Havanna war zum 41. Mal Hauptstadt des kontrahegemonialen Filmschaffens.
Als wir aus dem Kino kommen, geht die doppelreihige Schlange derer, die schon für den nächsten Film anstehen, um zwei Häuserblockecken. Wir finden unsere Freundin, die für uns beide den Platz an ihrer Seite markiert hat, ziemlich weit hinten. Das "Markieren" ist etwas, das in Deutschland undenkbar wäre. Wenn einem da im Supermarkt kurz vor der Kasse siedend heiß einfällt, dass er die Rollmöpse vergessen hat und schnell nochmal zurück muss, dann gilt der holprige Kinderreim "Weggegangen, Platz vergangen". Nicht so in Kuba. Warten macht hungrig und manch einer kommt auf die Idee, sich im Imbiss auf der andern Straßenseite eine Pizza oder ein paar Churros zu holen. Kein Problem: Man sagt seinen unmittelbaren Nachbarn in der Schlange, dass man gleich wieder zurück sei und merkt sich deren Äußeres (Mann mit Knollennase und schwarz-grün gestreiftem Poloshirt, dicke blonde Frau in rosa Kleid mit tiefem Ausschnitt), denn man muss sie ja später wiederfinden. Dieses Verfahren ist für den sich Entfernenden freilich dann riskant, wenn (A) die markierte Position eher vorne liegt und (B) seine Angelegenheit etwas länger dauert als erwartet. Dann kann es nämlich passieren, dass bei seiner Rückkehr die vorderen drei Dutzend Menschen bereits ins Kino eingelassen wurden – einschließlich seiner beiden Referenzleute, auf die er sich nun nicht mehr berufen kann. Dann darf er sich 120 Meter weiter hinten neu anstellen …
Was das, bitteschön, mit dem Filmfestival zu tun hat? Jede Menge! Das Schlangestehen mit allem, was dazugehört, ist der Eintrittspreis, den der Festivalbesucher zahlt. Was ihm finanziell abverlangt wird, ist nicht der Rede wert. Der Zugang zur Kultur ist in Kuba ein Menschenrecht und muss als solches erschwinglich sein. Ein völlig vertrauter Anblick nach nur einem Tag Eingewöhnung ins halbwegs kontrollierte Gewimmel sind die Zeitungen in schwarz-weiß-blau. Dabei handelt es sich ausnahmsweise nicht um die Juventud Rebelde sondern um die Festivalzeitung, die es jeden Tag während der knapp 1½ Wochen für einen Peso Moneda Nacional an allen Festivalkinos zu kaufen gibt und dem für zwei Tage – diesen und den nächsten – zu entnehmen ist, was wann wo läuft. 21 Spielfilme messen sich im Jahr 2019 im Wettbewerb und verteilen sich im Wesentlichen auf sechs Lichtspielhäuser Havannas, die mit State-of-the-Art-Technik ausgerüstet sind. Es sind dies das "Charles Chaplin", das "23 y 12", das "Yara", das "La Rampa", das "Riviera" und (als einziges etwas dezentralisiert) das "Acapulco". Es werden im Rahmen des Filmfestes zirka 300 Filme vorgeführt. Auch die um keine der "Korallen" konkurrierenden werden teilweise in den genannten Spitzenkinos, doch natürlich außerdem in den vielen kleineren Kinos der Stadt gezeigt.
Geredet wird unter denen, die einander zu 95 Prozent völlig unbekannt sind, ständig: über Filme, die man gesehen hat, über die, die man noch sehen will – einschließlich des Streifens, für den man sich just die Beine in den Bauch steht – oder man fragt die Umstehenden, ob jemand diesen oder jenen Film schon kennt. Es wird gefachsimpelt, gelobt, gelästert, diskutiert. Einmal wurde ich in der Männertoilette des "Chaplin" beim Pinkeln Zeuge eines Gesprächs zwischen einem Cineasten (im Folgenden C) und der jungen Klofrau (im Folgenden KF), das ich etwa so in Erinnerung habe:
: Also, gestern habe ich im (nennt ein Kino) einen Film gesehen, über den ich mich ziemlich geärgert habe (nennt einen Titel). Zu viele Gewaltdarstellungen, für die ich gar keine Notwendigkeit sah.
KF: Unmotivierte Gewalt ist immer scheiße. Ich hatte gestern keinen Dienst und deshalb Zeit, mir in der Stadt (nennt einen Titel) anzusehen. Der ist zwar auch ganz schön hart, aber bei dem machen Gewaltszenen absolut Sinn. Er läuft übrigens heute um 12:30 Uhr hier bei uns.
C: Und was für ein Genre ist es?
KF: Gar nicht so leicht, das zu beantworten. Ich würde sagen, ein gesellschaftskritischer Action-Film. Das scheint nicht zusammenzugehen, passt aber.
C: Der stand zwar nicht auf meinem Wunschzettel, aber jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Die vielleicht 20jährige lässt einen abgezählten Trupp recht betagter Männer passieren und ruft ihnen hinterher: "Linkes Urinal und mittlere Kabine außer Betrieb – und nicht das Abziehen vergessen, Jungs!" Die KF, übrigens fast immer dieselbe, die für die – von vereinzelten erbaulichen Dialogen einmal abgesehen – sterbenslangweilige Tätigkeit wenigstens Trinkgelder bekam, hatte, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, diesen Film empfohlen:
BACURAU, Brasilien,
Frankreich 2019, 132 Min
Bacurau ist ein Dorf im Süden Brasiliens (eines Brasilien, das wenige Jahre in der Zukunft liegt, wie es in der Inhaltsangabe heißt), in das Teresa zurückkehrt, um dem Begräbnis ihrer Großmutter beizuwohnen, die dort wie eine Heilige verehrt wurde. Während ihres Aufenthalts bemerkt sie seltsame Dinge in Bacurau, das eigentlich kein Hinterwäldlerkaff mehr ist. Der Ort ist elektrifiziert und mit Wasserleitungen versehen, aber Wasser fließt nicht mehr aus den Hähnen, weshalb die Bewohner neuerdings durch Trinkwassertankwagen versorgt werden müssen, und auf die wird zu allem Überfluss auch noch geschossen – mit der offenkundigen Absicht, dass unterwegs möglichst viel Wasser verlorengehe. Man kann auch nicht in der nächstgelegenen Stadt um Hilfe nachsuchen, denn die Autostraße dorthin ist gesperrt, die Telefonleitungen sind gekappt und das Unheimlichste: Bacurau ist von den Landkarten auf Computern und Smartphones schlicht verschwunden. Offiziell gibt es den Ort gar nicht mehr. Es dauert eine Weile, bis die Dörfler darauf kommen, was für ein teuflischer Deal da im Gange ist: Das Gebiet der Ortschaft und ihrer Umgebung hat die Gier von Spekulanten geweckt, mit denen der Gemeindebürgermeister unter einer Decke steckt. Wer nicht, durch die Umstände entnervt, wegzieht, wird umgebracht. Zu diesem Zweck hat man ein knappes Dutzend Psychopathen angeheuert, die gern Angehörige "minderwertiger Rassen" töten (was das Gewissen ja kaum belastet).
Und, anders als Berufskiller, muss man die nicht mal bezahlen, denn schließlich stellt man ihnen eine Spielwiese zur Verfügung, auf der sie ihr perverses Steckenpferd reiten können. Eine Minidrohne zeigt den Killern, wo Leute umstandsfrei abzuknallen sind. Bacurau selbst hat die Gruppe (wunderbar als Anführer: der notorische Bösewicht deutschen Filmschaffens Udo Kier) wegen seiner Größe noch gemieden, aber als ein Übereifriger dort eines nachts während eines Festes einen 8jährigen Jungen erschießt, spitzen sich die Dinge zu. Als die Einwohner beschließen, sich systematisch zur Wehr zu setzen, (wobei Teresas tote Großmutter in typischer Manier des "fantastischen Realismus" lateinamerikanischen Kinos noch eine Rolle spielt) wird es so richtig spannend und so richtig blutig …
Ein brutaler Film? Gewiss. Ein tumber Baller-Movie? Sicher nicht. Und dass manche der Gewalt-Exzesse ein wenig voyeuristisch geraten sind, ist lediglich mein subjektiver Eindruck, der objektiv nicht zutreffen muss. Außerdem: Ist dieses Alptraum-Szenario wirklich eine Zukunftsvision? Wäre so etwas nicht auch in diesen Zeiten bereits denkbar, Zeiten, in denen Skrupel für anachronistisch gelten und der materielle Zweck alle Mittel heiligt? Muss man nicht schon Angst haben, dass der Film den einen oder anderen auf Ideen bringen könnte?
DIVINO AMOR, Brasilien,
Chile, Dänemark, Norwegen,
Schweden, Schweiz,
Uruguay 2019, 101 Min
Die Handlung ist im Jahr 2027 angesiedelt. Hauptfigur ist Joana, die in einer Art Standesamt arbeitet. Dort hat sie es aber nicht mit Heirats- sondern mit Scheidungsaspiranten zu tun. Joana und ihr Mann Danilo, die unter ihrem unerfüllten Kinderwunsch leiden, gehören der evangelikalen Sekte "Divino Amor" (Göttliche Liebe) an, in der trennungsgefährdete Paare durch ritualisierte Sexualakte mit Partnertausch therapiert werden. An dieser Stelle ist ein Einschub angebracht: Brasilianisches Kino ist generell sehr körperlich. Auch in "Divino Amor" wird gevögelt, als gäbe es kein Morgen, aber zumindest passt es hier. Und komisch ist der Film. Zum Beispiel, als Yoana sich eines Tages mit einem Scheidungswilligen auf der Kundenseite ihres Schalters beredet, der sich für den therapeutischen Rudelbums vor dem wohlgefälligen Angesicht Gottes partout nicht erwärmen kann und sie schließlich erbost mit den Worten unterbricht "Ich will sofort Ihren Vorgesetzten sprechen!", worauf Joana ihm erwidert: "Mein Vorgesetzter ist nicht von dieser Welt." Als sinnenfrohe, aber doch streng gläubige Frau, fährt sie mit ihrem Kleinwagen oft in eine Drive-In-Kirche für Fast Gebete (in den USA gibt es sowas, wie man hört, schon) und klagt dem Akkordgeistlichen ihr Leid, dass sie einfach nicht schwanger werden könne. Das ändert sich an dem Tag, als ein Ganzkörperscanner, wie er in jener virtuellen nahen Zukunft in jedem öffentlichen Gebäude üblich.
ist, bei ihr eine Schwangerschaft feststellt. Der Freude folgt tiefe Verwirrung, als Vaterschaftstests weder eine Übereinstimmung der DNA ihres Ehemanns, noch ihrer peinlich genau registrierten Divino-Amor-Liebhaber mit dem Fötus ergeben. Joana bekommt ein Kind ohne Vater, allerdings auch ohne Verkündigungsengel Gabriel. Als sie ihren ungeheuerlichen Verdacht äußert, beschuldigt der Priester sie der Häresie. Ihr Mann Danilo verlässt sie – auch Josef hatte Maria nicht wirklich die unbefleckte Empfängnis abgenommen – und in der Schlusssequenz wird endlich klar, wer der Ich-Erzähler aus dem Off mit der Pieps-Stimme ist, der uns Zuschauern zwischendurch immer wieder von Joana erzählte: Es ist die (ziemlich mickrige) Frucht ihres Leibes, die nun wohlig auf dem Bett strampelt. Dass ziemlich viele aus dem Publikum vorzeitig das Kino verließen, hatte vermutlich weniger mit den saftigen Kopulationsszenen zu tun (da sind Kubaner nicht so leicht zu erschüttern) als damit, dass sich etliche von dieser Satire auf moderne Zeiten in ihrem Bibelglauben veräppelt fühlten. Alles in allem: ein sehr vergnüglicher Abend.
Ich habe die beiden – sehr unterschiedlichen! – Streifen mit Bedacht direkt hintereinander gestellt. Sich dem Festival mit Haut und Haaren zu verschreiben, bedeutet, die Gefühle Achterbahn fahren zu lassen. Ich kann mich noch erinnern, wie im vorigen Jahr, als wir gerade vor dem "Chaplin" in der Warteschlange für eine Komödie anstanden, von schräg gegenüber, dem "23 y 12", ein Mann über die Straße kam, dessen Gesicht tränenüberströmt war. Leute gingen auf ihn zu, sprachen ihn an: "Was ist passiert? Können wir helfen?" Er winkte ab und versuchte trotz allen Wassers, das immer noch floss, sogar ein Lächeln. "Danke, nein. Ich hab nur eben einen Film über die Militärdiktatur in Uruguay gesehen."
Ich hätte den Beitrag fast "Havanna im Ausnahmezustand" genannt – habe es mir aber dann anders überlegt. Dass man das Festival an jedem Ort spüren kann, dazu ist die Stadt denn doch zu groß. Es gibt allerdings Stellen, da könnte man diesen Eindruck gewinnen. Beim "Yara" zum Beispiel, Havannas größtem Kino und einem DER Lichtspielpaläste Lateinamerikas. Menschenschlangen bis zum Pavillon Cuba und darüber hinaus! Wir haben dort (mit viel Dusel) noch einen der letzten Sitzplätze ergattert, und zwar für:
A VIDA INVISIVEL DE EURIDICE GUSMAO, Brasilien,
Deutschland 2019, 139 Min
Eine Familiensaga, die im Rio de Janeiro der 50er Jahre beginnt: ein recht spießiger, nicht unvermögender Bäckereibesitzer mit Frau und zwei hübschen Töchtern, von denen die ältere gerade beginnt, ihre Sexualität auszuleben, während die jüngere – jene Euridice mit dem unsichtbaren Leben aus dem Filmtitel – eine begabte Pianistin ist und davon träumt, am Konservatorium von Wien zu studieren. Das Unheil nimmt seinen Lauf, als die Ältere eines Nachts mit einem griechischen Seemann durchbrennt, der sie aber in seiner Heimat sitzen lässt, woraufhin sie in einer viele Monate währenden Irrfahrt irgendwie wieder zurück nach Brasilien gelangt – schwanger, aber ohne Mann. Ihr zorniger Vater verstößt sie. Inzwischen ist Euridice verheiratet worden, und als sie von ihrer Hochzeitsreise zurückkehrt, erzählt ihr Vater ihr das Märchen, ihre unmoralische Schwester habe mit der Familie gebrochen und sei ohne Angabe einer Adresse verzogen. In der Folgezeit glaubt die Ältere, die jetzt in einem Armenviertel wohnt, Euridice habe in Europa als Konzertpianistin Karriere gemacht und schreibt ihr Briefe, die sie nie erreichen, während diese wiederum ihr ganzes weder glückliches noch völlig unglückliches Leben lang versucht, die abhanden gekommene Schwester in dem Moloch Rio ausfindig zu machen. Übergeordnetes Thema ist der "machismo" – der teils gar nicht mal so plump und plakativ daherkommt, aber immer spürbar ist – und das überaus mühsame Unterfangen von Frauen, der Männerwelt hier und da ein Taschentuch voll Unabhängigkeit abzutrotzen.
Einen sehr bezeichnenden Moment hat der Film, als Euridice ihrem Mann strahlend erzählt, dass sie einen schwierigen Klavierspielwettbewerb gewonnen hat und sich auf seiner Miene überhaupt keine Freude zeigt, sondern eher Bestürzung. Ihm ist klar, dass von nun an jedes Pianospiel, das Gnade vor den Augen einer Jury findet, sie ein Stück mehr seiner Kontrolle entziehen wird. "Euridice Gusmao" ist ohne Zweifel großes lateinamerikanisches Kino, das an jenem späten Nachmittag noch dadurch geadelt wurde, dass nach dem Film zwei Hauptdarstellerinnen auf der Bühne vor der Leinwand erschienen, von denen eine berichtete, dass der Film im Brasilien Jair Bolsonaros nicht gezeigt werden dürfe. Und das macht schon Sinn, weiß man doch, dass nach der neoreaktionären Denke der brasilianischen Regierung die Frau dem Manne untertan sein sollte.
Man trifft kaum auf Habaneros, die von dem Festival nichts wissen, aber durchaus auf solche, die sich vor dem tollen Kulturangebot "drücken". Wir machten die eine oder andere Couch-Potato unter den Taxifahrern stellig, die uns zum Festival brachten. Diese sagen dann entweder "Ich habe doch zu Hause Fernseher und DVD-Player", und der Unterschied zu einer Riesenleinwand mit Dolby-Surround will ihnen keineswegs einleuchten. Oder sie geben zu bedenken, ins Kino gehen sei doch eher etwas "für junge Menschen". Eine andere Spezies gibt es, die zwar ins Kino geht, aber nicht, um Filme anzuschauen, sondern wegen der Geselligkeit. Wenn du zwei Nachbarinnen aus demselben Barrio in deiner Nähe sitzen hast, kannst du dir nur noch gratulieren: Quasseln ohne Punkt und Komma! Willst du sie zur Ordnung rufen, heißt es meistens: "Der Ton ist so laut eingestellt. Wenn ich leiser rede, versteht sie mich nicht."
Eröffnungsfilm des 41. Internationalen Festivals des Neuen Lateinamerikanischen Kinos war
LA ODISEA DE LOS GILES,
Argentinien, Spanien
2019, 117 Min
Wer den Titel in den Google-Übersetzer eingibt, der erhält "Die Odyssee der Dummen" oder "der Einfältigen". Diese Begriffe sind aber spätestens bei Dummkopf oder Einfaltspinsel negativ besetzt, und das ist nicht im Sinne des Filmemachers Sebastián Borensztein. Er lässt die Darsteller der "Giles" gleich im Vorspann sagen, was es mit dem Begriff vor allem auf sich hat: "Giles" sind Leute, die zwar naiv sind, aber redlich und geradeheraus – "vor lauter Gutheit nichts wert", würde man vielleicht bei uns sagen. Dass solche Menschen leicht zu übervorteilen sind, ist klar, weil es schier ihr Vorstellungsvermögen übersteigt, dass andere diesen Wunsch hegen könnten. Unsere "Giles" sind liebenswerte, etwas kauzige Zeitgenossen, die in der Periode des Totalausverkaufs Argentiniens durch Carlos Menem und Konsorten beschließen, all ihre Ersparnisse in ein gemeinsames Projekt zu stecken und die durch den Coup eines skrupellosen Bankers plötzlich mit leeren Händen dastehen. Drei Viertel des Films drehen sich nun darum, wie sie diesem Hurensohn sein Geld – nein, ihr Geld – wieder abnehmen können. Ein komplizierter Vorgang, der einiges an kollektiver Planung erfordert, wodurch sich zeigt, dass die Geschädigten durchaus keine Dummen sind. Bis sie ihren Vorsatz schließlich in die Tat umsetzen (und dabei durch Gelder anderer anonymer Geprellter erheblich mehr erbeuten, als sie verloren hatten), hat das Publikum einiges zu lachen, aber stets vor dem ernsten Hintergrund einer katastrophalen Politik jener Tage.
"Havanna – seit 41 Jahren Hauptstadt des kontrahegemonischen Filmschaffens", titelt Laura Mercedes Giraldez von der Granma. Im Juni 1961 kündigte Fidel an, dass Kuba "einen Krieg gegen die Unkultur" beginnen werde. Gemeint war der Krieg gegen den kulturellen Kolonialismus, der seinerseits dreimal dürfen wir raten von wo ausging. Abel Prieto fasst in seinem Artikel über die damalige Aufbruchstimmung noch einmal einige Punkte zusammen: "Die Minderwertigkeitskomplexe und der zwanghafte und unterwürfige Blick nach Norden würden verbannt werden. (…) Die Revolution hatte bereits das ICAIC, die Casa de las Americas, die Nationale Druckerei und die Schule der Kunsterzieher gegründet und befand sich mitten in der Alphabetisierungskampagne. (…) Fidel unterstützte persönlich die Gründung von Verlagshäusern … und verwandelte die Buchmesse von Havanna in einen riesigen Wanderevent, der das gesamte Staatsgebiet abdeckte." Er wurde auch zum Spiritus Rektor der Biennale der Hauptstadt, wobei zwei Grundsätze festgeschrieben wurden: "Sie würde keine kommerzielle Veranstaltung sein und sie würde Künstlern aus dem Süden bevorzugten Raum geben. (…) Kultur … beeinflusst auch einen schwer zu beschreibenden Bereich des Menschen: das, was wir gemeinhin als >Werte< bezeichnen. Echte Kunst holt das Beste aus dem Menschen heraus, stärkt seinen Sinn für Ethik, hilft ihm zu wachsen, stellt die Spiritualität in den Vordergrund, hemmt marginales und gewalttätiges Verhalten und ist das beste Gegenmittel gegen die Konsumpredigten und das Wettbewerbsparadigma des Kapitalismus."
LA LLORONA, Guatemala,
Frankreich 2019, 97 Min
Die Legende:
La Llorona (Die Weinende) ist eine mythische Figur, die in ganz Lateinamerika bekannt ist. Es handelt sich um eine indigene Frau, die – aus regional unterschiedlichen Beweggründen – ihre Kinder ertränkt hat und diesen Umstand nun – anderen als Geist erscheinend – beklagt. Einer unheimlichen Variante der Legende zufolge hört man das Weinen der Llorona umso lauter, je weiter sie entfernt ist. Nimmt man es nur ganz leise wahr, ist sie sehr nahe …
Der Film:
Jahrzehnte nach der Ermordung vieler Maya während eines bewaffneten Konflikts in Guatemala wird ein Strafprozess gegen Enrique Monteverde eingeleitet, einen General im Ruhestand, der damals die Oberaufsicht über den Völkermord hatte. Im Gerichtsverfahren wird er jedoch freigesprochen. Er zieht sich mit seiner Familie (Ehefrau, Tochter, Enkelin) und einigen Bediensteten in sein Stadthaus zurück, wo er von den Angehörigen seiner Opfer mit Vergrößerungen von Fotos derjenigen, die er seinerzeit ermorden und verschwinden ließ, auf Postern und Transparenten belagert wird. Der Protest ist stumm, aber ständig präsent. Als der General anfängt, nachts Geräusche zu hören und mit seiner Pistole bewaffnet durchs Haus schleicht, halten die Mitbewohner ihn anfangs für zunehmend dement. Aber Monteverde hört (und sieht, ohne es zu wissen) die Llorona, die sich im Laufe des Films in verschiedenen Manifestationen zeigt, vornehmlich in der Person des jungen eingeborenen Dienstmädchens Alma in ihrem Zwangsrefugium, also mitten unter ihnen. Die Llorona des Films ist indes keine, die ihre eigene Schuld bejammert. Sie ist vielmehr das personifizierte schlechte Gewissen der Schuldigen von einst, die sich jedoch zunächst keine Blöße geben. Ein stets wiederkehrendes, unheilvolles Motiv ist das Wasser. Sei es, dass Alma der Enkelin des Generals – vermeintlich spielerisch – den Kopf in der Spüle untertaucht, um zu testen, wie lange sie die Luft anhalten kann, sei es, dass sie sich dem immer paranoider werdenden Menschenschlächter verführerisch nachts in der Wanne zeigt, sei es, dass sie ihm erscheint, indem sie die in wundersamer Weise völlig verkrautete und mit hüpfenden Fröschen bedeckte Oberfläche seines Swimming Pools von unten mit dem Kopf durchstößt und ihn verleitet, in seinem Schrecken Schüsse auf sie abzugeben, womit er um ein Haar seine Enkelin tötet: Denn in Wirklichkeit ist sie es, die in ganz normalem Wasser ein spätes Bad nimmt. Das Motiv Wasser verweist auf die grausame Praxis der Knechte des Regimes, Kinder im Fluss der Waterboarding-Folter zu unterziehen, und zwar vor den Augen ihrer Mütter, um diese dazu zu zwingen, Aussagen zu Verstecken von Rebellen zu machen, was sie häufig gar nicht können, selbst, wenn sie es wollten. Diese Frauen mussten hilflos zusehen, wie ihre Kinder – unerwünschten Katzenjungen gleich – ersäuft wurden. Eine wichtige Rolle im Film ist die der Ehefrau des Generals, die, als ihre Tochter einmal einen schüchternen Versuch zur Vergangenheitsaufarbeitung macht, in unbelehrbar arroganter Weise reagiert. Aber bald schon haben Alpträume sie im Würgegriff: Sie träumt immer wieder, sie wäre eine jener Mütter, die durch die Hölle gehen. Regisseur Jayro Bustamante zeigt sie aber nicht als junge Mutter, wenn sie Verzweiflungsschreie ausstößt, sondern als die faltige, alte Frau, die sie mittlerweile ist. Im Traum wird sie gleichsam selber zur Llorona, denn auch sie ist schuldig - schuldig der Herzenskälte und Verhärtung gegenüber den Taten ihres Gatten. Am Ende schnürt sie ihm mit eigenen Händen die Luft ab. Es ist jene Nacht am Schluss des Films, in dessen Klimax die Fotos der Vermissten und Getöteten, die die Demonstranten mit sich führen, plötzlich lebendig werden und einzeln oder in Gruppen im dunklen Garten stehend durch das Panoramafenster ins Haus starren. "La Llorona" ist ein zusehends immer schrecklicher werdender Film, ein Horrorfilm indessen nie. Billige Effekte: Fehlanzeige. Ich hatte ihn ganz oben auf meiner persönlichen Liste potenzieller Gewinner der Spielfilm-Koralle.
Aber es kam anders. Sieger wurde LOS SONÁMBULOS, Argentinien/Uruguay 2019, 107 Min, was gewiss kein schlechter Film ist, aber wir haben immerhin 16 der sich um die prestigeträchtigste Koralle bewerbenden Streifen gesehen, also gut drei Viertel von allen, und hätten einhellig "Die Schlafwandler" nicht höher als im oberen Mittelfeld angesiedelt. Zuweilen begreift man Jurys nicht. Etwas ratlos blieb man auch angesichts der Tatsache, dass Kuba in dieser Kategorie mit "Buscando a Casal" (Film über das Leben eines Dichters aus der Kolonialzeit) gerade mal einen Wettbewerber stellte. Wieviel üppiger war der Tisch doch noch 2018 gedeckt, aber Kuba geht durch schwere Zeiten und vermutlich hatte das auch Auswirkungen auf die Subventionen.
Der Film "LA RED AVISPA" (Das Wespennetz) handelt von den berühmten Cuban Five, ist jedoch keine kubanische Produktion. Wir hätten ihn trotzdem gern gesehen, aber der Andrang war riesig und Wartezeiten von bis zu fünf Stunden ließen uns dann doch zurückschrecken. Wir hatten uns eine Woche frei genommen und waren innerhalb von acht Tagen in 25 Filmen. Rundheraus schlecht fanden wir nur zwei. Von vielen waren wir angetan, von manchen auch begeistert. Eine lohnende Erfahrung, die wir 2020 ganz bestimmt wiederholen werden.
Uli Fausten
CUBA LIBRE 2-2020