In den Kinosälen Havannas

Filmische Rundreise durch Lateinamerika.

Nachdem in der letzten Ausgabe von Cuba Libre das Festival des neuen lateinamerikanischen Films selbst, die Bedeutung für die Filmschaffenden und die allgemeine Atmosphäre im Vordergrund standen, soll hier den Filmen selbst Raum gegeben werden, die im Dezember 2022 gezeigt wurden.

Aus über 2.000 Filmen hatte das Festivalkomitee knapp 200 ausgewählt. Über 100 Lang- und Kurzfilme liefen im Wettbewerb um die Auszeichnungen in den unterschiedlichen Sparten Spiel- und Dokumentarfilm sowie Animation (jeweils unterteilt in lange und kurze Formate) und Debütfilm.


- Gabriela Mistral war eine chilenische Dichterin und Diplomatin, die 1945 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Geboren wurde sie in Vicuña, einer Stadt im Elqui-Tal. Ihre ersten Gedichte wurden in der Zeitung ‚Stimme von Elqui‘ veröffentlicht.

- Viola Chilensis ist ein Dokumentarfilm über das Leben der chilenischen Sängerin Violeta Parra und ein Wortspiel mit ihrem Namen. Chilensis ist eine Bezeichung aus der Botanik, die einheimische Pflanzen kennzeichnet - was wohl stärker noch als das eigentlich verwendete Adjektiv chilena (chilenisch) ihre enge Verbindung und Verwurzelung mit ihrem Land zum Ausdruck bringen soll, Viola ist ein Veilchen. Der Film kann auch in Youtube angesehen werden: Violeta Parra - Viola Chilensis)

Die andere Hälfte lief außerhalb des Wettbewerbs in Rubriken wie En Perspectiva (Ausblick), Panorama Internacional oder in speziellen Filmreihen zu einzelnen Künstlerinnen und Künstlern (wie Nicolás Guillen-Landrián) oder der Reihe in der Casa de las Américas. Dort waren Dokumentarfilme zu großen lateinamerikanischen – in diesem Jahr chilenischen – Persönlichkeiten zu sehen: Gabriela de Elqui, Mistral del mundo (Gabriela aus Elqui, Der Wind der Welt)/Allende, De Valparaiso al mundo (Allende, Von Valparaiso in die Welt)/ Neruda, El hombre y su obra (Neruda, Der Mensch und sein Werk)/Viola Chilensis.

Die Rubrik "Restaurierte Klassiker" rückt Kinogeschichte in den Mittelpunkt. La porta del cielo (1945) stammt vom sozial engagierten Drehbuch- und Regie-Duo des italienischen Neorealismus, Cesare Zavattini und Vittorio de Sica. Seine Vorführung wurde ergänzt durch einen Dokumentarfilm, der – ausgehend von der Restauration u. a. Von La porta del cielo – die Geschichte des italienischen Filmeschaffens seit den 1940er Jahren betrachtet.


Die 15 zeitgenössischen internationalen Filme kamen insbesondere aus Frankreich und Spanien, aber auch Italien, der Iran und die Türkei waren vertreten.

Lateinamerika in all seiner Widersprüchlichkeit: Geschichte und Gegenwart – Unterdrückung und Kampf um Befreiung

Ansonsten konzentrierte sich das Festival natürlich auf Lateinamerika. Die Themen waren die, die den Subkontinent betreffen und seit Jahrzehnten begleiten:

Geschichte und Auswirkungen des Kolonialismus und Neokolonialismus, der Reichtum bzw. die Bereicherung Weniger und die Armut bzw. Verarmung Vieler sowie die Gewaltstrukturen, die diese Ausbeutungsverhältnisse in den unterschiedlichen Herrschafts- und Staatsformen in Verbindung mit dem Wirtschaftssystem hervorbringen: Kolonialherrschaft, (Militär-) Diktatur, parlamentarische Demokratie innerhalb der (globalen) Marktwirtschaft, soziale Kämpfe innerhalb dieser Systeme und Versuche, die Diktatur des Marktes und des Profits gänzlich abzuschaffen. Gezeigt wird, wie das mal besser, mal schlechter gelingt, wie der Kampf um eine bessere Gesellschaft ebenfalls eigene repressive Gewaltdynamiken entfalten kann. Aber auch, welches Potential dieser Kampf in den Menschen und der Gesellschaft freisetzen kann und wie wichtig der Kampf für Gerechtigkeit trotz allem bleibt.

Die Verhältnisse in Lateinamerika sind eben wesentlich sichtbarer als in Europa von Ausbeutung unterschiedlichster Art, sozialer Ungleichheit, Gewalt, Machtmissbrauch und Korruption geprägt. Themen, die sich als roter Faden durch die Filme des Festivals zogen.

Schwere Zeiten für Komödien

Festival Internacional de Nuevo Cine Latinoamericano Das ist vermutlich einer der Gründe, weshalb Komödien auf dem Festival deutlich unterrepräsentiert waren. Dabei sind gute Komödien die Königsklasse des Filmeschaffen, die nur Wenige wirklich beherrschen. Die Gefahr ist zu groß, bei der Gratwanderung zwischen Humor, Witz und einem ernsten Thema, ins Lächerliche abzurutschen.

2022 habe ich beispielsweise überhaupt keine Komödie gesehen. Der einzige Film, bei dem ich laut Beschreibung komödiantische Elemente vermute, ist Carro rei (Das Königsauto/königliche Auto) aus Brasilien. Er handelt von einem Jungen, der mit Autos sprechen kann und diese Fähigkeit dazu nutzt, das Taxiunternehmen des Vaters zu retten, dem durch ein neues Gesetz, das alte Autos in der Stadt verbieten will, die Pleite droht.

Gelungene Komödien werden dafür umso mehr goutiert: 2019 durfte die argentinische Komödie (La odisea de los giles) das Festival eröffnen (und war auch der Publikumsliebling). Ihr gelingt es, ausgehend von Bankenkrise und Korruption, den Kampf einer Gruppe Verbündeter um ihr Geld (und Recht) amüsant zu verpacken. Die Beschreibung des Films mit Ricardo Darin ist im Festivalbericht 2019 von Uli Fausten in der CL vom Juli 2020 zu finden: Internationales Festival des Neuen Lateinamerikanischen Kinos.

Diktatur, Staatsterror und Widerstand

Ricardo Darín – als wohl bekanntester argentinischer Schauspieler dauerpräsent auf den Festivals in Havanna – ist auch Hauptdarsteller des Eröffnungsfilms des letzten Festivals: Argentina 1985.

Er erhielt den Preis als bester männlicher Hauptdarsteller für seine Rolle als Staatsanwalt Julio Strassera, der mit seinem Kollegen ein Team junger, engagierter und möglichst nicht korrumpierbarer junger Juristen ("die noch wenig zu verlieren haben") um sich schart, um die Ermittlungen gegen hohe Militärs durchzuführen. Die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte folgt dem Ermittlungsteam, das gegen alle Widerstände und Bedrohungen – die Hand der Militärs reicht noch immer weit und viele Mörder sind nach wie vor im Amt – die Bluttaten der Diktatur aufdeckt. In akribischer Kleinarbeit beweisen sie vor Gericht, dass die Gewaltexzesse keineswegs wie behauptet Überschreitungen einzelner Untergebener waren, sondern systematisch und von oben angeordnet erfolgten.

Einen weiteren Gerichtsprozess während der ‚Post-Diktatur‘ zeigt der Dokumentarfilm El silencio del topo, der den Journalisten Elias Barahona bei seinen Zeugenaussagen begleitet. Zum ersten Mal spricht er öffentlich über seine Zeit als Informant im Zentrum der Diktatur in Guatemala Ende der siebziger Jahre. Der Film veranschaulicht sowohl die blutige Verfolgung von Gegnern in den Militärdiktaturen nach dem Putsch gegen den gewählten demokratischen Präsidenten Jacobo árbenz 1954, als auch das noch immer präsente Schweigen und die Angst derer, die Widerstand geleistet haben.

Festival en Casa de las Americas Was es bedeutet, das eigene Land verlassen zu müssen und ins Exil zu gehen, greift ein anderer spannender Dokumentarfilm auf: Villa Olympica. Recuerdos de un mundo fuera del lugar. In ihm kommen einige der etwa 3000 Exilanten, u. a. aus Chile und Argentinien, zu Wort, die in den 1970er Jahren in dem mitten in Mexiko-Stadt für die Olympischen Spiele gebauten Stadtviertel untergebracht wurden. Die Eltern und Kinder erzählen von den Schwierigkeiten, sich einerseits ein neues Leben aufzubauen und sich auf das neue Land einzustellen und andererseits dem Bedürfnis, weiter an der Veränderung in ihrem Heimatland mitwirken zu wollen.

Die Frage nach Exil stellt sich der Protagonistin aus 1976, dem Debütfilm der chilenischen Regisseurin Manuela Martelli, nicht. Carmen ist eine Frau aus der Oberschicht, die aus dem Alltag ihres heilen Lebens gerissen wird, als der Priester sie bittet, einen Verletzten heimlich zu pflegen. Zuvor war sie mit der Verfolgung der politischen Gegner nur durch kurze Zwischenfälle konfrontiert, als z. B. Vor dem Laden, in dem sie gerade einkauft, eine Frau verprügelt und in ein Auto gestoßen wird, die verzweifelt den Umstehenden ihren Namen zuruft, um nicht ganz spurlos zu verschwinden. Doch kurz darauf hat der Alltag Carmen wieder. Sie zögert zunächst, gibt aber dann der Bitte des Priesters nach. Langsam baut sie eine Beziehung zu dem Verletzten auf und begibt sich in größere Gefahr, als ihr bewusst ist.

Auch in dem erschütternden dominikanischen Film Perejil (Petersilie) sind sich nicht alle über die Gefahr im Klaren, in der sie schweben. Dem Publikum wird zunächst das Leben und der Alltag der 1937 im Grenzgebiet der Dominikanischen Republik lebenden haitianischen Einwanderer gezeigt. Die Bedrohung durch die permanente rassistische Mobilmachung des Diktators Trujillo wird zwar immer wieder in Gesprächen aufgegriffen, aber nur wenige nehmen die markigen Ankündigungen wirklich ernst. Viele denken, da sie arbeiten und treue Staatsdiener sind oder mit einem Dominikaner verheiratet sind oder Geld haben oder oder oder … dass die Taten, die den Worten vielleicht folgen, nicht sie betreffen.

Während des mehrtägigen Massakers, dem zehntausende Menschen zum Opfer fallen, begleiten wir die hochschwangere Protagonistin auf ihrer Flucht und bei ihren verzweifelten Versuchen, ihren Mann und die Kinder zu finden. Der dominikanische Ehemann wird – kurz nachdem sie sich in den Wirren endlich wiederfanden – von einer Patrouille entdeckt. Diese prüft seine Loyalität, indem sie ihn zwingen will, zunächst einen Mann, dann einen Jungen abzuschlachten. Die Verweigerung des zweiten Mordes ist sein Todesurteil. Nach Tagen der Angst, in denen sie Hilfe und Verrat erfährt, bringt sie mit letzter Kraft ihr Kind zur Welt, das von einer jungen Frau, die die Schreie hört, an sich genommen wird. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, den der Regisseur José Maria Cabral dem Publikum mitgeben wollte, bevor es das Kino verlässt.

Das rassistische "Petersilien-Massaker" hat seinen Namen von einem zynischen Sprachtest: Wer aussah wie ein Haitianer und das Wort "Perejil" nicht richtig aussprechen konnte, wurde ermordet.

Diese direkte Darstellung der Gewalt ist schwer erträglich, aber lehrreich. Doch fast noch erdrückender ist die strukturelle Gewalt, die den herrschenden Ausbeutungsverhältnissen zugrunde liegt und sich immer wieder auf unterschiedlichen Ebenen Bahn bricht.

Der argentinische Dokumentarfilm En el cumplimiento del deber (Bei der Erfüllung der Pflicht) stellt Fragen zum Tod von acht Feuerwehr- und zwei Sicherheitsleuten bei dem Brand am 5. Februar 2014 in einem Archiv der Firma Iron Mountain in Barracas, Buenos Aires. Der Brand scheint nicht zufällig ausgebrochen. In dem Archiv lagerten Unterlagen einiger mächtiger Banken und großer Konzerne, gegen die wegen Geldwäsche ermittelt wurde. Die Angehörigen der Toten kämpfen um Aufklärung und werden von der Firma massiv unter Druck gesetzt, mit Gewalt bedroht oder mit Entschädigungszahlungen gelockt.

Die Gewalt wirkt gerade dadurch, dass sie nicht nur in eindeutigen Diktaturen, nur von Militärs oder in Favelas von Drogenbanden ausgeübt wird, sondern omnipräsent ist in Form von prügelnden Eltern (z. B. in Rafaela, Dominikanische Republik), Zwangsbordellen bei Goldminen (La Pampa, Peru u. a.), gelangweilten Neureichen, die indigene Jugendliche mit Baseballschlägern jagen (1991, Guatemala), Vorgesetzten im Militärdienst und der Odyssee, der sich eine Mutter ausliefert, um ihren Sohn vor der Front zu bewahren (Amparo, Kolumbien). Gewalt geht auch von einem gutmeinenden Justizangestellten an verurteilten jugendlichen Straftätern in einem Wiedereingliederungsexperiment (La jauría, Die Meute, Kolumbien) aus. Sie begegnet Straßenjungen aus dem Medellin, die auf der Suche nach dem Stück Land, das der Großmutter gestohlen und nun vom Gesetz den ursprünglichen Eigentümern wieder zuerkannt wurde, auf Schritt und Tritt. Am Ende werden sie – sich kurz vor dem Ziel wähnend – von Arbeitern des Konzerns, der auf besagtem Stück Land eine Mine betreibt, ermordet (Los reyes del mundo, Kolumbien). Gewalt begegnet der selbstbewussten Fernanda, die in Forageu (Vogelfrei, Brasilien) nach dem Tod ihrer Adoptivmutter in ihr Heimatdorf zurückkehrt, und dort die Ausbeutung von geistig Behinderten aufdeckt, die u. a. als Hausangestellte ‚gehalten‘ und auch sexuell missbraucht werden. Sie erfährt, dass sie selbst ‚Resultat‘ einer solchen Vergewaltigungen ist, kommt aber gegen die von ihrer Familie ausgehende Macht nicht an und wird zwangspsychatrisiert. Und immer wieder wird – insbesondere in Filmen aus Mexiko, ob auf dem Dorf oder in der Stadt – die Entführung von Familienangehörige thematisiert, die plötzlich verschwunden sind und die qualvolle und gefährliche Suche nach ihnen.

Gewalt erfahren auch viele Menschen, die Traditionen durchbrechen oder sich jenseits der gesellschaftlich definierten geschlechtlichen Rollenbildern definieren. Filme, die die Themen sexuelle Selbstbestimmung und Vielfalt behandeln, wurden auf dem letzten Festival besonders gewürdigt.

Neu: Ein Preis für die Vielfalt – der Premio Arrecife

Der 2022 zum ersten Mal vergebene Premio Arrecife (übersetzt: Korallenriff, das sich durch seine Vielfarbigkeit auszeichnet und an den sonst vergebenen Preisen, die Korallen heißen, gut anschließt) ging an den kolumbianischen Film Un varón, von Fabián Hernández, in dem ein Jugendlicher in Bogota sich unter Druck gesetzt fühlt, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen.

Viele weitere Filme (insbesondere aus Brasilien) zeigten die Suche nach und das Ausleben von sexueller Selbstbestimmung. Das Publikum konnte drei junge queere Menschen in Sao Paulo begleiten, die ihrer Lebenslust und sexuellen Experimenten fröhnen (Tres tigres tristes) oder der sadomasochistischen Experimentierfreude einer jungen Jurastudentin (Regra34).

Ein besonders beeindruckender Film war Desierto Particular (Brasilien/ Portugal) von Aly Muritiba, der die Entwicklung eines Polizisten zeigt, der einerseits liebevoll seinen Vater pflegt, andererseits wegen übersteigerter Gewalt vom Dienst suspendiert wird. Seit geraumer Weile hat er eine online-Beziehung und möchte die virtuelle Geliebte nun besuchen. Er fährt durch halb Brasilien, um in ihr Dorf zu kommen, doch sie ist dort unbekannt. Nach einigen Hindernissen findet er sie, doch sie ist schüchtern und entzieht sich ihm immer wieder. Er ist verwirrt und verzweifelt. Es entwickelt sich dennoch eine Romanze, bis er herausfindet, dass sie Trans ist. Er rastet erwartungsgemäß aus, schlägt sie aber nicht. Gefühlsverwirrt fährt er ab, kommt wieder, doch nun muss sie nun ihrerseits gehen, da ihre Familie das outing, das er forciert hat, nicht erträgt. Sie haben noch Abschiedssex auf der Busbahnhoftoilette, dann geht jede/r seiner Wege in ein neues Leben.

Schlussbemerkung: Was fehlt?

Die Sparte der Animationsfilme schafft es leider auch in diesem zweiten Teil nicht in den Artikel, es gibt einfach zu viele spannende Dinge von diesem Festival zu berichten.

Auch die kubanischen Filme selbst kamen an dieser Stelle noch gar nicht zu ihrem Recht – das wird ein dritter Teil dieses Artikels werden.

Ich hoffe dennoch, dass ich einen Eindruck vom Festival vermitteln konnte und kann nur allen, die sich für Lateinamerika und oder Film interessieren und spanisch können.

Hier kann der Katalog des Festivals heruntergeladen werden: CINE A LO GRANDE

CUBA LIBRE
Franziska Rheinke

CUBA LIBRE 3-2023