Jorgitos Log:

Uns als Nation nicht selbst zerstören

Jorgito Jerez Belisario

Die Kubanische Revolution schreibt unglaubliche Geschichten.
Jorge Enrique Jeréz Belisario kam 1993 mit einer schweren spastischen Lähmung auf die Welt. Er selbst sagt, dass es Jorgito el Camagüeyano nur deshalb heute noch gibt, weil er unter der schützenden Hand der Revolution aufwachsen konnte. So verwirklicht er heute seinen Lebenstraum und arbeitet als Journalist.
Jorgito war einer der wichtigsten Aktivisten im Kampf für die Freilassung der »Cuban Five«. Besonders verbunden ist er Gerardo Hernández, dessen Rückkehr nach Kuba er im Dezember 2014 feiern durfte. Der Dokumentarfilm »Die Kraft der Schwachen«, der Jorgitos Leben erzählt, ist über die Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba erhältlich.
Jorgito bloggt regelmäßig auf http://jorgitoxcuba.wordpress.com/.
Die CUBA LIBRE ehrt er mit einer regelmäßigen Kolumne.



"Dieses Land kann sich selbst zerstören. Diese Revolution kann sich selbst zerstören. Die Imperialisten können sie nicht zerstören, aber wir können sie zerstören, und das wäre dann unsere eigene Schuld!" So unverblümt warnte uns Fidel im Jahr 2005 und war damit seiner Zeit wie immer einen Schritt voraus. Selten hatte er so deutlich über die Umkehrbarkeit des Sozialismus und des kubanischen revolutionären Prozesses gesprochen.


Damals hatte er die Geschehnisse im sogenannten "Realsozialismus" frisch vor Augen: Innere Fehler, die Entfernung der Partei von den Massen und ein fahrlässiger Umgang mit der Geschichte ließen die Ideologie des Kapitalismus, die als das Moderne, das Aktuelle, das Beste verkauft wurde, in den jungen Generationen Fuß fassen. Die Folgen waren unabsehbar, Menschen, die Hochschulabschlüsse, Häuser, Arbeitsplätze verloren, Menschen, die den Hass kennenlernten, nachdem sie selbst die Berliner Mauer niedergerissen hatten.


Die Revolution kann man nicht einfach darauf reduzieren, ein geschichtliches Ereignis zu sein. An dem Tag, an dem dies geschieht, werden wir am Rande der Selbstzerstörung stehen. Die Verbindung der vielen Jahre des bereits gelebten revolutionären Epos mit den heutigen Generationen von Kubanern ist eine der größten Herausforderungen für das Überleben des Prozesses, der Kuba (und ein bisschen auch die Welt über Kuba hinaus) am meisten verändert hat.


Die Revolution kann nicht nur in Büchern existieren. Sie Tag für Tag zu leben, das, was wir jeden Tag tun, als Teil derselben vergangenen Geschichte zu verstehen, die wir zugleich in der Gegenwart schreiben und die nicht abgeschlossen ist, ist unser bester Beitrag zu dem Prozess, dessen Erben wir sind.





Revolutionen bringen Konsens mit sich. Der unsere muss der Konsens der Rebellen sein, die sich einem Kuba entgegenstellten, das nicht mehr geben konnte, und er muss auch der unsere sein, der Konsens der Kubaner, die heute weiterhin ihr Land aufbauen, ohne wesentliche Zugeständnisse zu machen, im Einklang mit den aktuellen Verhaltensformen und der sozialen Dynamik der Gegenwart. Kubaner, die aktiv Teil eines Prozesses sind, der sich ständig erneuern und verändern muss, wann immer es nötig ist. Ein Konsens, der die Beteiligung des Volkes braucht, um nicht Gefahr zu laufen, dass grundlegende Veränderungen von einigen wenigen entschieden werden.

Deshalb ist es inakzeptabel, dass es Leute gibt, die im Namen der Revolution Fehler machen oder eine falsche Linie ziehen, denn dies untergräbt die Glaubwürdigkeit eines Prozesses, der aus dem Volk und seinem Vertrauen in seine Führungspersönlichkeiten entstanden ist. Es ist dasselbe Volk, das ihn heute trägt. Ein solcher Prozess kann nicht zulassen, dass Personen, die sich als bewusste Revolutionäre bezeichnen, schlecht handeln, sich korrumpieren, sich von den Positionen des Volkes entfernen, persönliche Interessen verteidigen, wenn doch der Sozialismus ein kollektives Werk ist. Unsere Einheit, die unsere Gegner so sehr aufzubrechen versucht haben, ist auf symbolischer und realer Ebene immer noch lebenswichtig.

Fraktionen innerhalb der Gesellschaft sind ebenfalls sehr gefährlich. Die erbitterte Verteidigung bestimmter Positionen, der Mangel an Ethik, Hasssprache, das verbale Feuern auf andere – das sind Haltungen, die in den digitalen sozialen Netzwerken in Mode sind und die sich in der Gesellschaft ausbreiten. Die Uneinigkeit ist so gefährlich, dass sie Unabhängigkeitskriege zum Scheitern brachte. Jedes Mal, wenn wir in menschliches Elend, Egozentrik und Geltungsbedürfnis verfielen, waren diese größer als der Wunsch, zu diesem kollektiven Projekt eines Landes beizutragen, und wir sind gescheitert. Dies ist genau die Art und Weise, wie Menschen Revolutionen zum Einsturz bringen können.

Unser Sozialismus wurde uns von niemandem aufgezwungen, er ist typisch kubanisch, er ist das Ergebnis der endogenen Entwicklung des Bewusstseins unseres Landes, und wir haben die Pflicht, mehr darüber zu sprechen, darüber zu theoretisieren und ihn auch in die revolutionäre Praxis umzusetzen, ohne Angst zu haben, das Wort zu benutzen; zu zeigen, dass unsere Eltern und Großeltern nicht im Unrecht waren, als sie den Sozialismus als Lösung für die Probleme des Landes wählten.

Um den Sozialismus unwiderruflich zu machen, wie in unserer Verfassung erklärt, müssen wir diese Unumkehrbarkeit jeden Tag aufbauen und offen darüber sprechen, wie wir dorthin gekommen sind, warum wir dieser Idee folgen und welche Fehler zu tödlichen Wunden eines Systems werden können, das zwar nicht perfekt, aber gerechter ist als andere. Und wir müssen verstehen, warum unser Sozialismus nicht weich sein kann und wir nicht mit der Sozialdemokratie oder dem Liberalismus flirten können. Wir müssen heute mehr denn je eine Kultur des Widerstands schaffen, die weiterhin die Werte des Anti-Konsumismus, der Essenz und des Seins gegenüber dem Haben bevorzugt.

Es war kein Zufall, dass Fidel am 17. November die Universität zu Havanna wählte, um über ein so sensibles und transzendentales Thema zu sprechen. Schließlich wurde in ihr ein großer Teil der Essenz dieses revolutionären Prozesses begründet.

Es ist für meine Generation schwerlich möglich, sich an die Rede zu erinnern, sich an Fidel in Aktion zu erinnern, aber dieser Fidel muss für uns mehr als ein Slogan sein. Wir müssen ihn in die tägliche Praxis umsetzen und all das, wovor er uns an diesem Tag gewarnt hat, aus unserem Verhalten verbannen.

In der heutigen Zeit mag es schwieriger erscheinen, über die Unumkehrbarkeit der revolutionären Arbeit zu sprechen, aber diejenigen, die uns so weit gebracht haben, haben uns gewarnt, dass es schwierig ist, sich gegen das Kapital zu behaupten und gegen diejenigen, die daran gewöhnt sind, mehr zu haben als andere. Es ist sehr schwierig, auf ein eigenes alternatives Modell zu setzen, aber dabei steht unser Überleben als Land auf dem Spiel. Zu erreichen, dass die Mehrheit der Kubaner weiterhin die Revolution aufbaut, sie liebt und an sie glaubt, an dieses menschliche, unvollkommene und verbesserungsfähige Werk, wie steil und schwierig der Weg auch sein mag, ist unsere dringlichste Aufgabe, wenn wir uns als Nation nicht selbst zerstören wollen.

CUBA LIBRE Übersetzung: Tobias Kriele
Jorge Enrique Jerez Belisario

CUBA LIBRE 2-2024