Die Luft
Angeblich jappst man als Flachländer ständig nach ihr, weil sie so dünn und sauerstoffarm
ist. Der Flughafen von La Paz in "El Alto" ist mit etwas über 4050 m der
höchstgelegene unseres Planeten. Als wir die Gangway hinabsteigen und uns dann über das Rollfeld
in Richtung des Gebäudes bewegen, schnüffeln wir wie Drogenhunde, jederzeit unseren
völligen physischen Zusammenbruch erwartend. Die Belegschaft des Airports ist auf solche Fälle
vorbereitet; es gibt Hinweisschilder auf Oxygenmasken (genauso wie die, die im Flugzeug bei unerwartetem
Druckverlust vor einem herunterfallen sollen, wie uns die Stewardessen mit so gelangweiltem
Gesichtsausdruck vor dem Start immer wieder zu einer Stimme vom Band vorführen: "Put the mask
over your mouth and nose and breathe normally."
Als wir am Gepäckband stehen und auf unsere Koffer warten, ist uns beiden etwas blümerant zu
Mute, aber wir haben im Vorfeld der Reise so viele Horrorstories über La Paz gehört und gelesen,
dass unser Unwohlsein auch pure Einbildung sein kann.
Die Hauptstadt selber liegt in einem Talkessel zirka 250 m tiefer und wir verbringen die erste Nacht im
gebuchten "Hostal Republica" unterschiedlich: ich einige Stunden pennend und ein paar wach
liegend, Renate schlaflos, jedoch nicht um ihr Leben fürchtend. Morgens verleiben wir uns mit
alltäglichem Appetit ein Frühstück ein – kein brüllender Kopfschmerz und keine
Übelkeit – und schicken uns an, unsere Straße, die Calle Comercio, die nicht besonders steil
ist, hochzusteigen wie sieche Greise, Füßchen vor Füßchen setzend. Man kann ja nie
wissen! Wir verbringen die ersten 24 Stunden in "menschenfeindlichem" Ambiente mit unglaublicher
Vorsicht und sind tags darauf eigentlich schon akklimatisiert: Der leichte Schläfendruck, den wir
zuvor noch gespürt hatten, ist wie weggeblasen.
Als wir am übernächsten Tag – gewiss ein wenig zu früh – einen Ausflug zum
"Chacaltaya" machen, einem Berg, der mit 5480 m Höhe zu Boliviens Zwergen gehört
(das Land verfügt über 13 Gipfel, die mehr als 6000 m hoch sind und wird wohl nicht von
ungefähr "das Dach Amerikas" genannt), begehe ich aus Übermut eine Riesendummheit.
Unser Mikrobus ist mit 12 Leuten total überladen, zumal er keinen Vierradantrieb hat. Während
der Serpentinenfahrt zur Lodge auf 5300 m müssen immer wieder einige der Insassen raus, damit die
Klapperkiste die Steigung schafft. Einmal, auf ungefähr 5000 m, bin ich dabei. Ich schaue mich kurz
um und denke: Die andern, die der weit geschwungenen Straße folgen, machen ja einen Umweg. Warum
nimmst du nicht einfach diese 20 m Direktaufstieg unter die Füße und bist vor ihnen oben?
Teilweise verschneites Geröll, etwa 35 Prozent Steigung. Als ich wieder auf der Straße stehe,
bin ich zwar tatsächlich Erster, komme vor Erschöpfung und Kurzatmigkeit aber kaum noch zu mir
und schimpfe auf mich selbst: "Hast du sie noch alle? Was glaubst du, wo du hier bist?"
Abgesehen von dieser kindischen Eselei meinerseits kommen wir mit der unvertrauten Höhe die ganze
Zeit über gut klar. Rasche Gewöhnung an solche Umgebung ist ein Glückfall. Sie ist nach
allen Erfahrungswerten weder abhängig vom Alter, noch vom Grad der körperlichen Fitness.
Entweder der Body gibt es in seiner jeweiligen Prädisponiertheit her oder eben nicht! Nur manchmal
kommen wir liegend (also vor allem während der Nachtruhe) ans Schnaufen. Liegen ist, da sind sich
alle Reiseführer einig, die unglückseligste Position.
Die Stadt
La Paz bietet dem Ankömmling, noch bevor er etwas gesehen hat, einige Überraschungen:
Elektronische Feuerzeuge funktionieren hier nicht. Man muss auf die alten Daumendreher zurückgreifen,
die den Feuerstein zünden. Deutsche Wasserkocher brauchen ewig, um auf Betriebstemperatur zu kommen.
Man denkt schon, das Ding ist kaputt. Ist es aber nicht. Nur rödelt es zeitaufwändiger herum.
Wasser kocht hier übrigens nicht bei 100 Grad, sondern bereits bei 85. Dafür dauert es
länger. Aus heimischen Gefilden mitgebrachte Deo-Roller befördern den Rollerball in die Kappe,
d.h. sie "explodieren" quasi in Zeitlupe. Die man vor Ort kauft, tun das hingegen nicht. Sie
sind an die Höhe angepasst.
Lebenshaltungskosten sind dort – für Touristen! – wahnsinnig günstig: Als wir an unserem letzten
Tag noch zu viele "Bolivianos" in unserer Geldbörse hatten, dachten wir uns: Heute hauen
wir mal auf die Sahne, lassen 5 gerade sein, essen im exklusivsten Etablissement der ganzen Stadt.
"Hotel Presidente", Restaurant im 16. Stock mit Blick über La Paz. Kellner schauen dir
über die Schulter, ob du noch genug zu trinken hast. Das Vorspeisenbüffet ist im Preis
inbegriffen, auch die ausgezeichnete Dessertplatte. Dass das Hauptgericht, verschiedene Fleischsorten mit
Pommes und Süßbananen, so lala ist, nehmen wir nur am Rande wahr. Vier Kaltgetränke und
ein Espresso sind ebenfalls inklusive in etwas, das im Endeffekt 8,50 Euro pro Person ausmacht. Wir haben
uns also redlich bemüht, der bolivianischen Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen, indes ohne
Erfolg. Unsere teuerste Errungenschaft ist ein 100 Prozent Alpaca-Pullover für umgerechnet 53 Euro
– für bolivianische Verhältnisse ein Schweinegeld.
Taxikunden erleben goldene Zeiten: Wenn in den 50ern Cary Grant, David Niven oder Rock Hudson nur den Arm
ausstrecken mussten, um eine "Yellow Cab" zum Halten zu bringen, amüsierten wir uns
darüber, weil es so wirklichkeitsfremd war. US-amerikanisches Kintopp ist in La Paz aber
Realität, weil tatsächlich mindestens zwei von fünf Autos Taxis sind. Sie fahren für
verschiedene Gesellschaften, haben sich jedoch geeinigt, von jedem beliebigen Punkt der 2-Millionen-Stadt
bis zu jedem beliebigen anderen nicht mehr als 8 Bs. (zirka 80 Eurocent) zu nehmen. Wenn man mit einem
Zehner bezahlt und auf Wechselgeld verzichtet, freuen sich die Chauffeure wie Schoßhunde, denn
Trinkgeld ist hier nicht üblich. Wem das noch zu teuer ist, der benutzt – wie die meisten
Einheimischen – eine der ebenso zahlreichen Sammeltaxen, Minibusse japanischer Herstellung, die bestimmte
Routen abfahren, deren Haltepunkte in bunten Lettern auf der Windschutzscheibe angegeben sind. Da man
aber oft so schnell gar nicht lesen kann, gibt es (auch für die Analphabeten in der Stadt) die
Einrichtung des "Seitenbrüllers". Der Seitenbrüller ist jemand, der auf der rechten
Seite des Sammeltaxis sitzt (hinter der zentralen Schiebetür) und die Anfahrstationen zu all den
Menschen auf dem Bürgersteig hinausschreit, um so Fahrgäste anzulocken. Es gibt auch
Seitenbrüllerinnen, und gar nicht mal selten versehen Kinder diesen Job.
Das Einzige, was in La Paz annähernd so häufig vorkommt wie Taxis, sind Minishops seitlich der
Straßen, volumenmäßig genormte Metallkästen, die tags fast ausschließlich von
indigenen Frauen betrieben und nachts mitsamt Inhalt verschlossen werden. Der Inhalt ist überall
gleich: Softdrinks, Chips und Crackers, Schokoriegel, Bonbons, Kaugummi, Zigaretten. Einige von ihnen
haben Zeitungen. Die Tätigkeit ist so langweilig, dass manche der Händlerinnen einen Teil ihrer
Arbeitszeit neben ihrer Verkaufsstelle hockend, eingemummelt in einen Poncho, im Minutenschlaf verbringen
– bis sie von kaufwilligen Passanten geweckt werden.
Die Ladenstraßen sind eine Welt für sich. Unterbrochen von dem einen oder anderen Esslokal
bieten sie überwiegend Kleidung an: Pullover, Jacken, Ponchos oder T-Shirts. Man kann sie – auch
ohne eindeutige Kaufabsicht – ungeniert betreten. Die VerkäuferInnen geben einem nie das Gefühl,
persönlich beleidigt zu sein, wenn man wieder hinausgeht, ohne etwas erworben zu haben.
Neben einer unüberschaubaren Anzahl von mobilen Garküchen (bei denen wir uns nicht recht
trauten) gibt es auch Bücherstraßen – am Rande der Plaza San Francisco – und auf keinen Fall
entgehen lassen sollte man sich den Hexenmarkt, wo man neben Zutaten zu schwarzer oder weißer Magie
auch so abgefahrene Sachen wie mumifizierte Lama-Föten findet, die man dann den fassungslosen
Zollbeamten des Düsseldorfer Flughafens präsentieren kann, wenn sie dich die Koffer öffnen
lassen, um nach deklarationspflichtigen Waren zu forschen.
Ich sitze im Innenhof unseres Hotels und rauche eine letzte Zigarette vor dem Schlafengehen.
Plötzlich schweben Wolken in den Talkessel, der die Hauptstadt beherbergt. (Man muss sich immer
wieder aufs Neue klarmachen, in welcher Höhe man sich befindet.) Die Wolkenschicht umschließt
die zwei, drei obersten Stockwerke eines Hochhauses, das vielleicht hundert Meter von uns entfernt liegt.
Kein Bürokomplex, ein Wohnblock. Ich frage mich: Wenn die da oben jetzt ein Fenster aufmachen, kommt
dann die Milchsuppe rein und regnet auf den Fußboden? Es erscheint alles so irreal.
Südlich des Äquators sind die in der nördlichen Erdhälfte gebräuchlichen
Jahreszeiten in ihr Gegenteil verkehrt. In Bolivien ist es jetzt – Ende September – beginnender
Frühling, aber die Nachttemperaturen atmen noch den Winter: Grade nahe dem Gefrierpunkt.
Und das ohne Heizung. Zumindest in Herbergen bis zu einschließlich 3 Sternen ist sie nicht
üblich. Das Hostal ersetzt diesen Mangel durch eine Dreierschicht bleischwerer Wolldecken, die
seitlich so festgezurrt sind, dass man sich beim Umdrehen fühlt wie ein "Würstchen im
Schlafrock". Da ich einen eher unruhigen Schlaf habe, beschließe ich zunächst, die Decken
herauszurupfen. Doch auch dann frage ich mich immer noch, ob mir das "Kettenhemd" nicht
irgendwann meuchlings den Brustkorb zermalmen wird. Also befreie ich mich von einer der drei Decken,
drücke aber die restlichen beiden wieder locker unter. Diese persönliche Lösung wird
für mich zum "modus vivendi" (auch später am Titicacasee), während mich meine
stets verfrorene Frau fragt, weshalb ich eigentlich so ein Aufhebens mache.
Wir lunchen im "Café Ciudad" an der Plaza del Estudiante: ich ein Pfeffersteak mit
Fritten, meine Frau Fettucine mit irgendwas. Es gießt in Strömen. Wir beobachten an der
Kreuzung einen etwa 13jährigen Jungen, der jedes Mal, wenn die Ampel auf rot springt, zwischen den
Autos mit laufendem Motor herumturnt, indem er sich zu Discotanzschritten verrenkt. Selten genug kurbelt
einer die Seitenscheibe herunter und gibt ihm ein paar Kröten. Der Junge trägt einen wollenen
Pullover, der ihm weit über den Hintern hängt, so durchnässt ist er. Ich gehe raus und
gebe ihm drei "Bolis". Es ist empfindlich kalt und der Wind weht so heftig, dass die Schirme
umschlagen. Der Kleine muss sich den Tod holen! Stattdessen holt er sich eine Tüte Chips und eine
dünne Suppe am Stand gegenüber. Kurze Zeit später ist er weg. Aha, denken wir uns, so viel
kriegt er sonst nicht. Das war wohl sein Tag. Als wir jedoch eine halbe Stunde später die Rechnung
bezahlen, ist er wieder an Ort und Stelle, triefend wie eh, und macht mit seinen Kunststücken weiter.
Wahrscheinlich hat er mit seiner Schulschwänzerei eine Familie zu ernähren und halbwegs satt
ist bis jetzt bloß er ...
Dass man bettelnde Kinder nicht mehr allzu häufig trifft, ist dem von Evo Morales im Jahre 2006
aufgelegten Projekt "Juancito Pinto" zu verdanken, das den Eltern, die ihre Kinder zur Schule
schicken, bis zu deren 6. Schuljahr eine Bonuszahlung von 200 Bolivianos monatlich garantiert. Das
Programm wird durch die Gewinne aus der Erdgasverstaatlichung finanziert.
Wer früh unterwegs ist (vor neun Uhr), wird Zeuge eines gerade an diesem Ort unerwarteten
Phänomens: Die meisten BolivianerInnen rennen. Vor allem die, welche durch ihr Outfit ihre
Angehörigkeit zu den gehobenen Schichten offenbaren. Bergauf, bergab, einerlei. Es scheint, als
kämen sie allesamt nicht rechtzeitig aus den Federn, um ihre jeweils gut betuchten
"white-collar-jobs" pünktlich anzutreten.
Schuhputzer dagegen unterliegen keinen festen Arbeitszeiten. Die meisten von ihnen, wenn auch nicht
wirklich viele, findet man auf der Plaza Murillo, da sich dort viel Volk tummelt und auch am ehesten die
Chance besteht, Touristen (von denen es ebenfalls nicht wirklich viele gibt) einen höheren Preis
abzuverlangen als besser gestellten Landsleuten. Etliche derer, die diesem Gewerbe nachgehen, sehen aus
wie militante Autonome auf einem G8-Gipfel. Sie tragen schwarze Skimasken, welche nur die Augenpartie
freilassen. Das tun sie, weil sie sich ihres Berufes schämen und nicht erkannt werden wollen.
Im Hinblick auf Musik ist man in der Regel patriotisch eingestimmt. Wir empfinden es als angenehm, dass
acht von zehn Taxifahrern Bands wie Kala Marka, Savia Andina oder Jacha Mallku hören. Ich kann in
einem Frühstücksrestaurant der Altstadt gut auf Freddie Mercury verzichten. Dabei habe ich
nichts gegen "Queen", im Gegenteil! Aber dort passen sie einfach nicht hin.
Einer der betörendsten Orte der Stadt ist der hochgelegene Friedhof. Wir hatten das Glück, ihn
an einem Tag mit strahlendem Sonnenschein zu besuchen. Wir kratzten mit den Augen die Oberkante der
City-Outskirts an den Hängen um uns her und darüber sahen wir endlich mal eine Reihe
schneebedeckter Gipfel. Es ist der fantastischste Ausblick, den Tote haben können.
Die Verblichenen werden hier in oberirdischen Betonnischen bestattet, die in vier oder fünf
Stockwerken übereinander liegen. Sie alle haben ein Kopfende aus in Messing eingefasstem Glas, das
ringsum einige Millimeter Luftzufuhr erlaubt; dahinter gibt es ein paar Dezimeter Freiraum, die ihre
Angehörigen gestalten können, wie sie wollen. Mit Fotos, frischen Blumen oder Ähnlichem.
Jeder besitzt zu seiner Glasvitrine einen eigenen Schlüssel, um Änderungen vorzunehmen.
Für die Besitzer höher gelegener Fenster gibt es Leitern.
Ich machte einige Bilder von Kindergräbern, die mir die Tränen in die Augen trieben: eines vom
Grab einer 2- oder 3jährigen mit Teddybärchen und der gleichem und ein anderes – fast noch
schlimmer – von einem vielleicht zehnjährigen Mädchen, dem man eine kleine Flasche Limonade
hineingestellt hatte; offenbar hatte es "refrescos" gern gemocht.
Glücklicherweise liegt Traurigsein immer nah am befreienden Lachen: Ein Fußballfan, der in
gesegnetem Alter abgetreten war, hatte einen Zeitungsartikel in seiner Vitrine, der ihn darüber
aufklärte, dass sein Lieblingsverein am Tage X des Monats Y die Mannschaft des Erzrivalen Soundso
mit 2:0 geschlagen habe – durch Tore eines Stürmers, dessen Name mir im Moment entfallen ist. Es
muss ein Wahnsinnsereignis gewesen sein, denn die Zeitung ist von 2004 und sie liegt immer noch da.
Schön zu sehen, wie nah die Lebenden an den Toten sind ...
Von den zahlreichen Kirchen der Stadt haben wir nur eine besucht: die Kathedrale des Franz von Assisi.
Sie ist mittelgroß, aber mit unheimlichem Prunk ausgestattet. Verschwenderisch viel Blattgold, wie
wir es bislang nur aus dem Petersdom in Rom kannten. Als wir eintraten, war gerade ein Gottesdienst im
Gange, weshalb an Fotografieren mit Blitzlicht überhaupt kein Denken war. Der Priester ein cooler,
langhaariger Graubart schwer bestimmbaren Alters (wir sahen ihn später im modischen Jeansanzug an
uns vorbeischlendern), der unter einem riesigen Transparent mit der Aufschrift "Man kann nicht
gleichzeitig Gott und dem Geld dienen!" die Messe las. Diese Botschaft war gewiss im Sinne des
Heiligen Franziskus; der Reichtum, den das Bauwerk ausstrahlt, ist es hingegen sicher nicht.
Als wir hörten, dass eines Sonntags zu seinen Ehren ein Gottesdienst – mit Haustiersegnung – auf
dem Vorplatz der Kathedrale anberaumt war, gingen wir hin. Kinder und Erwachsene mit Pudeln, Siamkatzen,
Hamstern, Schäferhunden, Fröschen und Goldfischen. Ein gemischter Kinderchor, der zu
Gitarrenbegleitung sang. Dazu ein Priester, der zwar konservativer aussah als der Typ, den wir schon
kennen gelernt hatten, der aber eine Predigt hielt, die Benedikt den Sechzehnten, vormals Kardinal
Ratzinger, hätte erbleichen lassen. Das Einzige, was bei der rundum gelungenen Messe störte,
war der böige Wind, der in die offenen Mikros hineinblies und gegen Ende für helle Aufregung
sorgte, als er in seiner Raserei bewirkte, dass einer schon betagten Gläubigen eine der beiden
großen Lautsprecherboxen auf die Figur fiel. Zum Glück kam sie – die Frau, nicht die Box – mit
dem Schrecken davon. Wir verließen den Ort reichlich angefeuchtet von all dem Segenswasser, das
über jedwede Kreatur gespritzt wurde.
Erster Unterschied zu Cuba: Die Leute sind VIEL distanzierter Fremden gegenüber. Als wir eines
späten Abends an einer Ecke der Calle Sagárnaga und der Calle Linares stehen, weil wir
unschlüssig sind, ob wir noch etwas unternehmen oder "nach Hause" fahren sollten, kommen
in wenigen Minuten Hunderte von Menschen an uns vorbei. Keiner von ihnen spricht uns an. Keiner will was
von uns. In Havanna hätten wir keine halbe Minute stehend verbracht, ohne dass uns jemand
angequatscht hätte. Um uns irgendetwas von all den Dingen anzubieten, die der Liebe Gott verboten
hat. Oder auch einfach nur, um zu reden. Leute in Bolivien ergreifen niemals die Initiative zur
Gesprächsanbahnung. Sie lassen dich nicht links liegen, wenn du sie etwas fragst. Allerdings variiert
dann ihre Reaktion zwischen unverbindlicher Freundlichkeit und knappster Höflichkeit. Seine Adresse
hat uns keiner gegeben.
Zweiter Unterschied zu Cuba: Es gibt dort praktisch alles irgendwo zu kaufen (wenn auch – aus
Gründen, die wir kennen – für viele nicht erschwinglich). Es gibt nicht den "variablen
Mangel" wie in Cuba, der z.B. darin besteht, dass in einem Jahr in Havanna kein Papier zu bekommen
ist, während sie dich im darauffolgenden damit zuschmeißen, du aber dafür ums Verrecken
keine Worcestersauce ("salsa inglesa") kriegst. Nirgendwo!
Das einzige, was ich in Bolivien wirklich vermisst habe, waren Klobürsten – sowohl in Hotels und
Restaurants als auch in den Kaufhäusern. Einmal, in einer Pizzeria dem Regierungspalast
gegenüber, sah ich auf der Toilette die Halterungsvorrichtung für eine Klobürste,
allerdings ohne Bürste. Ganz offensichtlich geklaut – von jemandem, der die Nützlichkeit dieses
zutiefst sinnvollen Haushaltsgegenstands erkannt hatte!
Fernsehen in Bolivien ist grausam. Während bei unseren "Privaten" Werbeeinblendungen zirka
alle fünfzehn Minuten stattfinden, gibt es sie dort alle acht Minuten oder so. Immerhin bekommen wir
mit, dass Evo Morales irgendeinen Staatsbesuch hat. Wir sehen uns auf der Mattscheibe die Statements zum
neuen Handelsabkommen an und sagen uns: Irgendwann müssen sie ja mal wieder rauskommen. Gehen wir
also hin!
Dazu muss man wissen, dass die Plaza Murillo, wo Regierungssitz und Parlament liegen, ca. vier Minuten
Fußmarsch von unserem Hostal entfernt ist, ohne Bannmeile oder dergleichen, vielmehr mitten im
Zentrum, wo der Bär tobt. Wenn Militärkapellen spielen, flüchten sich die annähernd
1000 Tauben, die dort Dauergäste sind, weil sie wie auf Venedigs Markusplatz bis zur Völlerei
gefüttert werden, entnervt in höhere Regionen. Nur einige Dutzend hartgesottene bleiben unten,
um sich weiter mit Körnern voll stopfen zu lassen. (Wer hätte gedacht, dass es unter Vögeln
ein und derselben Spezies sensiblere und dickfelligere Exemplare gibt?)
Als wir ankommen, haben sich einige Kleingruppen der MAS ("Movimiento al Socialismo")
versammelt, die Parolen wie "Es lebe Bolivien!" skandieren. Man sieht neben bolivianischen
auch ein paar venezolanische Flaggen, und fast bedauern wir schon, unsere cubanischen zu Hause gelassen
zu haben.
Wenige Minuten später zeigen sich Evo und sein Gast winkend der versammelten Menge. Sie steigen in
Autos und drehen, begleitet von Sicherheitskonvois, eine Ehrenrunde um den Platz. Dann ist der Spuk
vorbei.
Ulli Fausten
Bolivianische Impressionen - Teil 2, CUBA LIBRE 1-2010