Das Buch
Die 24. Buchmesse von Havanna ist gleichzeitig unsere erste. In den Jahren vor unserer Pensionierung als Lehrer waren wir im Februar immer anderweitig gebunden. Nun stehen wir um Viertel vor zehn am Vormittag vor einem Kassenhäuschen und warten darauf, dass es öffnet: Denn um Punkt 10 soll die Buchvorstellung von Volker Hermsdorf losgehen, aber allgemeiner Einlass ist auch erst um Punkt 10. Liebenswerte Unlogik kubanischer Planung! Als wir mit etlichen Minuten Verspätung auf dem weitläufigen Gelände der Cabana den Saal Alejo Carpentier gefunden haben, hat die Veranstaltung noch nicht begonnen. Die Befürchtung, ein parallel stattfindendes Event mit den Fünf im Saal Nicolás Guillen werde viele Interessierte abziehen, erweist sich als gegenstandslos. Die Stuhlreihen füllen sich ganz ordentlich und das, obwohl die Person, um die es hier in erster Linie geht, abwesend ist: Hans Modrow, vorletzter Ministerpräsident der DDR, wäre wohl gekommen, wenn die Übersetzung seines Buches »Amboss oder Hammer« ins Spanische rechtzeitig geklappt hätte. Modrow ist der gleiche Jahrgang wie der Che (1928) und hat als 87-Jähriger das nachvollziehbare Gefühl, mit seinen Kräften haushalten zu müssen. Schön wäre es, wenn er den Besuch dieser Messe im nächsten Jahr – mit dem dann übersetzten Buch – realisieren könnte.
Buchpräsentation in Havanna: v.l.n.r. Jörg Rückmann, Volker Hermsdorf, Jesús Irsula |
Heute jedoch muss sein Koautor Volker Hermsdorf das Buch allein vorstellen. Dies geschieht in der gleichen Form, in der auch das Buch konzipiert ist: der des Interviews. Jörg Rückmann von »Cuba Sí« stellt die Fragen. Die Übersetzung für die spanischsprachigen Besucher der Veranstaltung besorgt Jesús Irsula, der ein langjähriger Freund Modrows ist und früher auch schon mehrfach für Fidel gedolmetscht hat.
Die erste Frage ist ebenso provokativ wie naheliegend: »Braucht Kuba ein deutsches Buch über Kuba?« Volker erwidert schmunzelnd, was Kuba ganz sicher nicht brauche, das seien Ratschläge von deutscher Seite. Denn wenn man dort wüsste, wie Sozialismus geht, gäbe es die DDR noch.
Schnell kommt die Sprache auf die Unterschiede zwischen der DDR und Kuba. Die DDR habe als Besatzungsgebiet begonnen und die Sowjetunion habe Elemente ihres eigenen Sozialismusmodells auf sie übertragen. Dem gegenüber sei das revolutionäre Kuba immer souverän gewesen; zumindest habe es dort nie solche Abhängigkeiten von der UdSSR gegeben wie seitens der DDR.
Auch sei in Kuba der revolutionäre Prozess immer vom Volk mitgetragen worden. Hans Modrow erinnere sich in diesem Zusammenhang noch gut an seiner erste Kubareise. Die fand 1970 statt, demselben Jahr, in dem das Planziel ausgegeben worden war, die aberwitzige Menge von 10 Millionen Tonnen Zuckerrohr zu ernten. Dieses Ziel, dem monatelang alles untergeordnet worden war, wurde mit 8,5 Millionen Tonnen (auch dies eine Rekordernte) klar verfehlt. Fidel stellte sich nach dem Misserfolg auf der gesteckt vollen Plaza de la Revolución den Leuten, lobte sie für ihr übermenschliches Engagement und sprach sie von jeglicher Schuld an dem Fiasko frei. Er selbst, so sagte er damals, und die Leitung des Landes seien es vielmehr, die schwere Fehler begangen und versagt hätten. Er stellte dem Volk anheim, sich fähigere Repräsentanten zu suchen. Aber die Massen applaudierten ihm und stärkten ihm so den Rücken. Dieses Gefühl der Gemeinsamkeit zwischen Volk und Regierung und diese Art, sich des Vertrauens der Bevölkerung zu versichern, habe es in der DDR nie gegeben. Dies habe nicht ihrem Verständnis von Politik entsprochen.
Das Volk in der DDR habe außerdem einen zunehmenden Unterschied zwischen der in den Medien verbreiteten Realität und der vom ihm gelebten festgestellt.
Auch in der DDR habe man bemerkt, dass man eine starke ökonomische Basis braucht – und Walter Ulbricht habe versucht, diese anhand des Neuen Ökonomischen Systems NÖS zu schaffen. Teile des NÖS hätten eine Ähnlichkeit mit den Leitlinien gehabt, wie sie auf dem 6. Parteitag in Kuba verabschiedet wurden. Sie hätten aber nicht den Beifall der Sowjetunion gefunden und seien von Erich Honecker dann auch nicht weiter verfolgt worden.
Thema war natürlich auch das Verhältnis der europäischen Staaten zu Kuba. Positiv könne man vermerken, dass der berüchtigte »gemeinsame Standpunkt«, nach dem die Europäische Union gegenüber Kuba nur mit einer Stimme sprechen (oder eben eher nicht sprechen) darf, in Auflösung begriffen sei. Schon im vergangenen Jahr habe es Initiativen etwa von britischer und niederländischer Seite gegeben. Leider stehe Deutschland nicht gerade in vorderster Linie dieser Bemühungen, bemerkte Volker Hermsdorf mit einem feinen Sinn für Understatement. Das sollte es aber unbedingt, fügte er hinzu, denn schließlich sei Kuba, wenn auch nicht wirtschaftlich, so doch politisch zu einem »global player« geworden, zu einer zentralen Figur im Prozess der lateinamerikanischen Integration und Einheit. Allein schon die Tatsache, dass am 17. Dezember Raúl Castro und Barack Obama zeitgleich Reden an ihr jeweiliges Volk hielten, spreche für Kubas Stärke – auch in der Wahrnehmung derer, die ihm nicht gewogen seien.
Die abschließende Frage lautete, ob denn Europa etwas von Kuba lernen könne. Volker Hermsdorf machte deutlich, dass Hans Modrow das Buch für deutsche Leser geschrieben habe, auch wenn er es gern auf Spanisch übersetzt und in Kuba veröffentlicht sähe. Er sprach von der teils dramatischen Lage in Europa, wo, wie z. B. in Spanien, die Hälfte aller Jugendlichen keine Aussicht auf einem Arbeitsplatz habe, von einem Europa mit immer weiter anwachsenden Sozialabbau und immer höheren Selbstmordraten. Das Lernen sei sicher wechselseitig. Jeder könne von den Erfahrungen des anderen profitieren.
Am Ende der Veranstaltung gab der Vertreter des Instituts für Völkerfreundschaft (ICAP), Maikel Veloz, der Hoffnung Ausdruck, dass das Buch nun bald ins Spanische übersetzt werde, damit Hans Modrow es auf der »Feria del Libro« im nächsten Jahr aus eigener Sicht vorstellen könne.
Das Gelände
Eine »frente frío« bescherte Kuba während der Buchmesse Extremtemperaturen: Unglaubliche 1 Grad Celsius in der Provinz Mantanzas am 18. Februar |
Wir beschließen, die Messe ein wenig zu erkunden. Nicht systematisch, dazu ist das Wetter zu schön. Die Kaltfront, die den Westen der Insel in den letzten Tagen im Griff hatte, macht eine Pause. Für einen Dienstag sind viele Leute unterwegs. Wir sind froh, nicht am Wochenende gekommen zu sein und lassen uns im Menschenstrom mittreiben, wobei wir mal da, mal dort an einem Stand Halt machen.
Fußballbilder in Überfluss, wie wir etwas irritiert feststellen. Mehr laminierte Hochglanzposter von Lionel Messi würde man auch in den zahllosen Buden und Kiosken auf Barcelonas berühmter Flaniermeile »Las Ramblas« nicht finden. Anders als dort hat man hier allerdings auch noch in etwa gleicher Anzahl Poster von Madrids Cristiano Ronaldo und – in etwas geringerer Menge, aber im gleichen Proporz – Mannschaftsfotos von Barca und Real. Wer es nicht besser wüsste, könnte beim Durchwandern der Buchmesse auf den völlig irrigen Gedanken kommen, Fußball sei in Kuba der Nationalsport Nummer 1. Nicht dass viele Jugendliche zu sehen gewesen wären, die den Händlern die Poster aus den Händen gerissen hätten. Das bunte Zeug liegt nur vor sehr vielen Verkaufsständen aus.
Wir finden nicht alles, was wir suchen. Das ist zum Teil sicher der Tatsache geschuldet, dass wir uns in einem Festungskomplex befinden, der überwiegend kasemattenartig angelegt der Stadtverteidigung und nicht der Unterbringung von Verlagen dienen sollte. Aber gerade unter den obwaltenden Umständen wäre die Ausschilderung schon noch zu optimieren.
Das immer wieder gern erwähnte Phänomen, dass kubanische Messebesucher sich nach dem Kauf sogleich hinsetzen, um ohne jeden weiteren Verzug mit der Lektüre zu beginnen, gibt es, wie ich endlich aus eigener Anschauung bestätigen kann, tatsächlich. Sie sitzen lesend auf Bänken, Mäuerchen, mitgebrachten Klappstühlen, Bordsteinen und Grünflächen. Manche von ihnen sitzen auch, obwohl das eigentlich verboten ist, auf Kanonen.
Das Ereignis
Die Buchmesse von Havanna ist – man kann es nicht oft genug erwähnen – die größte und bedeutendste ihrer Art in ganz Lateinamerika und der Karibik. Dabei gibt es doch wahrlich zahlreiche größere Metropolen in der Region als die kubanische Hauptstadt mit ihren recht bescheidenen zwei Millionen Einwohnern. Aber allem Anschein nach ist in Kuba die Rezeption von Kultur – immer noch – etwas anderes als anderswo und die Buchmesse ist populärer als jedes andere kulturelle Ereignis in diesem an Kulturevents gewiss nicht armen Land. In einem Vorbericht zur Messe las ich in der Granma den Satz: »Havanna bekleidet sich wieder mit Literatur.«
Ausländische Besucher zeigten sich beeindruckt. Bei einer Gesprächsrunde im Fernsehen anlässlich der Buchmesse staunte ein chilenischer Journalist über Menschenschlangen von »einem Kilometer Länge« vor dem Einlass. Da mag er ein wenig übertrieben haben, aber wahrscheinlich kam es ihm so vor, wenn er Havannas »Feria« mit anderen internationalen Buchmessen verglich. Und über all die Leute, die »Eintritt zahlen, um Bücher kaufen zu können«, konnte er sich überhaupt nicht beruhigen.
Allein an literarischen Büchern wurden über 2000 Titel zum Kauf angeboten, darunter 854 Neuerscheinungen. Natürlich gab es auch digitale Projekte, Foren, Konferenzen, Kolloquien mit Intellektuellen aus mehr als 30 Ländern und vieles mehr auf dem Gelände. Manches war ausgegliedert. So fand z.B. das 5. Treffen der Jungen Autoren Lateinamerikas und der Karibik im Zentrum Dulce Maria Loynaz in Vedado statt - das der Literatur für Kinder in der Kulturgesellschaft José Martí und der Kulturaustausch Paolo Freire bei den Gewinnern des Nationalpreises für Gemeindekultur, den mittlerweile auch außerhalb des Landes bekannten Mauermalern von »Muraleando« in Lawton.
Die Buchmesse ging am 22. Februar hier in Havanna zu Ende, aber zu Ende ist sie deswegen noch lange nicht.
312 359 Besucher weisen die Kassenhäuschen aus, ca. 1400 mehr als im letzten Jahr. Über 428 000 Bücher wurden verkauft und über zwei Millionen Klicks auf Buchmesse-Links gab es in den sozialen Netzen. Zuleica Romay, die Präsidentin des Kubanischen Buchinstituts, sprach von der Zufriedenheit der Besucher über die im Durchschnitt herabgesetzten Preise. Sie erinnerte daran, dass die Messe im kommenden Jahr ihren 25. Geburtstag feiere, was Verpflichtung sei, sie dann noch attraktiver zu machen.
Bis zum 26. April zieht die »Feria Internacional del Libro« nun gleichsam im Staffellauf durch die Provinzen, damit auch alle Menschen außerhalb der Hauptstadt in ihren Genuss kommen. Auf der Insel der Jugend und in Santiago de Cuba wird sie enden.
Ulli Fausten
CUBA LIBRE 2-2015