Rassismus und Eurozentrismus bekämpfen! - Interview mit Assata Shakur
Assata Shakur, Mitglied der Black Panther Party (BPP) und eine militante Kämpferin der Black Liberation Army (BLA), wurde nach sechs Jahren Haft am 2. November 1979 von ihren GenossInnen aus dem Hochsicherheitsgefängnis in Clinton in New Jersey befreit. Sie lebt seit 1984 mit ihrer Tochter auf Kuba im Exil.
Hast Du den neuen Malcolm X-Film von Spike Lee gesehen oder schon davon gehört?
Ja, ich habe eine Version des Spike Lee-Films gesehen. Der Film war in der African American Community in den USA sehr umstritten. Meiner Ansicht nach ist kein Künstler perfekt, und es gibt einfach keine perfekte Darstellung. Insgesamt hat der Film einen sehr positiven Anteil dabei gehabt und wird ihn auch in Zukunft haben, Menschen nicht nur über die Person von Malcolm X zu unterrichte, sondern der Film hilft auch, einige der historischen Bedingungen u verstehen, die zur Entwicklung von Malcolm X sowie der Nation of Islam und der gesamten Entwicklung der African-American-Befreiungsbewegung beigetragen haben.
Spielt der Islam tatsächlich eine so wichtige Rolle in der schwarzen Bewegung wie im Film dargestellt? Wie sieht Dein Verhältnis zum Islam aus?
Meiner Ansicht nach war die Nation of Islam ein sehr wichtiger Einfluß für die schwarze Befreiungsbewegung und ist es, in der Art, wie sie von Farrakhan wieder aufgebaut wurde, in gewisser Hinsicht immer noch. Erstens war es zu jener Zeit für afrikanische Menschen, die in den USA lebten, sehr wichtig, eine Bewegung zu haben, die unsere Wut, unseren Haß direkt ansprach. Und wenn die Nation of Islam und Elijah Muhammad behaupteten, das Weiße die Teufel seien, dann war das nicht unbedingt die Wiedergabe einer ideologischen Position von uns, sondern drückte unsere Gedanken über das aus, was uns angetan wurde. Außerdem ermöglichte uns diese Position, den Haß, der gegen uns gerichtet war, nicht zu verinnerlichen, sondern ihn nach außen zu richten und auszudrücken. Was die Nation of Islam für mich z.b. attraktiv machte, war u.a. ihre Disziplin und die respektvolle Haltung gegenüber Frauen. Ich wurde allerdings nie Mitglied der Nation of Islam, weil ich zu der Zeit eine andere ideologische Perspektive in Bezug auf die Rassenbeziehungen in den USA hatte: Für mich definierte sich der Kampf nicht religiös, und ich sah keine Notwendigkeit, Religion zu einem Aspekt der Auseinandersetzung zu machen. Meine Sichtweise war nicht so eng. Und außerdem hatte ich den Eindruck, daß ich als Frau in der Nation of Islam von der Rolle der Frau, daß ihr Platz zuhause sei, und daß sie dort eine dem Mann untergeordnete Stellung habe. Ich war nicht bereit, diese Rolle zu übernehmen. Meiner Meinung nach war diese Haltung eines der Mankos der Nation of Islam zu jener Zeit. Aber ich bewundere ihren Respekt gegenüber Frauen, ihr diszipliniertes Leben und ihren Lebensstil, ihre alternative Lebensweise, die sich der allgemeinen Konsum- und Drogenkultur widersetzte. Die die US-Regierung uns aufzwingen wollte.
Als Du im Gefängnis warst, hattest Du eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Islam und bist auch dann zum Islam übergetreten.
Während ich im Gefängnis war, konvertierten viele meiner GenossInnen zum Islam, und es gab viele Gefangene, die Moslems waren. Daher entschied ich mich, wenn ich überhaupt eine Religion annehmen wollte, für den Islam. Zum anderen hielt ich es für mich als Person wichtig, den Islam systematisch zu studieren und eine spirituelle Herangehensweise ans Leben zu bekommen. Denn die Repression um mich herum war so erdrückend, daß ich ein spirituelles Element benötigte, um ihr etwas entgegensetzen zu können und die Atmosphäre von Tod und Gewalt, von der ich umgeben war, zu bekämpfen. Ich fing an, den Koran und den Islam zu studieren, und mein Verhältnis zu Spiritualität erweiterte sich wesentlich. Darüber hinaus studierte ich die Yoruba-Religion und die Bibel. Ich erkannte, daß alle Religionen Elemente besitzen, die revolutionär sind, Elemente die den Kampf für Befreiung beinhalten. Ich glaube auch, daß Religionen keine statischen Phänomene sind, sondern daß Religionen sich entwickeln und verändern müssen. Die Theologie der Befreiung hat mich z.B. sehr beeinflußt – nicht nur in ihrem christlichen Sinn, sondern in ihrem weltweiten Sinn. Denn m.E. Müssen sich Religionen wesentlich mehr in die Geschehnisse und weltlichen Ereignissen einmischen und engagieren. Und sie müssen eine weitergefaßte Definition von Moral und Ethik entwickeln. Religionen können sich nicht der reaktionären Sichtweise von Moral verschreiben, nach dem Motto: alles was uns interessiert ist, wer mit wem schläft – und das ist dann die Moral. Ethik hat m.E. Mehr mit der Befreiung von Menschen zu tun. Unabhängig davon, um welche Religion es sich handelt, geht es darum, daß sie einen Bezug zu den Menschen und ihren Kämpfen entwickelt, zu einer "Religion des Volkes" wird, die die Menschen nicht nur spirituell, sondern auch politisch, gesellschaftlich und ökonomisch befreit. Meine religiösen Ansichten und meine politische Meinung sind miteinander verwoben und verknüpft, und Spiritualität hat für mich einen erweiterten Sinn erhalten. Die Auseinandersetzung mit dem Islam hat mir dabei geholfen, diesen Standpunkt zu entwickeln.
Die Rolle, die Frauen bei der BPP hatte, unterscheidet sich doch sehr von der Rolle der Frauen in der Nation of Islam.
Nun ja, Frauen waren in der BPP wesentlich offensiver und sichtbarer in Führungspositionen. Aber auch die BPP war wie alle Organisationen in den USA sehr von Sexismus betroffen. Es gab einen Macho-Stil. Frauen in der Partei mußten darum kämpfen, daß ihnen zugehört wurde, daß sie als gleichberechtigt behandelt wurden – Frauen mußten auf allen Ebenen kämpfen. Sexismus betrifft und beeinflußt Menschen weltweit – nicht nur Frauen, sondern auch Männer und Kinder. Nur wenn Bewegungen für gesellschaftliche Veränderungen sich damit auseinandersetzen, daß neue und freie Gesellschaften nicht auf dem männlich-orientierten Modell für Veränderung aufgebaut werden können, und daß es wichtig ist, daß Frauen Führungspositionen in revolutionären Bewegungen und beim Aufbau von revolutionären Gesellschaften übernehmen, nur dann kann es tatsächliche Befreiung geben. Nur wenn Menschen diesen Bewußtseinszustand erreicht haben, wird gesellschaftliche Veränderung tatsächlich einen universellen und vollständigen Ansatz haben. Das muß sich auch in der alltäglichen Arbeit von politischen Organisationen ausdrücken. Die klassische Art von politischer Organisierung ist fast immer patriarchal und hierarchisch aufgebaut – mit Führungspersonen und denjenigen, die ihnen untergeordnet sind. Diese Art von Organisierung muß sich verändern.
Hat sich Deiner Ansicht nach das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen verbessert? Gibt es da eine positive Entwicklung?
Überhaupt nicht. Rassismus und rassistische Auseinandersetzungen nehmen nicht nur in den USA immer mehr zu. Rassismus wird in weiten Kreisen wieder akzeptabel; Rassismus ist wieder "in". Rassismus ist zum Bestandteil einer gesamten Bewegung geworden, die nicht nur eine nationale, sondern eine internationale Bewegung ist. Wenn man diese ganzen rassistischen Angriffe nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern Europas betrachtet, dann sieht man ganz klar eine internationale Entwicklung, die bei mir große Angst verursacht und mich an die 30er Jahre, an Faschismus, erinnert. Hier erhebt sich eine neofaschistische Bewegung, die wesentlich ausgereifter als nackte Faschismus der 30er jahre ist. Die Feindseligkeit gegenüber ImmigrantInnen, gegenüber "Fremden", ist eine unterdrückte Form von Rassismus, von nur mühsam verdecktem Rassismus. Dieser Rassismus ist zum Teil Ergebnis der jahrelangen Propaganda in den imperialistischen Industrieländern, die einen "Arbeiter" als eine Person darstellt, die weiß ist, in einem luxuriösen Haus lebt und ein großes Auto fährt. Die Darstellung der Medien in Bezug darauf, wie das "Leben der Arbeiterklasse" sein sollte, ist eine Märchenkonstruktion von Luxus. Unglücklicherweise sind viele weiße Arbeiter in Europa und den USA völlig von diesem Bild beeinflußt. Und gleichzeitig wurde jede Art von Internationalismus aus dem Denken der sogenannten Arbeiterklasse getilgt. So daß es jetzt eine ganze Generation von weißen Arbeitern gibt, die sich an den weißen Arbeitern in England und anderen westlichen Industrieländern orientieren und sagen: "wir wollen den gleichen Lebensstandard wie diese Arbeiter der oberen Mittelklasse". Sie verstehen nicht, daß der einzige Grund für diesen Lebensstandard darin besteht, daß England, Frankreich und die USA Länder der sogenannten Dritten Welt systematisch ausgebeutet und unterdrückt haben, und daß dieser Lebensstandard sozusagen durch das Elend der Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika subventioniert wird. Der weltweite Konflikt hat sich von einen Ost-West-Konflikt zu einem Nord-Süd-Konflikt entwickelt. Europa, die USA und Kanada versuchen ihre Machtposition weiterhin durch die Unterdrückung des Südens zu stabilisieren. Rassismus wird zu einem immer größeren Faktor, den Menschen, die behaupten, daß sie für Frieden und soziale Veränderung eintreten, ernsthaft bekämpfen müssen.
Sind die Aufstände in L.A. Und anderen nordamerikanischen Städten Deiner Ansicht nach ein Ausdruck davon, daß sich die Bedingungen verschlechtert haben?
Nur wenigen Menschen sind die Lebensbedingungen von African Americans und Latinos in den USA bekannt. Jeder vierte junge schwarze Mann in den USA ist entweder im Gefängnis oder unter der Aufsicht von Gefängnisbehörden, d.h. Auf Bewährung etc. Die Polizei hat in den Dritt-Welt-Communities die Rolle einer Besatzungsarmee. Das, was Rodney King geschah, ist ein normales Ereignis in jeder Stadt der USA. Der einzige Unterschied war, daß die Situation gefilmt wurde. Und obwohl es den Film gab, war die Reaktion von vielen Weißen: "Na und? Er wird schon irgendwas getan haben, er hat sich ja gewehrt." Obwohl er eindeutig das Opfer von brutaler Mißhandlungen war. Aber der Rassismus ist auf einem Level, daß die Geschworenen die Polizisten für unschuldig erklärten. Darauf haben die Menschen reagiert, weil das einfach zu offensichtlich war. Aber das Ereignis unterscheidet sich in keinster Weise vom Alltag in den gesamten USA. Der Rassismus, der in den USA vorherrscht, existiert auf allen Ebenen, z.B. in der Gesundheitsversorgung: Die Kindersterblichkeitsrate in der schwarzen Community in den USA ist doppelt so hoch wie die von Weißen. Die Zahl von schwarzen Frauen, die bei der Geburt sterben, ist dreimal so hoch wie bei weißen Frauen. Die Lebenserwartung von Schwarzen ist 7-8 Jahre geringer als die von Weißen. Schwarze verdienen noch immer 60% dessen, was eine weiße Person verdient. Jeder Aspekt des Lebens und der Gesellschaft ist rassistisch, sei es das Gesundheitssystem, das Bildungssystem etc., und ähnlich sieht es in den meisten Industrieländern aus. Dieses System beruht auf Rassismus und weißer Vorherrschaft. Aber immer mehr Menschen setzen sich dagegen zur Wehr und sind nicht länger bereit, diese weiße Vorherrschaft und die eurozentristische Sichtweise in den Wissenschaften, in Bezug auf Geschichte, auf Literatur etc. hinzunehmen. Das hat sich z.B. auch in der Kampagne gegen die offiziellen 500-Jahr-Feiern ausgedrückt, wo viele Menschen ganz klar gesagt haben: Erstens hat Columbus überhaupt nichts entdeckt, und zweitens bedeuten diese 500 Jahre für uns 500 Jahre Unterdrückung, Ausbeutung, Sklaverei, Kolonialismus und Neokolonialismus. Es reicht daher nicht aus, Rassismus in einem Vakuum zu sehen, sondern die Verbindung zwischen Rassismus und Eurozentrismus muß gesehen und beides bekämpft werden.
Haben diese Riots einen anhaltenden Einfluß auf die schwarze Bewegung in den USA gehabt?
Zuerst einmal: Wir nennen sie Rebellionen, denn in diesen Riots rebellieren Menschen gegen eine Realität, die sich immer weiter fortsetzt. Ein Grund für die Wahl von Clinton zum Präsidenten ist m.E., daß es Bevölkerungssegmente in den USA gibt, die sich bewußt sind, wie explosiv die Situation in den USA ist. Und das nicht nur in Bezug auf African Americans, sondern auch in Bezug auf Latinos, native Americans und Asian Americans sowie auf arme Menschen. Die US-Regierung und ihre Institutionen kümmern sich nur um die Bedürfnisse einer kleinen Minderheit. Um eine allumfassende Explosion der Unzufriedenheit der vielen unterdrückten Menschen in den USA zu verhindern, wurde Clinton gewählt. Die WählerInnen drückten darin zum einen ihren Protest gegen die unmenschliche Politik der Bush- und Reagan-Administrationen aus. Gleichzeitig ging es aber auch darum, die Situation zu entspannen und erträglich zu machen. M.E. Ist die Situation in den USA sehr explosiv, und die Veränderungen sind notwendig. Ich glaube, daß viele Menschen die Rebellion in L.A. Als einen Aspekt dessen, wie sich die Situation in den USA entwickelt, gesehen haben, und daß viele Menschen beginnen zu begreifen, daß diese spontane Reaktion gegen die unmenschliche Politik der US-Regierung entwickelt werden muß.
Du hast von dem wachsenden Rassismus in Europa geredet. Nicht nur Faschisten, sondern auch "normale" Deutsche greifen Flüchtlinge an, schlagen sie, verbrennen sie. Gleichzeitig hat die Regierung Gesetze verabschiedet, die es Flüchtlingen noch schwerer macht, in die BRD zu kommen. Bist Du der Ansicht, daß Rassismus in Europa, z.b. gegen Roma und Sinti oder gegen türkische Menschen in der BRD, der gleiche Rassismus ist wie der Rassismus von Weißen gegen Schwarze in den USA?
Ich glaube, daß dieser Rassismus Teil des gleichen Rassismus ist. Ich glaube nicht, daß es vollständig das gleiche ist. Wenn man sich anschaut, wer die Opfer des Rassismus in Europa sind, dann kann man feststellen, daß darunter viele Afrikaner sowie Menschen, die vor allem aus der sogenannten Dritten Welt kommen: "people of color". Daher denke ich, daß dahinter derselbe Rassismus steht, die gleiche Unfähigkeit, Kulturen außerhalb von europäischen Kulturen zu respektieren und zu schätzen. Einer der Gründe hierfür liegt m.E. Darin, daß es in vielen europäischen Ländern nach der Niederlage der Nazis keine tiefgreifende Erziehung der Jugendlichen über die Ursachen von Faschismus gab. Genausowenig gab es eine tiefgehende Analyse von Fremdenfeindlichkeit, weißer Vorherrschaft und Eurozentrismus. Es gab m.E. Keinen umfassenden ideologischen Kampf gegen faschistische Ideen, und daher konnten sie wieder auftauchen, weil der Kapitalismus die Bedürfnisse der Menschen in einem ganzheitlichen Sinn nicht erfüllen kann. Diese Bedingungen führen dazu, daß deutsche Arbeiter, anstatt sich solidarisch mit Arbeitern in der sogenannten Dritten Welt zu fühlen, diese als Feinde und Bedrohung ansehen, die ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen wollen. Ihnen ist eine sehr begrenzte Denkweise beigebracht worden. Das ist etwas, was nicht über Nacht passiert, sondern es ist Teil eines Prozesses.
Du sagst manchmal, daß der Kampf in Südafrika eine große Bedeutung für den schwarzen Befreiungskampf in den USA hat. Jetzt gibt es ja in Südafrika eine neue Entwicklung? Siehst Du sie als positiv an und bist Du der Meinung, daß es eine reale Möglichkeit für ein Ende von Apartheid gibt?
Ich hoffe, daß das so sein wird. Meiner Ansicht nach sind Verhandlungen Teil des revolutionären Kampfes und ein wichtiger Bestandteil im Kampf gegen Apartheid. Aber es wird kein einfacher Kampf werden, denn die Vertreter der weißen Vorherrschaft, die die Kontrolle über die südafrikanische Regierung und die südafrikanische Wirtschaft haben, werden ihre Macht und ihre Privilegien nicht so einfach aufgeben. Obwohl ich der Ansicht bin, daß sich Südafrika in einer wichtigen Phase befindet, glaube ich nicht, daß Apartheid und das ganze System der weißen Vorherrschaft so einfach und plötzlich abgeschafft werden. Dies ist vielmehr eine wichtige Phase, die viel zur vollständigen Befreiung Südafrikas in der Zukunft beitragen kann – die ich allerdings nicht gerade um die nächste Ecke sehe. Um das noch einmal zu wiederholen, die weltweite rassistische Offensive hat nicht nur Auswirkungen in den USA und in Europa gehabt, sondern hat sich auch auf die Entwicklung in Südafrika ausgewirkt. Z.b. gibt es immer mehr EuropäerInnen, die versuchen, nach Südafrika einzuwandern. Viele Leute aus den ehemaligen Ostblockstaaten versuchen, jetzt nach Südafrika zu emigrieren und von der Ausbeutung von schwarzen ArbeiterInnen zu profitieren.
Insgesamt ist es eine schwierige Zeit für Befreiungsbewegungen weltweit, und Menschen, die wirklich an einer gesellschaftlichen Veränderung interessiert sind, müssen sich neu zusammenfinden und eine internationale Bewegung aufbauen – wo dann z.B. Menschen, die in Südafrika kämpfen, direktere Verbindungen und Beziehungen mit Menschen z.B. in Lateinamerika und Asien oder den USA kämpfen, haben. Für RevolutionärInnen stellt sich gerade eine sehr schwierige Aufgabe – nämlich ob es uns gelingen wird, eine höhere und ausgereiftere ideologische und praktische Basis zu entwickeln.
Wir sind ja nun mit einer neuen Realität konfrontiert: Die Berliner Mauer ist gefallen, die meisten sozialistischen Länder existieren nicht mehr. Die Mehrheit der revolutionären Bewegungen weltweit ist gescheitert. Die Menschen in Nicargua haben sich per Wahlzettel gegen die Sandinisten entschieden. Die meisten linken und kommunistischen Menschen sind momentan ohne Konzept Gleichzeitig erhalten die USA, Europa und insbesondere die BRD eine neue Bedeutung als imperialistische Mächte. Die Faschisten werden immer aggressiver, und die staatliche Politik wird immer repressiver. Die momentane Entwicklung ist wirklich sehr düster und dunkel. Siehst Du irgendwelche Möglichkeiten für Menschen, die weiterhin für Befreiung kämpfen?
Ich möchte erst einmal einen kurzen Kommentar zu der Einordnung dieser Situation – und den zugrundeliegenden Konzept – als eine sehr "düstere, dunkle" Entwicklung machen. Ich sehe das vielmehr als eine sehr "weiße" Entwicklung. Immer noch wird Dunkelheit mit Negativen assoziiert und ich glaube nicht, daß das mit der Menschheitsgeschichte in Einklang steht.
Davon abgesehen, z.B. Nicaragua: Ich glaube nicht, daß es darum ging, daß das nicaraguanische Volk die Sandinisten loswerden wollte. Der entscheidende Punkt waren zehn Jahre konterrevolutionärer Aktivitäten, die von der US-Regierung unterstützt und finanziert wurden. Das nicaraguanische Volk stand zehn Jahre lang unter ständigem Druck von außen. Trotzdem gewannen die Sandinisten die ersten Wahlen; aber zum Zeitpunkt der zweiten Wahlen hatten die CIA und die US-Regierung einen Apparat aufgebaut durch den sie insgeheim Millionen von Dollars an die Opposition weiterleiten konnten. Dadurch konnten sie eine Menge Stimmen von Leuten kaufen, die eigentlich die Revolution unterstützten.
Und dann fand direkt vor den Wahlen die US-Invasion in Panama statt. Die Botschaft war sehr eindeutig: Entweder stimmt ihr für die Opposition, oder ihr werdet genauso behandelt werden. Meiner Ansicht nach kann diese Situation nicht mit der Situation in der BRD, Europa der der Realität in den USA verglichen werden. Denn es ist nun einmal Realität – auch wenn viele Leute das nicht gerne hören wollen - , daß die meisten Länder der sogenannten Dritten Welt, in denen sozialistische Revolutionen stattgefunden haben, sozialistische geblieben sind. D.h., wenn Du davon redest, daß der Sozialismus am Ende sei, mußt Du aufpassen, daß Deine Analyse nicht von einer eurozentristischen Sichtweise bestimmt ist. Die Analyse darf sich nicht allein auf Europa beschränken, sondern muß die Entwicklungen in Afrika, Asien und Lateinamerika miteinbeziehen. Es stimmt sicher, daß progressive Regierungen wie in Angola oder Mosambik tagtäglich dem Terror, der von den imperialistischen Kräften verursacht wird, ausgesetzt sind. Aber meiner Ansicht nach beeinflußt das die Gefühle des Volkes nicht direkt, trotz der langanhaltenden, gut finanzierten und systematischen imperialistischen Kampagne.
Natürlich stimmt es, daß die UdSSR aufgehört hat zu existieren, und daß der Sozialismus in Europa zusammengebrochen ist. Das macht mich in vielerlei Hinsicht traurig, denn der Sozialismus hat m.E. Europa etwas zivilisierter gemacht. Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus gewinnen alle möglichen Spielarten von reaktionärem Negativismus, Barbarei und Primitivität in Europa momentan die Oberhand.
Aber ich bin davon überzeugt, daß das Scheitern des Sozialismus in Europa gleichbedeutend mit einem Scheitern des Sozialismus weltweit ist. Ich glaube, daß die Menschen, die in Europa und weltweit für gesellschaftliche Veränderungen gekämpft haben und kämpfen, sich genau anschauen müssen, welche Art von Sozialismus in Europa aufgebaut wurde. Worin bestanden die guten und die schlechten Seiten dieser Art des Sozialismus? Was waren seine Erfolge und seine Grenzen? Ich glaube, daß es eine ganz kurzsichtige Analyse darstellt, wenn gesagt wird, daß der Sozialismus allgemein tot und unmöglich sei, nur weil dieses oder jenes Land eine lausige Form des Sozialismus entwickelt hat. Das würde bedeuten, daß gesellschaftliche Veränderungen weltweit eine Unmöglichkeit wären. Die Menschen müssen sich einfach mit der Geschichte Europas und der Geschichte der revolutionären Bewegungen in Europa auseinandersetzen; sie müssen sich des Chauvinismus', der in diesen europäischen Bewegungen vorherrschend war, bewußt werde, der z.B. für die Niederlage der 2. Internationale verantwortlich war. Es muß ein Bewußtsein geben für die Negativität des Stalinismus und die Auswirkungen, die das stalinistische Modell unglücklicherweise auf den Aufbau von Sozialismus und in den revolutionären Bewegungen weltweit hatte. Denn viele Menschen übernahmen die rigiden, dogmatischen Konzepte, die von der UdSSR verbreitet wurden und sich durch die Komintern in fast allen revolutionären Bewegungen ausbreiteten. Ich halte nicht die gesamte Geschichte der UdSSR für falsch, aber ich bin der Ansicht, daß bestimmte geschichtliche Entwicklungen in eine angemessene Perspektive gerückt werden müssen, und daß man Verantwortung nicht nur für die Erfolge übernehmen muß, sondern auch dafür, daß dieser wundervolle Sozialismus eben nie in dieser Weise in der UdSSR, in Polen, in der DDR oder der CSSR existierte. Die Menschen kamen aus extrem feudalistischen Strukturen in Gesellschaften, die sehr vom Faschismus beeinflußt waren und danach sozialistisch wurden. Meiner Ansicht nach haben Feudalismus und Faschismus die Art und Weise, wie EuropäerInnen den Sozialismus in Europa aufgebaut haben, sehr stark beeinflußt. Die Menschen müssen die geschichtlichen Ursachen für das Scheitern des Versuches, einen menschlichen Sozialismus in Europa aufzubauen, analysieren.
Ich weigere mich allerdings, diese Periode über das Scheitern des Sozialismus zu definieren. Meiner Ansicht nach ist der Sozialismus eine Idee, ein Konzept, das noch in den Kinderschuhen steckt. Die Versuche, Sozialismus aufzubauen, waren wichtig und berechtigt, aber es muß eine größere Sensibilität für Freiheit und Befreiung entwickelt werden, um in der Lage zu sein, eine gleichberechtigte Gesellschaft aufzubauen, in der Menschen nicht ausgebeutet werden, in der Frauen nicht ausgebeutet werden, in der die Umwelt nicht zerstört wird. Die Art und Weise, in der die Umwelt in den sozialistischen Ländern zerstört wurde, beweist ein völlig falsches Konzept von Industrialisierung und eine völlige Ignoranz in Bezug auf Umweltfragen bzw. eine Unfähigkeit, eine Welt Sicht zu entwickeln, die die Bewahrung der Umwelt zu einem wichtigen Bestandteil von revolutionärem Kampf und dem Aufbau des Sozialismus macht.
Ich sehe diese Periode als eine Zeit des Verlustes an – die weltweite revolutionäre Bewegung befindet sich in einer ernsthaften Krise. Aber ich bin der Ansicht, daß diese Krise dazu führen wird, daß eine positivere weltweite Bewegung entstehen wird. Ich rede hier für mich, für mein Volk und für die vielen Menschen weltweit, die unterdrückt werden und die sich der Ursache ihrer Unterdrückung bewußt sind. Wir sind nicht willens, einfach aufzugeben und zu sterben. Wir sind nicht bereit, uns der Unterdrückung zu unterwerfen, die wir seit 500 Jahren ertragen müssen. D.h. Wenn irgendjemand meint, daß die weltweite revolutionäre Bewegung und die Menschen die weltweit um Befreiungskämpfen, einfach aufgeben werden, dann ist das ein großer Irrtum. In kurzer Zeit werden wir eine revolutionäre Bewegung sehen, die internationalistischer in ihrer Ausrichtung sein wird, die sensibler sein wird, die menschlicher sein wird, die keine eurozentristische Perspektive haben wird. Und ich hoffe, in der Zukunft einen kleinen Anteil zu dem Aufbau dieser Bewegung beizutragen.
Du bist seit 1984 auf Kuba, und in Interviews äußerst Du Dich immer sehr positiv über die Situation auf Kuba. Aber wenn wir hier mit den Menschen reden, dann hören wir von der Mehrheit der Bevölkerung sehr viel Unzufriedenheit, Enttäuschung etc. Glaubst Du, daß das sozialistische Kuba in der Zukunft eine Chance haben wird?
Nun ja, Kuba befindet sich momentan in einer sehr schwierigen Situation. Das Land leidet nicht nur unter den Folgen der 30jährigen Blockade durch die US-Regierung sondern auch unter den Folgen des Zusammenbruchs des europäischen sozialistischen Lagers. Weder die ehemalige Sowjetunion noch irgendein anderes exsozialistisches Land hat seine Handelsabkommen mit Kuba eingehalten. Da der Großteil des kubanischen Handels mit diesen Ländern stattfand, befindet sich Kuba in einer unmöglichen Situation. Es hat 70%-90% seines Außenhandels verloren. Das hat die kubanische Wirtschaft völlig ruiniert. Kuba muß neue Ansätze finden und sich einem enormen Wandel auf allen wirtschaftlichen Sektoren unterziehen. Das führt natürlich zu Engpässen und Mangelerscheinungen auf allen Ebenen sowie zu großer Unzufriedenheit – sei es der Mangel an Seife, an Bleistiften, an Papier oder die Nahrungsmittelknappheit allgemein. Die Mängel sind in allen Landesteilen und in allen Bevölkerungsschichten spürbar. Aber im Vergleich zu vielen anderen Ländern haben die Menschen hier ein sehr hohes Bewußtsein. Obwohl viele Menschen sich beschweren, hat die Regierung bei den Wahlen ein hohes Maß an Unterstützung erhalten. Wenn es der Regierung allerdings nicht gelingen sollte, die Produktion in den nächsten Jahren zu verbessern, dann werden die Menschen aufhören, die Regierung und die Revolution zu unterstützen. Aber m.E. Verstehen die Menschen im Moment, obwohl sie sich beschweren, daß die kubanische Regierung nicht für die wirtschaftliche Situation verantwortlich ist. Das heißt nicht, daß die kubanische Regierung keine Fehler gemacht hat. Sicherlich hat sie wie alle Regierungen Fehler begangen. Ein Fehler, den Kuba offen zugibt, ist, daß zuviele der falschen Praktiken der europäischen Länder aus dem sozialistischen Lager übernommen wurden. Sie versuchen jetzt, diese Fehler wiedergutzumachen.
Aber in Bezug auf Kubas Zukunft: Ich habe große Hoffnung in Kuba, ich habe großen Respekt für das kubanische Volk, für die kubanische Führung, die wirklich alles versuchen, um zu überleben und in einer schwierigen Situation und in einer Kuba feindlich gesinnten Weltsituation die Entwicklung des Landes voranzutreiben. Ich bin einerseits hoffnungsvoll andererseits habe ich natürlich Angst um Kuba. Aber ich habe auch lange genug in Kuba und mit den Menschen gelebt, um zu wissen, daß die KubanerInnen sehr starke und sehr bewußte Menschen sind. Und daß das Volk, unabhängig von den Problemen mit und der Kritik an der Revolution, im Kern antiimperialistisch ist – mehr als jedes andere Volk, das ich kennengelernt habe. Das gibt mir eine Menge Hoffnung für die Zukunft, aber ich bin natürlich keine Wahrsagerin.
Befürchtest Du nicht, daß mit der gesellschaftlichen Krise eine Menge der Probleme entstehen werden, die für kapitalistische Länder und Systeme typisch sind? Z.b. habe ich gehört, daß in Kuba mehr als 40.000 Menschen im Gefängnis sind, vor allem, weil sie Diebstähle begangen haben oder aufgrund von anderen gesellschaftlichen Problemen. Meinst Du, daß das zu einem noch größeren Problem werden wird?
Ich weiß nicht, ob die Zahl von 40.000 Gefangenen stimmt. Sicherlich sind bestimmte gesellschaftliche Probleme dieser Art unvermeidbar, und das einzige, was die Regierung machen kann, besteht darin, daß sie ein Programm und eine Politik entwickelt, die versucht, die gesellschaftlichen Probleme so gering wie Möglich zu halten. Es ist einfach unmöglich, daß eine Regierung, die einem derartigen Druck von Seiten der imperialistischen Länder ausgesetzt ist, in der Lage sein kann, ihrer Bevölkerung ein Traumland zu garantieren. Momentan versucht die Revolution einfach zu überleben und die Schwierigkeiten und Widersprüche, denen die Bevölkerung unterworfen ist, so gering wie möglich zu halten. Die Fähigkeit der Regierung und des Volkes hierzu werden über das Überleben der Revolution entscheiden.
Was hast Du seit 1984 gemacht? Arbeitest Du?
Ja, ich arbeite ein wenig, ich habe ein Buch geschrieben. Momentan arbeite ich an einem weiteren Buch über die ideologische Entwicklung der schwarzen Befreiungsbewegung in den USA und einige andere Themen, die damit zusammenhängen. Ich arbeite gerne mit jungen Menschen zusammen, denn sie sind die HoffnungsträgerInnen für die Zukunft. Ich versuche, soviel Kontakt wie möglich mit jungen Menschen zu haben – sei es über Englischunterricht oder Diskussionen über Rap-Musik.
Ivo Bozic hatte im April 1993 in Havanna die Gelegenheit zu einem Interview mit ihr, das wir hier gekürzt abdrucken. Die Übersetzung erstellte Heike Kleffner. Wir bedanken uns bei allen Beteiligten.
analyse und kritik, 12.01.1994