»Wir befinden uns im Jahre 18 nach der Selbstauflösung des sozialistischen Lagers. Die ganze Welt ist vom
Imperialismus besetzt. Die ganze Welt? Nein! Eine von unbeugsamen Revolutionären bevölkerte Karibikinsel
hört nicht auf, dem Kapitalismus Widerstand zu leisten.« - So oder so ähnlich müsste die Einleitung zu
diesem Bericht wohl lauten, wenn wir uns in Asterix-Manier an das Thema Cuba heranwagen würden. Und man
darf wohl sagen, das Thema Cuba, schließlich handelt es sich bei diesem Land nicht nur um irgendeine
unbedeutende Karibikinsel unter vielen, sondern um den (wenn man von solch ideologischen Unfällen wie
Nordkorea einmal absieht) letzten Hort des real existierenden Sozialismus.
Dies, und natürlich das subtropische Klima, die karibischen Strände und die paradiesischen
Naturlandschaften waren die Gründe, weshalb ich mich schon länger mit dieser Insel beschäftigte und mir
dieses Land auch einmal mit eigenen Augen besehen wollte. Denn über unsere bürgerlichen Medien etwas über
Cuba zu erfahren, dass auch nur annähernd den tatsächlichen Verhältnissen dort entspricht, ist sehr
schwierig. So findet man vielleicht noch auf Arte die ein oder andere Dokumentation, welche um wirkliche
Objektivität bemüht ist. Die meisten Berichte jedoch bedienen sich der selben antikommunistischen
Klischees, wie die Propagandaschlachten des kalten Krieges. Fernab von illusionären Träumereien vom
»sozialistischen Paradies« und auch fernab der flachen Sprüche vom »Castro-Regime«, hat mich die Wahrheit
über dieses Land interessiert. Warum gilt Cuba heute bei uns als Vorzeigebeispiel einer Diktatur? Warum
investieren die USA jedes Jahr Millionen Dollar in Geheimdienstarbeit gegen diesen kleinen Karibikstaat?
Warum wird über Cuba so viel, wie über kein anderes karibisches Land berichtet? Und warum wird - trotz
dem offiziellen Ende des kalten Krieges - das Embargo gegen das wirtschaftlich unbedeutende Cuba weiterhin
aufrechterhalten? Irgendetwas konnte da nicht stimmen. Es war höchste Zeit für mich, dieses Land zu
besuchen.
Als ich dann schließlich meine Eltern, die ohnehin schon immer mal in die Karibik wollten, nach längeren
Diskussionen überzeugen konnte, war die Reise bald für 2009 fest gebucht. Vom 21. Mai bis zum 3. Juni
durchquerten wir mit einem Mietwagen die Insel. Von Havanna über Matanzas, Santa Clara, Trinidad,
Cienfuegos wieder zurück nach Havanna (um nur einige Städte zu nennen), sahen wir in diesen zwei Wochen
jede Menge von Land und Leuten. Viele der vorher gefassten Urteile musste ich korrigieren, einiges hat
sich allerdings auch bestätigt. Klar war für mich nur: Wenn es irgendwo noch eine gelebte Alternative zum
Kapitalismus gibt, dann auf Cuba.
Meine ersten Impressionen von diesem Land stammen noch aus dem Flugzeug. Schlaftrunken sah ich aus dem
Fenster die ersten Umrisse der Insel, kurz darauf den Flughafen »José Martí«, benannt nach dem cubanischen
Freiheitskämpfer und Nationalhelden, welcher bereits im 19. Jahrhundert für die Unabhängigkeit seines
Landes kämpfte. Am Flughafen selbst mussten zuerst einige Formalitäten geklärt werden, bevor wir nach
Kontrolle unseres Passes durch eine freundliche Zollbeamtin an unser Gepäck kamen. Was mir zuerst schon
im Flughafengebäude auffiel: Irgend etwas fehlte. Achja, die Werbung! Es gab keine Werbung. Nirgends
waren die ansonsten so allgegenwärtigen Dauerberieselungen, die zugeklebten Wände, die Coca-Cola Plakate
zu sehen. Sehr angenehm. Noch am Flughafen trafen wir auf eine freundliche Dame namens Clothilde, von der
cubanischen Reiseagentur. Da sie in der DDR studiert hatte, sprach sie fließend Deutsch und half uns, an
einen Mietwagen zu kommen. Mit Blick auf mein Lenin T-Shirt lautete ihr erster Kommentar: »Mit diesem
T-Shirt wirst du hier sehr viele Freunde finden.« Ironie? Nein, tatsächlich: Schon 10 Minuten später
bekundete der Beamte beim Umtauschschalter von Euro in die cubanische konvertible Währung (CUC), auf
Englisch seine Sympathie für den Herrn Lenin. Da sich das mit dem Mietwagen doch noch etwas länger
hinzog, blieb mir genug Zeit um mit Clothilde ins Gespräch zu kommen. Sie war eine stämmige Dame von etwa
sechzig Jahren, und kennt die Revolution von Beginn an. Meine ersten Fragen gingen gleich ins politisch
brisante, Thema Wahlpflicht in Cuba. »Wenn die Leute bei euch sagen, wenn man in Cuba nicht zur Wahl geht
verliert man seinen Arbeitsplatz oder bekommt Repressionen, ist das eine Lüge. Wer bis 12 Uhr nicht zur
Wahl geht, bei dem klingeln die Pioniere und sagen ›Hey, willst du nicht wählen gehen?‹ - das ist aber
alles.«
Auch beim Thema Opposition fand Clothilde klare Worte: »Die meisten Cubaner mögen diese Oppositionellen
nicht. Die ›Frauen in weiß‹, und wie sie alle heißen. Die wollen nur Geld von den Amerikanern für sich
kassieren. Wenn sie wirklich für das Volk kämpfen, dann sollen sie doch in die Berge, wie Che, und die
Leute überzeugen, anstatt sich bei den USA anzubiedern.«
Clothildes Gesicht legte sich in nachdenkliche Falten, man sah ihr deutlich an, dass es ihr ernst war.
Auf dem Weg zum Hotel unterhielten wir uns noch etwas über die aktuelle Situation in Cuba, die »Periodo
especial«, die Sonderperiode, welche nach der Auflösung der Sowjetunion und dem Verlust fast aller
Handelspartner eintrat. Die schwierige ökonomische Situation, das Transportproblem, das Wohnungsproblem
und all die andren Probleme sind häufige Gesprächsthemen der Cubaner, die bei der Kritik kein Blatt vor
den Mund nehmen. Unterwegs konnte ich am Straßenrand die zahlreichen politischen Schilder bestaunen:
»Defendiendo el socialismo«, die Verteidigung des Sozialismus, oder »Hasta la victoria siempre«, ein
Zitat von Che, »Vorwärts bis zum Sieg«, war auf ihnen zu lesen. Abends im Hotel ging ich recht früh zu
Bett. Schön, gut, also. Die Worte einer Revolutionärin. Mal sehen, was der cubanische Alltag mir davon
bestätigen kann.
Am nächsten Tag gingen wir durch die Straßen Havannas. Und auch hier fehlte überraschenderweise die
Werbung. Kein Burger King, kein McDonalds, keine BILD-Zeitung. Nirgends. Die Stadt kam so in ihrer vollen
Pracht zur Geltung, statt aufdringlicher Leuchtreklame sah man an den Häuserfassaden lediglich handgemalte
Bilder über die Revolution, oder hin und wieder ein Zitat Fidel Castros. Allgegenwärtig war neben den
alten Häusern aus der Kolonialzeit und den politischen Schildern allerdings auch die schwierige
ökonomische Situation der Menschen. Viele nutzten diese jedoch aus, um sich an naiven Touristen zu
bereichern. Mit seltsamen Tricks und Betteleien wollen diese den einfältigen Touristen suggerieren, es
würde ihnen an Grundnahrungsmitteln mangeln. Doch das passt nicht ganz in ein Land, in dem es an jeder
Ecke billige Speisen und Getränke zu kaufen gibt, und wo jeder Einwohner durch die sogenannte Libretta,
eine Rationierungskarte, alle notwendigen Güter und Lebensmittel zugeteilt bekommt. Es mangelt zwar an
vielem, aber Hunger leiden muss in Cuba keiner, das konnte mir bisher jeder meiner Freunde dort
versichern. Viele dieser Leute nutzen daher die zusätzliche Einkommensquelle um sich teure Luxusartikel
wie Adidas-Turnschuhe und dergleichen zu kaufen.
Aber das sind nun wirklich keine überlebenswichtigen
Güter. Überhaupt hatte ich in meiner ganzen Zeit in Cuba durchgehend den Eindruck von einer trotz aller
Dispropriationen grundsätzlich intakten Gesellschaft, ohne extreme Armut und ohne ein wie auch immer
geartetes Bonzentum. Es herrschte ein reges Stadtleben, mit Autos, Einkaufstüten, mit Kindern die Eis
essen, Erwachsenen die Karten spielen und Rum trinken, alten Leuten die auf Parkbänken Zeitung lesen
und Zigarre rauchen, manchmal mit dem Enkel auf dem Schoß, manchmal mit Hund. Wenn man sich die Kolonialen
Villas besieht, die trotz ihres teilweise schlechten Zustandes nichts von ihrer jahrhunderte alten Würde
eingebüßt haben, wie diese heute von Arbeiterfamilien bewohnt werden, wenn man die amerikanischen
Luxuskarossen sieht, wie diese heute von Arbeitern gefahren werden, dann merkt man auch, dass man sich
tatsächlich in einem sozialistischen Land befindet.
Am stärksten kam dieser Eindruck zu Tage, als wir in
Havanna eine Führung in einer Zigarrenfabrik machten. Dort herrschten gänzlich andere Verhältnisse, als
man es bei uns gewohnt ist. Die Arbeiter wirkten allesamt locker, gelöst, als ob sie diese Arbeit am
liebsten täten. In dem riesigen Saal, in dem an die 400 Arbeiter auf Werkbänken Zigarren in verschiedenen
Qualitäten drehen, läuft im Hintergrund Techno-Musik. Ganz am Ende hängt ein Plakat: »Zum 50. Jahrestag
der Revolution: Lasst uns mehr und effizienter produzieren!«, davor der Tisch des Vorlesers. Jeden morgen
wird dort zuerst eine halbe Stunde aus der Granma, der größten cubanischen Tageszeitung, vorgelesen.
Danach geht man zu einem Buch über, das die Arbeiter sich ausgesucht haben. Aktuell liest man
»Sakrileg« von Dan Brown. Der Vorleser wechselt dabei gelegentlich und bekommt die Zeit als Vorleser voll
bezahlt. Nachmittags läuft dann meist Musik. Nach Dienstschluss kann sich jeder Arbeiter täglich 3
Zigarren seiner Wahl mit nach Hause nehmen. Während der Arbeit, darf ebenfalls geraucht werden. Auf
Betriebskosten, versteht sich.
Neben der kostenlosen Mittagskantine dürfte aber ein herausragenderes Merkmal die demokratische
Mitbestimmung im Betrieb sein: Jede Woche hält die Belegschaft dort eine Sitzung und diskutiert über
die Probleme im Betrieb, aber auch über die Probleme des Landes. Ich selbst wurde Zeuge, wie solche
Sitzungen abliefen und man nach heftiger Diskussion zu einer Entscheidung kam. Dabei folgt die
Betriebsversammlung nicht weltfremden, starren Regeln, sondern wird von den Arbeitern selbst ausgestaltet.
Es wird über alles gesprochen: Von den Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen und Löhnen, bis zum Buch für
nächste Woche hat die Belegschaft überall die volle Einflussnahme auf ihren Betrieb. Jeder Vorsitzende
wird demokratisch gewählt und ist der Belegschaft rechenschaftspflichtig. Im Falle von Amtsmissbrauch
kann er sofort abberufen werden, was auch hin und wieder vorkommen soll. Die junge Arbeiterin führte uns
durch den gesamten Betrieb und erklärte jeden Produktionsschritt, vom frischen Tabakblatt bis zur fertigen
Cigarre. Auch die Emanzipation hat sich scheinbar in der ökonomie gut durchgesetzt: Die Führungsebene
des Betriebs besteht fast durchweg aus Frauen. Darunter sind viele Schwarze und Mulattinnen. Von
Rassismus keine Spur. Soviel also zur innerbetrieblichen Demokratie, die in Cuba doch sehr stark
entwickelt ist. Mit der, verfassungsmäßig festgeschriebenen, Maximalarbeitszeit von 8 Stunden pro Tag und
den hervorragenden Arbeits- und Mitbestimmungsbedingungen, hat sich die cubanische Arbeiterklasse doch
einiges erkämpft, wovon man hierzulande höchstens träumen kann. Trotzdem: Die Löhne sind immer noch viel
zu niedrig, auch wenn das Ende der Sonderperiode bereits absehbar ist.
Am nächsten Morgen trafen wir auf unseren Freund Lazaro, ein schmächtiger Mann in den Vierzigern, mit
kräftigen Gesichtszügen und sonnengebräunter Haut, der eher an einen Spanier denn an einen Cubaner
erinnert und den ich durch Zufall vor einigen Jahren kennen lernte, da er Informatiker ist. Er hat uns
einen Tag durch Havanna geführt und wir haben erstmals den normalen cubanischen Alltag kennen gelernt.
Statt Auto fuhren wir Bus, statt im Restaurant aßen wir im Imbiss für Cubaner, statt des Tourismusbüros
besuchten wir Lazaros Freunde zu Hause. Die Straßen von Havanna sind voll von Leuten unterschiedlicher
Hautfarbe und unterschiedlichen Alters. Überall wimmelt es von Pionieren, welche Nachmittags die Schule
verlassen und die man dann häufig noch bei gemeinsamen Aktivitäten oder Ausflügen antrifft.
Marcel Kunzmann
CUBA LIBRE 3-2009
Teil 1, CUBA LIBRE 3-2009
Teil 2, CUBA LIBRE 4-2009
Teil 3, CUBA LIBRE 1-2010