Jeder Tag, den Kuba übersteht, ist ein Sieg.
Cada día de Cuba una victoria, so titulierte ein kubanischer Journalist seinen Artikel. Das ist ein Gefühl, das viele Kubaner nachvollziehen können, wenn es ihnen gelungen ist, ihren Arbeitsplatz zu erreichen und auch für den Rückweg der Bus gekommen ist, wenn die Suche nach Piccadillos, eine Art Gehacktes in Wurstform, das man als Brotaufstrich aber auch für Hamburger u. ä. Verwenden kann, erfolgreich war, wenn dann auch noch die Nachbarin ihr altes Brot vorbeigebracht hat, und man daraus die allseits beliebten Kroketten machen kann, dann hat man wieder einen Tag geschafft und die Familie ist zufrieden. Aber die Schwierigkeiten des Alltags meistern müssen natürlich nicht nur Kubanerinnen und Kubaner. Für die Mehrheit des globalen Südens ist der Alltag kein Honigschlecken, sondern ein stetiger Kampf ums Überleben und wenn man sich die Zeltstädte in Los Angeles oder Brüssel ansieht, um nur zwei Beispiele zu nennen, scheint das zunehmend auch auf immer mehr Menschen im Norden zuzutreffen.
Dennoch ist in Kuba alles anders. Hier geht es darum, ein sozialistisches Projekt zu verteidigen. Hier geht es aber auch um Alles oder Nichts. Wenn die Revolution zusammenbrechen würde, gäbe es kein Kuba mehr. Die USA würden das Land übernehmen, ein Blutbad anrichten und Generationen von Kubanern müssten die Schulden bezahlen, um die angeblichen Verluste zu begleichen, die US-Amerikanern und den in den USA lebenden Günstlingen der Batista-Diktatur durch die Verstaatlichungen entstanden sind. Dabei sei hier noch einmal erwähnt, dass die Verstaatlichungen gemäß dem Völkerrecht von statten gingen – die USA aber, im Gegensatz zu anderen Ländern, eine Entschädigung für enteignetes Eigentum immer abgelehnt haben. Ein US-Prokonsul würde das Land übernehmen und die Blockade ginge weiter, bis alle früheren Besitzer wieder ihren ehemaligen Besitz übernommen hätten und für die ihnen in den fünfundsechzig Jahren der Revolution entgangenen Verluste entschädigt worden wären. Das alles ist US-Gesetz, das kann man im Helms-Burton-Gesetz nachlesen. Deswegen ist es auch so wichtig, dass hier alle an einem Strang ziehen. Während es fast überall sonst auf der Welt das Problem jedes Einzelnen ist, ob er genug zu essen hat, ist es hier ein nationales Problem. Das Grundnahrungsmittel hier ist Reis. Sin arroz no hay comida – ohne Reis ist das Essen kein Essen, wie es einmal einer unserer Freunde ausgedrückt hat. Da man es hier aber – aus welchen Gründen auch immer – bis jetzt nicht geschafft hat, den Bedarf der Bevölkerung an Reis auch nur annähernd durch eigenen Anbau zu decken, muss man ihn importieren. Jedem Kubaner und jeder Kubanerin stehen eigentlich auf Libreta sieben subventionierte Libras – eine Libra hat etwa vierhundertdreiundfünfzig Gramm – zu. Dafür müssen viele Tonnen importiert werden. Da man für diese vielen Tonnen aber auch entsprechend Devisen braucht, kann man sie oft nur häppchenweise kaufen. Die Läden, die sogenannten Bodegas, werden dann auch nur mit Teilmengen beliefert, so dass die Leute mehrmals hinlaufen müssen, um an ihre sieben Libras zu kommen. Es kann aber auch vorkommen, dass man sie nicht ganz bekommt oder erst im nächsten Monat. Jeder verfolgt also gebannt, ob genug Devisen da sind, um Reis zu kaufen und ist beruhigt, wenn versichert wird, dass die sieben Libras für den Monat November garantiert sind.
Mit der gleichen Spannung wird die Ankunft der Tanker mit Benzin verfolgt. Alle waren damals sauer, als der Wirtschaftsminister im Fernsehen Anfang Oktober sagte, die Lage werde sich entspannen, es komme ein Tanker und sich dann die Lage richtig zuspitzte. Wie der Präsident später in einem Interview erklärte, sei der Tanker auch wie geplant angekommen, aber er blieb zunächst in Wartestellung auf See, da man hier erst die nötigen Devisen zusammenkratzen musste.
Man könnte die Beispiele beliebig fortführen etwa mit dem Brot, dessen Qualität immer schlechter wird, da Weizen auf dem Weltmarkt immer teurer wird, zu wenig Weizenmehl da ist und sicher auch etwas auf dunklen Kanälen verschwindet. Weizen kann man wohl in Kuba nicht anbauen, aber anscheinend lässt sich ein passables Mehl mit Mais- und Maniokpulver herstellen, aber dafür braucht man bestimmte Mühlen, von denen es nicht genügend gibt. Man versucht den Anbau von Mais und Maniok zu verstärken, aber da alles agroökologisch ist, weil es keinen Dünger gibt, halten sich die Erträge in Grenzen.
Aber letztendlich steht immer die Idealvorstellung dahinter, dass alle gleich wenig oder gleich viel haben sollen. Das war zu Zeiten der Sonderperiode auch mehr oder weniger der Fall, als wirklich das Wenige, was es gab, gleichmäßig verteilt war und die Zahl der Privilegierten, die Zugang zu Devisen hatten, relativ gering war. Inzwischen ist es aber nicht mehr so und das gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Der Landwirt Emilio Interián (hier in der Nationalversammlung) hat gezeigt, dass es möglich ist, unter den gegenwärtigen Bedingungen landwirtschaftliche Ergebnisse zu erzielen, die wirtschaftliche Zahlungsfähigkeit erzeugen, ausreichende Nahrungsmittel garantieren und die Motivation der Arbeitskräfte erhalten. |
Offiziell heißt es zwar immer, dass die Blockade gescheitert ist und das war auch die Diktion der USA zu Zeiten der Obama Regierung. Es ist richtig, dass die Blockade ihr Endziel, den Sturz der Regierung, nicht erreicht hat. Aber sie hat sehr wohl erreicht, dass Kuba nicht die Gesellschaft sozialer Gerechtigkeit aufbauen konnte, die es sich vorgenommen hatte. Sie hat sehr wohl erreicht, dass viele Menschen mürbe geworden sind und ihren Mut verloren haben – und sie hat erreicht, dass es solche gibt, die arbeiten und sich etwas leisten können, solche, die hart arbeiten, und sich nichts leisten können und solche, die nicht arbeiten und sich trotzdem viel leisten können.
Die Regierung kämpft weiter ihren erbitterten Kampf für eine gerechte, für eine sozialistische Gesellschaft, aber es ist ein Kampf, der an vielen Fronten gefochten werden muss und zwangsweise Maßnahmen einschließt, die einen Schritt zurück vom Ideal sind, aber notwendig sind, um das Projekt als Ganzes zu retten. Eine dieser Maßnahmen sind die Mipymes, auf deutsch KKMU. Ein Teil der Bevölkerung gibt diesen Mipymes die Schuld an der Inflation und an allen sozialen Asymmetrien, die es zur Zeit gibt, der andere Teil sieht in ihnen die Möglichkeit, der Wirtschaft einen Impuls zu geben, Arbeitsplätze und Reichtum zu schaffen. Den Reichtum, den man dringend braucht, wenn man etwas verteilen möchte.
Die Mipymes, also diese mikro, kleinen und mittleren Unternehmen sind in der Verfassung als neue Wirtschaftsakteure des Landes anerkannt, aber sie sind zu einer denkbar ungünstigen Zeit entstanden, sowohl was die wirtschaftliche Situation in Kuba als auch weltweit angeht. Sie haben allerdings 189.000 neue Arbeitsplätze geschaffen.
Viele sind aber besorgt ob der schieren Menge dieser Unternehmen, die in so kurzer Zeit entstanden sind, so dass sie, was die reine Zahl angeht, die staatlichen bereits übertreffen. Sie sehen das als eine Gefahr für das sozialistische Modell, sie haben Angst, dass die Wirtschaft privatisiert wird. Nun werden hier ja nun keine staatliche Unternehmen in Kuba in private Hände übergeben, man hat nur das Konzept geändert, dass nur staatliche Unternehmen sozialen Fortschritt bringen können. Wichtig ist, dass es immer noch der Staat ist, der die wirtschaftliche Entwicklung bestimmt und daran die verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Akteure beteiligt. Die Menschen beschweren sich auch, dass die Mipymes für Waren und Dienstleistungen oft überhöhte Preise verlangen und diese Klage kommt nicht von ungefähr. Nun hat die vom Staat durchgeführte monetäre Neuordnung im staatlichen Sektor die Preise höher ansteigen lassen als erwartet und die Tatsache, dass es keinen offiziellen Devisenmarkt gibt, zwingt die MIPYMES auf den informellen Markt zurückzugreifen, wenn sie an Devisen kommen wollen, und die hohen Wechselkurse dort sind allgemein bekannt. Die Preise, die sie für ihre Waren verlangen, sind dann entsprechend hoch – insbesondere, wenn dann die neuen Waren wieder mit auf dem informellen Markt umgetauschten Devisen eingekauft werden müssen.
Selbst wenn es den MIPYMES gelingen sollte, Waren oder Dienstleistungen zu exportieren, was sowieso nicht alle machen könnten, wäre das Geld, das auf ihren Konten eingeht, in MLC. Damit können sie zwar in Kuba einkaufen, aber keine internationalen Transaktionen tätigen.
Hinzu kommt, dass die Angebote aus staatlichen Unternehmen sehr reduziert sind, so dass die MIPYMES sich keiner Konkurrenz gegenübersehen. Gleichzeitig gibt es aber eine enorme Nachfrage. Wenn es nun schon nicht genügend Produkte aus staatlichen Betrieben gibt, die in Konkurrenz zu den MIPYMES treten könnten, so können eigentlich nur immer mehr MIPYMES, die dann gegeneinander in Konkurrenz treten, zur Preissenkung beitragen.
Ganz sicher gibt es MIPYMES, die überhöhte Preise fordern, aber das gibt es auch bei staatlichen Betrieben, wie Präsident Díaz-Canel deutlich machte. In solchen Fällen muss der Staat eingreifen.
Fakt ist aber, dass die Preise für Rentner und Durchschnittskubaner hoch sind, nicht weil die MIPYMES böswillig sind, sondern weil die Lage so ist, wie sie ist. Fakt ist außerdem, dass all jene, die dort nicht kaufen können, frustriert sind und dies dem Projekt nicht förderlich ist. Fakt ist aber auch, dass, wenn man jetzt etwas braucht, seien es Joghurt, Mehl, Toilettenpapier, Bier oder was auch immer, man es in den MIPYMES findet. Das erleichtert das Leben für viele Kubaner, denn selbst, wenn man nicht so viel verdient und man etwas Bestimmtes haben möchte, kann man es sich in den MIPYMES besorgen.
Es ist alles eine Gratwanderung und alle Maßnahmen, die getroffen werden, müssen immer genau beobachtet werden, um dann in der Realität entscheiden zu können, ob sie rückgängig oder abgeändert werden müssen, weil die Nachteile für die Gesellschaft größer sind als die Vorteile.
Wir haben so viel ertragen und gekämpft und jetzt sind wir wieder in solch einer Lage, hat mir eine Freundin gesagt.
Besonders frustrierend ist, dass es nach dem absoluten Tiefpunkt der Sonderperiode wieder aufwärts gegangen ist und man optimistisch in die Zukunft blickte und man jetzt wieder an einem kritischen Punkt angelangt ist.
Und der Kampf findet wirklich an allen Fronten statt und es ist fast unglaublich, dass er oft nicht nur nicht aufgegeben, sondern auch noch gewonnen wird. Eine dieser Fronten verläuft im Sport. So haben in weniger als vierzehn Tagen bei Meisterschaften, die in Kanada stattfanden, unter anderem drei Judoka die Mannschaft verlassen: Zamarit Gregorio (48 kg), Yurisleidy Hernández (52 kg) und Arnaes Odelín (57 kg). Das alles ereignete sich kurz vor den Panamerikanischen Spielen in Santiago de Chile, die in Kuba eine große Rolle spielen und mit Begeisterung verfolgt werden. Nun hätte man meinen können, dass damit dieser Disziplin bei den Spielen in Chile ein tödlicher Schlag versetzt wurde. Dem war aber mitnichten so, man schlug dort sogar die USA und Brasilien und gewann den Mannschaftswettbewerb, bei dem sogar eine fehlende Gewichtsklasse mit der äußersten Hingabe des gesamten Teams ausgeglichen wurde.
Eine andere Front spielt sich in der Kultur ab. Ein Skandal, der es weltweit in die Medien schaffte, war der Auftritt eines als Hitler verkleideten jungen Mannes im Maxim Rock in Havanna, der dann auch noch einen Preis gewann. Da haben sich viele zum einen die Frage gestellt, warum eine staatliche Einrichtung überhaupt Halloween-Partys veranstaltet, da Halloween nun so gar nichts mit der kubanischen Kultur zu tun hat und auch nichts ist, was sich für einen Kulturaustausch mit den USA eignet. Zum anderen – und das ist noch viel Erschreckender – warum haben die Veranstalter den Mann reingelassen und warum haben ihm dann auch noch die Massen dort zugejubelt? Hinzu kommt, dass bekannt wurde, dass in Argentinien auf einer privaten Halloween-Veranstaltung ein Hitler-Maskierter sofort von der Security entfernt wurde und in Argentinien soll es doch einige Faschisten geben.
Was ist hier schief gelaufen? Wie konnten wir so im Bildungs- und Kulturbereich versagen? Dazu schrieb Pedro Jorge Velazquez in Cubadebate: Kulturelle und ideologische Kämpfe werden nicht per Dekret gewonnen, aberzu der überwältigenden und beherrschenden Macht der imperialen Kultur, der mit ihr verbundenen Praktiken und ihrer märchenhaften Verbreitungskanäle sollte nicht noch hinzukommen, dass ihr Raum gegeben wird, um in unseren Ländern Fuß zu fassen, unsere Köpfe zu kolonisieren, unsere Kultur zu entwürdigen und unsere Werte zu pervertieren.
Gibt es die Hoffnung, dass Kuba diesen Kampf, der ihm an allen Fronten – Wirtschaft, Handel, Finanzen, Ideologie, Kultur, Sport etc. aufgezwungen wird, irgendwann gewinnt oder zumindest seine Position verbessert? Hier hat man ja lange gehofft, dass nach dem Alptraum von Trumps zweihundertdreiunvierzig Maßnahmen und der Aufnahme in die Liste der Staaten, die angeblich den Terrorismus unterstützen, alles nur besser werden könne. Aber inzwischen ist mehr als deutlich geworden, dass wir unsere Politik in keiner Weise auf die USA ausrichten dürfen. Darauf zu hoffen, dass die USA uns einmal wohlgesonnener werden, würde uns nur davon abhalten, nach wirklichen Alternativen zu suchen. Wir können uns nur aus der Strangulierung befreien, wenn wir uns mit dem globalen Süden, mit anderen Sanktionsgeschädigten zusammentun, um mit ihnen gemeinsam zu versuchen, den Klauen der USA zu entkommen. Dass man sich auf diesem Weg befindet, zeigen die Besuche von Präsident Díaz-Canel in Asien und Afrika und die Gegenbesuche der Führung dieser Länder in Havanna.
Gipfel der G 77 + China in Havanna
Zwei Freunde beim Treffen der G77 + China in Havanna: Brasiliens Präsident Lula da Silva und sein kubanischer Kollege und Gastgeber Miguel Díaz-Canel. |
Der BRICS- Gipfel in diesem Jahr in Südafrika hat ein weltweites Medienecho hervorgerufen und war ein Meilenstein, was die internationalen Beziehungen angeht. Besonders bedeutsam war hier der Reserve- und Stabilisierungsfonds der neuen Entwicklungsbank, die den Finanzierungsbedürfnissen der Entwicklungsländer entgegenkommt und eine Alternative zur Kreditvergabe darstellt, wie sie von den multinationalen Finanzinstituten gehandhabt wird.
Der kubanische Präsident Díaz-Canel war auch dort, hat eine Rede gehalten und ist am Rande des Gipfels unter anderem mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jin Ping und dem Präsidenten des Gastgeberlandes Cyril Ramaphosa zusammengetroffen. Kuba war zu diesem wichtigen Gipfel in seiner Eigenschaft als pro tempore Vorsitzender der G 77 + China eingeladen.
Kurze Zeit später fand dann der G 77 Gipfel "Aktuelle Herausforderungen der Entwicklung: Die Rolle von Wissenschaft, Technologie und Innovation" in Havanna statt. In den schwierigen Zeiten, die Kuba durchlebt, war es natürlich eine Herausforderung, Gastgeber für eine solch große Zahl von Präsidenten, Regierungschefs und hochrangigen Vertretern aus Ländern, Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu sein und ein solch bedeutsames Ereignis auszurichten. Alle Fünf-Sterne-Hotels der Hauptstadt wurden besichtigt und wenn für gut befunden, zur Einquartierung der hohen Gäste freigegeben. Ihnen war schon vorher bekanntgegeben worden, dass dies kein luxuriöser Gipfel sein werde, aber am Ende äußerten alle, wie zufrieden sie waren und wie gut organisiert alles gewesen sei. Die Atmosphäre war dann auch sehr entspannt und die Präsidenten genossen es, abends nach getaner Arbeit in Straßencafés in der Umgebung ihres Hotels zu sitzen, relaxed und ganz ohne Bodyguards.
"Jetzt ist der Süden an der Reihe, die Spielregeln zu verändern", sagte der kubanische Präsident auf diesem Gipfel von Havanna, bei dem mehr als 1.300 Teilnehmer aus 116 Ländern anwesend waren, die insgesamt 80 Prozent der Weltbevölkerung vertreten. 33 hochrangige Vertreter aus lateinamerikanischen und karibischen Ländern, 46 aus Afrika, 34 aus Asien und drei aus anderen geografischen Regionen kamen in die kubanische Hauptstadt. Havanna war in diesen Tagen wirklich die Hauptstadt des Globalen Südens. Die G 77 entstanden 1964 im Rahmen der Blockfreien. Später kamen immer mehr Länder hinzu, aber man behielt den Namen bei. Heute sind dort 134 Länder vertreten. 1992 schloss sich China an.
Es ging den Staaten zunächst nicht darum, das bestehende System zu verändern. Man wollte nur den Nord-Süd Verhandlungen neuen Schwung verleihen, sagte der herausragende Diplomat Abelardo Moreno Fernández in einem der Zeitung Granma gewährten Interview. Anfang der 1970er Jahre, als der Prozess der Entkolonisierung bereits fortgeschritten und alle internationalen Initiativen zur Entwicklung dieser Länder gescheitert waren, hätten sich innerhalb der Gruppe der 77 Zweifel an der Beibehaltung des vorherrschenden Entwicklungsmodell geregt. Ihnen sei allmählich klar geworden, dass die Institutionen des einst von den entwickelten kapitalistischen Ländern geschaffenen Wirtschaftssystems, dazu dienten, deren Interessen zu befriedigen, sie aber die besonderen Bedingungen der unterentwickelten Länder völlig ignorierten. Sie wurden weiter in Armut und Abhängigkeit zurückgelassen. Man erkannte, dass die Wirtschaftsordnung grundlegend verändert werden müsse. "Nachdem die Schaffung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung von der Bewegung der Blockfreien vorgeschlagen worden war, wurde dies das Hauptziel der Gruppe der 77", sagte er.
Laut Abelardo Moreno treffen in dieser heterogenen Gruppe verschiedene Ideologien und Weltanschauungen zusammen, so dass man Schwierigkeiten hatte, sich bei den grundlegenden Problemen zu einigen, und man nur Minimalforderungen beschließen konnte, mit denen die wirklichen Probleme der Länder nicht zu lösen waren. Das Haupthindernis bei der Verwirklichung des Ziels der Gruppe der 77, einen starken Nord-Süd-Dialog zu entwickeln, der konkrete Probleme lösen würde, seien die Vereinigten Staaten. Dort wolle man nämlich, dass jede dort zu treffende Entscheidung zunächst über den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank laufe und deren Empfehlungen berücksichtigt, Empfehlungen, die natürlich immer den Interessen der westlichen Welt entsprechen. "Dieser Mangel an Fortschritten im Nord-Süd-Dialog veranlasste die G77, sich zunehmend auf die Süd-Süd-Zusammenarbeit zu konzentrieren, die von den westlichen Industrieländern nicht direkt neutralisiert werden kann", führte er aus. Diese sei aber auf große Hindernisse gestoßen. Abelardo Moreno nannte drei davon, die von grundlegender Bedeutung waren: Erstens wurde von den Vereinigten Staaten und Gruppe der Sieben und auch von einigen neoliberalen Denkfabriken vorgeschlagen, "dass die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung verschwinden müsse, weil sie ein Instrument in den Händen der Gruppe der 77 sei. Und sie gingen noch weiter: die Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung müsse ebenfalls verschwinden.
Das koloniale Erbe, das zur Konsolidierung einer internationalen Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Peripherie führte, war genauso ein Hindernis wie das Fehlen einer Kommunikationsinfrastruktur, einer Infrastruktur für Finanzierung, um Handels- und andere Beziehungen auf Süd-Süd-Ebene wirklich zu fördern.
Abelardo Moreno hob als eine weitere Hürde die Schaffung von diversen Unterabteilungen der Gruppe hervor: z. B. Gruppe Inselländer, Gruppe Binnenländer etc. Auch wenn er sieht, dass es jeweils verschiedene Bedürfnisse gibt, habe dies aber die Gruppe atomisiert. Er erinnerte, an die Stärke, die die große Mitgliederzahl darstelle. In den 1970er und im größten Teil 1980er Jahren habe dies unter dem Einfluss der blockfreien Länder ermöglicht, dass die G 77 in der Lage war, "jede Entscheidung durchzusetzen. In den Vereinten Nationen wurde sie als Dampfwalze bezeichnet, und die Länder der Gruppe der 77 waren, wenn sie beschlossen, gemeinsam zu handeln, wirklich wie eine Dampfwalze".
Jetzt, bei dem Gipfel in Havanna, wurde eines deutlich: Die Länder wollen dringend, eine umfassende Reform der internationalen Finanzarchitektur. Das ging aus praktisch allen Reden der in Havanna vertretenen Präsidenten und Delegationsleiter hervor. Sie alle fordern eine stärkere Vertretung der Entwicklungsländer in den globalen Entscheidungsgremien und dadurch auch einen besseren Zugang zu Wissenschaft, Technologie und Innovation. Sie wollen nicht mehr, dass die USA und deren Verbündete Politik, Wirtschaft und Finanzen steuern und aus dieser Macht heraus nach Belieben Sanktionen verhängen und die Souveränität der Staaten untergraben können.
Auch UNO- Generalsekretär Gutierrez, der an dem Gipfel teilnahm, hob dessen Bedeutung für die Vereinten Nationen hervor. Er hofft, dass die Stimme des globalen Südens einen starken Impuls für die notwendigen Reformen in der UNO und in der internationalen Finanzarchitektur leistet. Er sagte, dass die Institutionen nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen worden seien, als es viele Länder, die heute Mitglieder der UNO seien, überhaupt noch nicht gab und ihre Stimme folglich nicht gehört wurde.
Die Erklärung von Havanna ist das genaue Gegenstück zu der von den USA errichteten Ordnung, die die Welt in Blöcke aufteilt, extrem polarisiert, ungerecht gegenüber den Entwicklungsländern ist und im Sinne der hegemonialen Interessen der USA funktioniert.
Dort wurde auch die Rolle von Wissenschaft, Technologie und Innovation als Säulen für ein anhaltendes Wachstum der Länder des Südens hervorgehoben und die Unterstützung der entwickelten Länder eingefordert, die ihre historischen Verpflichtungen erfüllen müssten.
Vor allem war der Gipfel ein Impuls für die Süd-Süd-Kooperation, um sich gegenseitig zu ergänzen mit Ressourcen und Know how, damit die Länder des Südens die gemeinsamen Herausforderungen bewältigen können.
Die von allen verabschiedete Erklärung von Havanna wendet sich auch gegen die Auferlegung von Gesetzen und Regelungen die einen extraterritorialen Charakter haben, sowie gegen die einseitigen Sanktionen gegen Entwicklungsländer und fordert deren sofortige Aufhebung.
Man kam außerdem als Teil des Aktionsplans überein, den Präsidenten der Generalversammlung zu bitten, im Rahmen der achtzigsten Sitzungsperiode der UNO-Vollversammlung ein hochrangiges Treffen zu Wissenschaft, Technologie und Innovation für die Entwicklung einzuberufen, das seinen Schwerpunkt auf denjenigen Maßnahmen haben soll, die den Bedürfnissen der Entwicklungsländer in diesem Bereich entgegenkommen. Man verpflichtete sich auf nationaler und internationaler Ebene, die in der Erklärung enthaltenen konkreten Maßnahmen durchzuführen, bekräftigte den Beschluss, die Arbeit des Konsortiums Wissenschaft, Technologie und Innovation für den Süden (COSTIS) wieder aufzunehmen und forderte die Mitglieder der Gruppe dazu auf, Strategien zu entwickeln, um ein wirksames Funktionieren zu garantieren.
Im Anschluss an den Gipfel begab sich der kubanische Präsident nach New York, um in der UNO-Vollversammlung im Namen der G77 + China zu sprechen und die Ergebnisse des Gipfels zu erläutern. Eines steht fest, ganz im Gegensatz zu der Rede von Bundeskanzler Olav Scholz oder der des Präsidenten Selensky, war das Auditorium bei der Rede von Präsident Díaz-Canel gut gefüllt.
Jetzt bleibt abzuwarten, ob sich die G77 + China wieder als Dampfwalze bewährt, um die Ergebnisse des Gipfels durchzusetzen.
Der erfolgreiche Gipfel hat die Einheit der G77 deutlich gemacht. Das kann man auch daran anerkennen, dass anders als bei G 7 und ähnlichen Treffen, die Abschlusserklärung, die Erklärung von Havanna, von allen unterzeichnet wurde und das Gruppenbild all dieser Staats- und Regierungschef und hochrangigen Persönlichkeiten war wirklich beeindruckend.
Entgegen aller Bemühungen der USA, Kuba zu isolieren, wurde die revolutionäre Regierung bei der Durchführung des Gipfels von allen der G77 Ländern unterstützt. Alle bedankten sich für die hervorragende Organisation und den guten Verlauf des Treffens, das hoffentlich ein Meilenstein für das Erreichen der legitimen Forderungen der Entwicklungsländer darstellt.
Renate Fausten
CUBA LIBRE 1-2024