US-Justizsystem im Konservatismus gefangen. Kuba vollzog radikalen Bruch
Zusammen mit China, Vietnam und Nordkorea wird Kuba als die letzte Bastion des Sozialismus angesehen. Hat das Wort Sozialismus zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer überhaupt noch Sinn?
»Recht und Gesetz in diesem Land bleiben dieselben wie vor der Revolution.«
(Chief Justice Oliver Ellsworth vom Obersten Bundesgericht der USA, 1799)
Als der Oberste Richter der USA, Chief Justice Ellsworth, zwanzig Jahre nach der Amerikanischen
Revolution diese Worte sprach, brachte er damit den dem amerikanischen Justizsystems innewohnenden
Konservatismus zum Ausdruck. Dieses Justizsystem versuchte, die Interessen des damaligen Establishments
zu schützen, indem es sich auf die Gesetze und rechtlichen Grundlagen einer Nation berief, die
gerade auf dem Schlachtfeld besiegt worden war: England. Derselbe konservative und zutiefst repressive
Geist hat im Verlauf der amerikanischen Geschichte die Justiz von einer Katastrophe in die nächste
geführt. So zum Beispiel 1857 mit dem Dread-Scott-Urteil, in dem es heißt, daß Sklaven,
auch wenn sie freie Territorien erreichen, trotzdem Sklaven bleiben, und daß Schwarze keine
US-Bürger sind. Oder 1896 die Entscheidung im Fall Plessy gegen Ferguson, die die Rassentrennung
als verfassungskonform festschrieb. Und die Entscheidung des Obersten Bundesgerichts im Jahr 1883, die
das Bürgerrechtsgesetz von 1875 für ungültig erklärte, mit dem Schwarzen
bezüglich öffentlicher Wohnunterkünfte und dem Geschworenenamt gleiche Rechte
eingeräumt worden waren.
Im Verlauf von 200 Jahren haben die Gerichte auf diese Weise in den genannten und Hunderten anderen
Entscheidungen nicht die Freiheitsrechte, sondern einen einengenden, repressiven Status quo
festgeschrieben. Deshalb wird der Freiheitskampf gegen die staatliche Repression fortgesetzt, weil die
Gerichte sich als Gegner der Freiheit erwiesen haben und es bis heute geblieben sind.
Schauen wir uns ein anderes Beispiel für den Zusammenhang von Gesetz und Revolution an. Werfen wir
einen Blick auf einen unmittelbaren Nachbarn: Kuba. Im Oktober 1999 waren mehrere leitende kubanische
Juristen Gäste der Jahresversammlung der Anwältevereinigung National Lawyers Guild in San
Francisco. Auf einer öffentlichen Veranstaltung unter dem Titel »Kriminalität und Justiz in
Kuba«, zu der die Organisation International Peace for Cuba Appeal eingeladen hatte, referierten Dr.
Ruben Remigio-Ferro, Präsident des Obersten Gerichtshofs von Kuba, und Dr. Mayda Goote, die
frühere stellvertretende Generalstaatsanwältin der Provinz Santiago, der
zweitgrößten großstädtischen Region Kubas.
Vierzig Jahre nach der kubanischen Revolution beschrieben die beiden ein Justizsystem, das weitaus
humaner zu sein scheint als das der USA. Und während Chief Justice Ellsworth die Kontinuität
der britischen Gesetzgebung auch nach der Amerikanischen Revolution hervorhob, sprach der Präsident
des kubanischen Obersten Gerichtshofs von einem klaren Bruch, den die kubanische Revolution mit dem
alten Rechtssystem vollzogen hat. Dr. Remigio wies auf wesentliche strukturelle Merkmale hin, in denen
sich das kubanische Justizsystem von dem der USA grundsätzlich unterscheidet.
Zuallererst haben beide historisch gesehen verschiedene Ursprünge. Die gravierendsten Unterschiede
aber zeigen sich in den Vorstellungen darüber, wie ein Justizsystem organisiert sein sollte. Im
revolutionären Kuba wird das Recht vom Volk gesprochen. Das ist nicht einfach ein Slogan. Die
Vorstellung von einem unpersönlichen Richter existiert in Kuba nicht. Alle Gerichte setzen sich aus
Berufs- und Laienrichtern zusammen. Die Laienrichter sind Bauern, Arbeiter, Intellektuelle, Hausfrauen,
Studenten. In allen Fällen, die den Gerichten überantwortet werden, haben sie dieselben
Entscheidungsbefugnisse wie die Berufsrichter. Die Laienrichter werden von Stadtteilkomitees,
Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen gewählt. Ihre Amtszeit dauert maximal 30 Tage. Ihre
Anwesenheit im Gericht garantiert, daß die Rechtsprechung kein technischer Vorgang ist, sondern
daß sich darin der allgemeine Wille und die Meinung des Volkes ausdrückt. Dr. Remigio selbst
ist durch die konstituierende Nationalversammlung in den Obersten Gerichtshof gewählt worden. Als
Afrokubaner und Bauernsohn »aus bescheidenen Verhältnissen« leitet Präsident Dr. Remigio heute
ein Gericht, das er vor der Revolution nicht selber hätte anrufen können.
Als Papst Johannes Paul II. vor einiger Zeit Kuba besuchte, merkte Präsident Fidel Castro
bezüglich seiner Jahre als Jurastudent im vorrevolutionären Kuba an, er habe sich damals
gewundert, warum keine schwarzen Studentinnen und Studenten zu sehen waren. In Kuba bedeutete die
Revolution nicht Kontinuität des Alten, sondern eine tiefgreifende Veränderung. Dr. Goote
sprach deshalb über Sexismus und Rassismus im vorrevolutionären Kuba, als Frauen nichts
anderes waren als reine Lustobjekte der Männer. Das freie und unabhängige Kuba hat einen
Zustand erreicht, wo Frauen heute über 60 Prozent der Arbeitskräfte in den Bereichen
Erziehung, Wissenschaft, Gesundheitswesen, Technologie und Kultur stellen.
Dr. Goote erklärte dazu: »Kubanische Frauen haben einen substantiellen Einfluß auf die
Gesellschaft. Das konnte nur dadurch erreicht werden, daß sie die Möglichkeit hatten, zu
studieren und sich selbst zu entwickeln. Die kubanischen Frauen sind unentbehrlich geworden in der
Gesellschaft. Zum Beispiel sind gegenwärtig an der Juristischen Fakultät der Universität
von Havanna 1.225 Studierende eingeschrieben. 1.005 von ihnen sind Frauen.« Das heißt, mehr als
82 Prozent der Studierenden an der größten Juristischen Fakultät des Landes sind Frauen!
Es ist zu bezweifeln, daß auch nur eine vergleichbare Fakultät in den USA das von sich
behaupten kann. Sei noch angemerkt, daß in Kuba, wo Bildung als ein Menschenrecht angesehen wird,
keine Studiengebühren erhoben werden.
Damit soll Kuba nicht als eine Art Paradies dargestellt werden, denn nach über 40 Jahren eines
lähmenden Embargos durch die USA und zehn Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunion und dem Verrat
aller Wirtschaftsvereinbarungen befindet sich Kuba ganz klar im Griff ernster ökonomischer
Probleme. Doch trotz dieses Drucks schafft es diese bemerkenswerte Gesellschaft, die menschlichen
Bedürfnisse zu befriedigen, mehr ausgebildete Ärzte hervorzubringen als jedes andere Land auf
der Welt und das Reich der menschlichen Freiheit ständig auszuweiten, im Gegensatz zu den USA, die
sich zum Gefangenenhaus der Nationen entwickeln, mit gegenwärtig über zwei Millionen Menschen
in den amerikanischen Gefängnissen.
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Mumia Abu Jamal
Übersetzung: Jürgen Heiser
Junge Welt, 30.12.2000