazu bei, dass Robben Island zum Symbol des Widerstands gegen das inhumane Apartheidsystem wurde. Auch Jahre später konnte ihn das Angebot einer Freilassung bei Aufgabe seiner Prinzipien nicht korrumpieren, ebenso misslang der Versuch, ihn gegen seine Organisation auszuspielen.
Der Befreiungskampf unter Führung des ANC, internationale Solidarität mit dem kämpfenden Südafrika, die Sanktionen gegen das Apartheidregime, das Scheitern der Apartheidpolitik selbst – all das führte die Wende herbei. Mandela war inzwischen der prominenteste politische Gefangene weltweit und Symbol des Kampfes gegen die Apartheid. Die Forderung nach seiner und der Freilassung aller politischen Gefangenen in Südafrika war in aller Munde. 1990, nach Legalisierung des ANC und anderer Widerstandsorganisationen, öffneten sich die Gefängnistore, Mandela wurde zum Sprecher seines Volkes in den Verhandlungen über ein demokratisches Südafrika. Damals, nach dem Ende des Kalten Krieges, weckte er auch international Hoffnungen auf eine neue Ära im Zeichen gemeinsamer menschlicher Werte – eine Hoffnung, die sich allerdings nicht erfüllte.
1993 nahm Mandela gemeinsam mit Frederik Willem de Klerk den Friedensnobelpreis entgegen – er selbst im Namen aller Südafrikaner, die gelitten und Opfer gebracht hatten, um dem Land Frieden zu bringen, wie er betonte. Die Welle internationaler Würdigungen und Auszeichnungen, die bereits lange vor seiner Freilassung begonnen hatte, riss bis an sein Lebensende nicht ab. Er erhielt Orden, war Ehrendoktor von mehr als 50 Universitäten, Straßen, Plätze und Schulen wurden nach ihm benannt, Denkmale errichtet. In der offiziellen Liste dieser Ehrungen finden sich bereits frühzeitig sowohl der »Stern der Völkerfreundschaft« der DDR als auch die Ehrenpromotion der Karl-Marx-Universität Leipzig.
1994 trat Nelson Mandela als Staatspräsident an die Spitze des neuen Südafrikas. Er führte sein Land und dessen Menschen aus einer Bürgerkriegssituation heraus auf den Weg der Versöhnung. Er selbst wies übertriebene Bewertungen der eigenen Rolle zurück: »Ich war kein Messias, nur ein gewöhnlicher Mensch, der unter außergewöhnlichen Umständen zum Führer wurde.« Mandela zeigte Größe, als er 1999 das Präsidentenamt nach nur einer Amtszeit aufgab, um einem Jüngeren Platz zu machen.
Von den Großen dieser Welt hofiert und international zur moralischen Autorität erhoben, ließ Nelson Mandela nie einen Zweifel daran, dass sein Engagement vor allem seinem Volk und der Entwicklung in Südafrika galt. Die zur Überwindung der Apartheid notwendige Aussöhnung wurde durch ihn geprägt. Hier brachte er Weisheit und Mut, Prinzipienfestigkeit und Großmut ein und erhob sich dabei über die zutiefst gespaltene Gesellschaft Südafrikas. Er sagte einst: »Wer Hass verspürt, kann nicht frei sein.« In dieser historischen Versöhnungsleistung verband sich in beeindruckender Weise seine menschliche Größe mit politischer Weitsicht.
Dieser »Mandela-Faktor« ist für die jüngste Entwicklung Südafrikas ungeheuer wichtig gewesen. Das neue Südafrika hat auch international sehr von dem Sympathieträger Mandela profitiert. Dass 2010 die Fußballweltmeisterschaft erstmals am Kap und damit in Afrika stattfand, war auch ihm zu verdanken. Zu diesem Anlass hatte Mandela seinen letzten großen öffentlichen Auftritt in Johannesburg.
Der Mensch Nelson Mandela strahlte eine unerschütterliche Zuversicht aus. Madiba, wie er von Freunden und Kampfgefährten genannt wurde, war vor allem auch deshalb so glaubwürdig, weil für ihn Menschen zunächst einmal und vor allem immer Menschen waren. Und er vergaß deren Sorgen und Probleme nicht. Das traf für den Kampfgefährten ebenso zu wie für den politischen Gegner. Wer erlebt hat, wie ehemalige Widersacher aus dem Apartheidlager später mit Hochachtung und großer Wärme von »unserem Nelson« sprachen, begriff, wie Mandela die Hypothek seiner 27 Gefängnisjahre zum durchschlagenden Argument politischer Überzeugung im »nation building« gemacht hat. Die Konsequenz dieser Politik ist nicht immer von allen Apartheidopfern verstanden worden.
Andererseits war Mandela auch weiterhin nicht bereit, um des lieben Friedens willen seine Prinzipien preiszugeben, politischen Gegnern wie auch Freunden gegenüber. Da konnte er auch undiplomatisch sein. So stand er beim ersten Besuch von George W. Bush in Südafrika für eine Begegnung mit dem mächtigsten Mann der Welt nicht zur Verfügung, nachdem er zuvor bereits scharf dessen Irakkrieg verurteilt hatte. Es blieb einem Bush vorbehalten, Mandela und den ANC bis in sein letztes Amtsjahr hinein auf der Terrorliste der Vereinigten Staaten zu führen.
Als Persönlichkeit verband Mandela in seiner unnachahmlichen Ausstrahlung persönliche Bescheidenheit mit seiner Tradition entspringender Würde und Stolz. Er war dabei sehr menschlich und nicht frei von Schwächen und Fehlern. Beobachter sprachen von einem seiner Herkunft geschuldeten »Bonapartismus«, wenn er politische Überlegungen und Interessen überstimmte, um Dinge durchzusetzen, die er für richtig hielt. Den Kult, der um ihn entstanden ist, hat er jedoch nie missbraucht. Er verstand sich als Teil einer Gemeinschaft von Kampfgefährten und beugte sich kollektiven Entscheidungen der ANC-Führung, so auch der zur Person seines Nachfolgers.
Im persönlichen Bereich gab es für ihn schwere Schicksalsschläge – den Tod zweier Kinder, die schmerzhafte Trennung von seiner Frau Winnie, die den Kontakt zur politischen Realität verloren und mit ihrem exzentrischen Verhalten gemeinsame Werte und Prinzipien aufgegeben hatte. In Graca Machel fand er eine neue Partnerin mit Charme, Intellekt und eigenem politischen Profil. Sie sprach davon, dass Nelson in den Jahren ihrer Partnerschaft seine Ziele erreicht habe und im Frieden mit sich sei. Es war bedauerlich, dass in jüngster Zeit Auseinandersetzungen unter seinen Nachkommen, die auch den Patriarchen tangierten, diesen Frieden störten.
Auch im Ruhestand kam Mandela lange nicht zur Ruhe, trotz des demonstrativen Rückzugs aus dem politischen Alltag. Er hat sich nicht mehr in die zunehmenden Auseinandersetzungen im ANC hineinziehen lassen, hatte aber frühzeitig zu politischer Kultur gemahnt. Als »elder statesman« gehörte er zeitweilig einer Art internationalem Ältestenrat an. Er engagierte sich zudem für soziale und humanitäre Aufgaben, wobei er seine Autorität und seinen oft nachdrücklichen Charme nutzte. Wer wollte Mandela eine Spende für einen guten Zweck verweigern? Andererseits haben Mandela und viele seiner Mitkämpfer aber auch nicht vergessen, wer in den schweren Jahren an der Seite des ANC und des südafrikanischen Volkes gestanden hat. Das galt auch für die Solidarität der DDR und vieler ihrer Menschen in den schweren Jahren des südafrikanischen Befreiungskampfes, die nicht vergeßen ist, wie Mandela auch als Staatspräsident bei persönlichen Begegnungen ausdrücklich betonte.
In den letzten Jahren lebte Mandela auch aus gesundheitlichen Gründen zurückgezogen in seinem Haus in Houghton in Johannesburg oder in seinem Geburtsort Qunu in Eastern Cape.
Der Afrikakenner Basil Davidson wird Mandela wohl gerecht, wenn er schreibt: »Die Menschlichkeit bringt von Zeit zu Zeit bemerkenswerte Menschen hervor.« Im Andenken an den bemerkenswerten Menschen Nelson Mandela verneigt sich heute die Welt, Millionen erinnern sich seiner mit großer Zuneigung. Mit ihm ist ein Politiker und Staatsmann, ein Humanist, ein Mensch gegangen, der bereits zu Lebzeiten zur Legende geworden war. Selten ist sich die internationale Gemeinschaft so einig wie in der Trauer um einen ihrer ganz Großen. Das traditionelle südafrikanische »Hamba kahle« zum Abschied gilt einem Giganten des Befreiungskampfes und einem großen, warmherzigen Menschen.
Hans-Georg Schleicher
Neues Deutschland, 05.12.2013