Internationales Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films im Dezember 2022 in Havanna, Teil III.
Nachdem in den letzten beiden Ausgaben von CL das Festival selbst und einige Filme aus Lateinamerika vorgestellt wurden, sollen diesmal die kubanischen Filme im Zentrum stehen. Das Gastgeberland war 2022 mit weniger Langspielfilmen als gewöhnlich präsent. Die Blockade, die Krisen, die Pandemie haben ihre Spuren auch in der Filmindustrie hinterlassen.
Aber mit den beiden Filmen Bajo un sol poderoso (Unter einer mächtigen Sonne)und El mundo de Nelsito (Nelsitos Welt) war Kuba mit zwei Werken im Wettbewerb vertreten, die sich thematisch und ästhetisch deutlich voneinander abheben.
Die beiden Spielfilme im Wettbewerb:
Nelsitos Welt und Unter einer mächtigen Sonne
Bajo un sol poderoso von Enrique Álvarez ist ein komplex anmutender, eher fordender Kunst- bzw. Künstler-Film.
Die Beschreibung des Katalogs lautet: "Ein kubanischer Filmemacher schließt sich in seinem Haus ein, um sich mit seiner Einsamkeit und den Geistern der Liebespaare zu konfrontieren, die in drei seiner Filme der letzten drei Jahrzehnte die Hauptrollen spielten. Ein Essay über Einsamkeit, die Abwesenheit, die Unruhe und die Wirkung der sozialen Verhältnisse auf die Einzelnen in Havanna."
In seiner "poetische Collage" (Berta Carricarte auf cinelatinoamericano.org), verarbeitet Kiki Álvarez neu gedrehte Szenen, in denen er im Voice over seine Ängste, Gedanken und Wünsche artikuliert, mit Archivmaterial früherer Werke seit 1989. Ein Zeitraum, in dem Kuba sich bekanntermaßen vielen Herausforderungen und Veränderungen stellen musste. In seiner filmischen "Reise in sein Gedächtnis" greift der Regisseur Momente und Fragen auf, die für ihn exemplarisch für seine Generation und Epoche stehen, ohne einen stringenten Erzählfaden zu spinnen.
Damit erinnert Bajo un sol poderoso nicht zufällig an die Filme der Nouvelle Vague. sondern ist auch als Hommage an Jean-Luc Godard, dem wohl bekanntesten Vertreter dieser Stilrichtung, gedacht. Schon der Titel – so Álvarez – sei einem Zitat aus Godards Film L´amour entnommen: "Ein einziges Paar unter der mächtigen Sonne mit einem einzigen Wunsch, versunken in ihrem eigenen Bild. Ein unendliches Paar."
Das etwas rätselhafte Zitat verdeutlicht die Vorgehensweise dieser Stilrichtung, für die das Spiel mit Symbolen und (Ab-)Bildern sowie das Arbeiten mit Zitaten und Anspielungen auf die Filmgeschichte typisch ist. Neben der collageartigen, experimentellen Montage zeichnen sich die Erzählweise und Ästhetik der Nouvelle Vague durch minimalistische Bildsprache und Improvisation der Schauspielenden aus, selten wird mit einem festen Drehbuch gearbeitet. In einfachen Bilder werden philosophische Themen behandelt über Sehnsüchte und das Wesen des Individuums, Individualismus und Universalismus, das Gefangensein in Gefühlen und die Suche nach Verortung in der Welt…
Es ist ein eher intellektuelles Kino, dessen tiefgründig anmutender, postmoderner Habitus bei der Verfasserin dieses Artikels aber offen gestanden eher Langeweile als Unterhaltung oder Erkenntnis hervorruft.
Der Regisseur Enrique Álvarez studierte an der Universität Havanna Kunstgeschichte und an der internationalen Film- und Fernsehhochschule EICTV (Esuela Internacional de Cine y Television) in San Antonio de los Baños Kommunikation und Dramaturgie. Heute leitet er dort den Fachbereich Regie. Seine Erstlingsfilme gelten als die ersten Werke von Videokunst in Kuba, weitere werden dem experimentellen Kino zugerechnet.
Produktion und Förderung
Bajo un sol poderoso sei aber eine Gemeinschaftsproduktion, die vor allem im Schnitt entstanden sei. Der Film enthalte "kreatives Material" aus mehreren Ländern, erklärt der Regisseur, als er beim Filmfestival in Toulouse nach der Bedeutung der Koproduktionsländer Kolumbien und Spanien gefragt wird. Sein Kameramann Nicolas Ordóñez sei Kolumbianer und eine der beteiligten Kubanerinnen habe eine Produktionsfirma in Madrid. Die Nennung der Koproduktionsländer sei also eher als Kenntlichmachung dieser kreativen Zusammenarbeit zu verstehen. Ins Raster des etablierten Systems der Koproduktionen, die entsprechende Finanzmittel beisteuerten, passten seine Filme nicht.
Gefördert wurde die Fertigstellung des Film aber von dem seit 2020 existierenden Förderfonds des kubanischen Films (Fondo de Fomento del Cine Cubano). Auch andere Filme, die 2022 auf dem Festival liefen, wurden 2020 von diesem Fond im Bereich Postproduktion gefördert: Die Dokumentarfilme Mafifa (von Daniela Muñoz Barroso über die legendäre – vor 40 Jahren verstorbene Mafifa – die seinerzeit als einzige Frau in Santiago de Cuba in die Männerdomäne der Conga-Ensembles vordrang und dort die Campana/Glocke spielte.), Bongo Itá (von Maykell Pedrero über die Geheimgesellschaft der Abakuá, eine afrokubanische religiöse Bruderschaft, die sich bis vor kurzem noch gegenüber Nichtinitiierten strikt abschottete.) und Virgilio desde el gabinete azul (Virgilio, aus dem blauen Kabinett) von Raydel R. Araoz Valdés über Leben und Werk des Dichters und Theatermannes Virgilio Piñera.
Teil der sechsköpfigen Jury, die über diese Förderungen befand, war der wohl bekannteste zeitgenössische Regisseur Kubas, Fernando Pérez, dessen neuester Film ebenfalls auf dem Festival zu sehen war.
El mundo de Nelsito
In der Machart konventioneller ist Pérez Film, da das Gezeigte mit (sichtbar) professioneller Bildgestaltung, Kameraarbeit, Ausleuchtung, Tonspur und Musik etc. ästhetisch optimiert wird. Die Geschichte selbst ist zwischen Komödie und Drama angesiedelt und auch eher ungewöhnlich, spielt mit den Realitätsebenen und ist nicht geradlinig erzählt. Pérez arbeitet häufig wie z. B. in seinem Klassiker La vida es silbar mit phantastischen Elementen. In diesem Fall gehen sie aber über die übliche Verwendung in der lateinamerikanischen Tradition des magischen Realismus hinaus. Die Geschichte wird nicht durchsetzt, bereichert und kontrastiert durch magische Elemente, Träume oder Halluzinationen, sondern die Geschichte selbst setzt sich aus den phantastischen Projektionen des Protagonisten auf seine Mitmenschen zusammen. Seine Phantasie ist die Essenz des Films selbst und stellt die Frage nach dem Wesen der Realität.
Nelsito, ein 16-jähriger Autist, wird von seiner Mutter aufopferungsvoll betreut und zu seinem Schutz in der Wohnung eingesperrt, wenn sie zur Arbeit muss. Denn er kann sich selbstständig nur schwer in seiner Umgebung zurechtfinden und bewegen. Wie berechtigt die Sorge der Mutter ist, wird deutlich, als er es trotz der Vorsichtsmaßnahmen seiner Mutter schafft, die Wohnung zu verlassen – oder hatte die Mutter an diesem Tag vor lauter Stress doch vergessen, die Tür richtig abzuschließen? Prompt verursacht er nach wenigen Minuten auf der Straße einen Autounfall und wird angefahren.
Während sich alle sehr besorgt um Nelsito bemühen und die Sanitäter ihn in den Krankenwagen heben, registriert er mit großen Augen jedes Detail. Auch vom Bett im Krankenhaus beobachtet er seine Umgebung aufmerksam und taucht scheinbar allwissend in die diversesten Abgründe der Personen um sich herum ein und erzählt sich und dem Publikum deren Geschichten.
Die Menschen werden zu Spielfiguren in seinem eigenen Film. Er (be-)nutzt sie, um seiner Fabulierlust freien Lauf zu lassen und der Enge seiner Realität zu entfliehen, in die ihn seine Krankheit/Behinderung einsperrt, da sie ihm wenig Möglichkeiten der Interaktion und Kommunikation lässt.
Dreharbeiten zu El Mundo de Nelsito |
So setzt Nelsito die Geschichte mit jeder Figur, die er in den Blick nimmt, neu zusammen. Er schert sich nicht um Stringenz, knüpft an Elemente aus vorhergehenden Perspektiven an oder zerschlägt sie und malt immer wieder ein neues Bild.
Die Episoden werden durch die Personen verbunden, die immer wieder auftauchen und durch die Verknüpfung jeder Geschichte mit einer Situation, die er am Unfalltag erlebt hat.
Nelsitos Gedankenexperimente nutzen also die Impulse, die von der erlebten Realität ausgehen, er lässt sich von ihnen in verschiedene Richtungen schubsen und lässt jegliche gesellschaftlichen und moralischen Konventionen fahren. In seinen Phantasien dominieren fast durchgängig negative, in der Regel gesellschaftlich sanktionierte Verhaltensweisen wie betrügerische Selbstbereicherung oder überzogene Befriedigung von Rachegelüsten.
Diese sind zwar häufig aus dem Leiden an strukturellen Ausbeutungsstrukturen wie z. B. dem Patriarchat oder aus der konkreten ambivalenten Situation der Handelnden heraus irgendwie erklärbar und werden charmant und witzig präsentiert, was dem Publikums schmunzelndes Verständnis entlockt. Sie sind aber auch Ausdruck einer – egozentrisch zur Verzweiflung gesteigerten – fehlenden oder enttäuschten (ökonomischen, künstlerischen oder persönlichen) Selbstverwirklichung. Für die geplatzten Träume werden Schuldige gesucht, um sich über die verwirklichte ‚Rache‘ eine Ersatz-Befriedigung zu verschaffen.
So wird aus einer beiläufigen Bemerkung seiner Mutter am Telefon, die Freundin solle ihren Verflossenen doch nun endlich mal begraben und nach vorne schauen und sich auf ihre Ausstellung konzentrieren, ebenjene Freundin zur Serienkillerin: Die etwas abgehalfterte, neureiche Künstlerin versucht ihrer Midflifecrisis zu entkommen und ihr Ego aufzuwerten, indem sie sich immer wieder aufs Neue mit jungen Männern einlässt. Diese nutzen sie dann wieder nur aus und am Ende, wenn sie ihr gegenüber zu widerwärtig oder brutal werden, düngt sie unter Beihilfe ihrer beiden Freundinnen ihren Garten mit ihnen.
Die zweite, neben Nelsitos Mutter, ihr dabei zur Hand gehende Freundin, die ihren im Rollstuhl sitzenden Ehemann pflegt, rächt sich in Nelsitos Phantasie an ebenjenem, indem sie ihm seine Hilflosigkeit boshaft vor Augen führt, dass seine Immobilität endlich ihre Freiheit bedeute, da er ihr nicht mehr reinreden könne. Er sei von ihr abhängig und müsse zusehen, wie sie ihr Leben endlich genieße. Nun begänne ihr Leben erst, trällert sie. Da ist es noch das geringste, dass sie sein heißgeliebtes Auto zu Schrott fährt.
Die beiden Jugendlichen, die einen schmierigen Spanier in die Falle locken, haben in jedem Fall die Sympathie des Publikums auf ihrer Seite. Nachdem sie dem Geschäftsmann auf seinem Hotelzimmer Geld abgenommen haben, empfehlen sie ihm, seine sexuellen Ausbeutungsversuche nicht noch einmal in einem Land zu unternehmen, in dem es eine kostenlose Schulbildung gibt.
Wenig Sympathie wiederum kann man für die boshaft wirkenden Zwillingsjungen aufbringen, die die demente alte Frau, die ihre Mutter pflegt, nachts und mit Hilfe übler emotionaler Manipulation auf die Straße bugsieren, weil sie keine Lust haben, auf sie aufzupassen. Sie erzählen ihr, ihre Söhne warteten auf sie. Dabei ist der eine beim Versuch, illegal auszuwandern, ertrunken, der andere in Angola gefallen. Ihr geschieht ähnliches wie Nelsito: Sie wird überfahren. Während ihn die Neugier auf die Welt jenseits der von der überbehütenden Mutter verschlossenen Tür auf die Straße treibt, wird sie in bösartiger Manier mit ihren eigenen Sehnsüchten betrogen und in ihr Unglück gelockt.
Wieder zuhause, wird Nelsito von dem aus seiner Phantasie wieder in die Realität zurückgefallenen Schauspielensemble empfangen. Die Nachbarinnen und Nachbarn verhalten sich gänzlich anders, als in seinen Gedankenspielen, nämlich freundlich, aufmerksam und hilfsbereit. Die Realität hat wieder die Oberhand.
Doch ein Zweifel bleibt, ob das nur Fassade sein könnte. Ist die Freude an der makabren Phantasie auch ein Ergebnis der Wolke aus Freundlichkeit und Fürsorge, mit der ihn alle umgeben?
Eine Art Selbstermächtigung, indem er sich die schlechten Seiten der Menschen ausmalt und überspitzt, die sie zu verstecken oder zu unterdrücken versuchen? Nelsito lebt sie für stellvertretend für die Figuren satirisch überzeichnet aus.
Diese Überspitzung ist durchaus Erkenntnis fördernd. Beispielweise wird das Gewaltpotential patriarchaler Strukturen, die oft alltäglich und harmlos daherkommen, erst so richtig in der gewalttätigen, teils bösartig scheinenden Reaktion der weiblichen Figuren deutlich: Ein Thema, das Fernando Perez in verschiedenen Filmen aufgreift und immer wieder starke Frauenfiguren zeichnet. Nelsitos Vater z. B. glänzt durch Abwesenheit.
Es ist zwar amüsant, dieser von Verzweiflung und Zurückschlagen geprägte Variante der Selbstermächtigung zuzuschauen (Nelsito lächelt auch immer wieder verschmitzt auf dem Krankenlager), glücklicher macht es die Figuren nicht.
Da ist man über das Ende des Films froh, als Nelsito in die Realität zurückkehrt und seine ‚Figuren‘ wieder zur Freundlichkeit in der Lage sind – trotz ihrer Probleme und Nöte. Am Ende kommt es dann doch darauf an, wie sich die Menschen konkret verhalten und welche Realität sie schaffen. Und auch Nelsito scheint sich mit seinem wissenden Lächeln und den großen Augen zu freuen, wieder zu Hause zu sein. Sein liebenswürdiger und gelassener Gesichtsausdruck vermittelt einen Kernsatz, den Pérez in einem Interview äußerte: Es sei wichtig, die Menschen zu verstehen und nicht zu verurteilen.
Wettbewerb ist nicht alles – Weitere Spielfilme des Festivals
Ein Filmemacher schließt sich in seinem Haus ein, um sich seiner Einsamkeit und den Geistern von drei Paaren zu stellen, den Protagonisten von drei der Filme, die er über 31 Jahre hinweg gedreht hat, vom Fall der Berliner Mauer bis zur Gegenwart. Ein Essay über Einsamkeit, Abwesenheit, Unbehagen und die Belastung des Einzelnen durch soziale Umstände. Ein Film über Havanna, gelebt und gefilmt unter sengender Sonne. |
Fernando Pérez zeichnet auch für die Projektkoordination von Cuentos de un día más (Geschichten eines anderen Tages) verantwortlich, der außerhalb des Wettbewerbs lief. Die Gemeinschaftsproduktion zwischen dem Filminstitut ICAIC und selbstständigen Produzenten und Filmemachern besteht aus sechs Episoden unterschiedlicher Regisseurinnen und Regisseure, die lose miteinander verbunden sind. Sie handeln "von der Liebe in Zeiten der Pandemie und des Eingeschlossenseins. Im Ergebnis ist es nicht einfach eine Abfolge von Kurzfilmen, sondern ein in jeder Hinsicht überzeugender abendfüllender Spielfilm. Cuentos de un día más hauchte der in der Pandemie darniederliegenden Filmindustrie neues Leben ein, die Episoden sind mal minimalistisch und mal komplex und geben in spannender wie künstlerisch ansprechender Form den Gefühlen und Beziehungen der Menschen unter schwierigen äußeren Bedingungen Raum." (Aus dem Programmheft von Cuba im Film: http://www.cubafilm.de)
Der Film Club Habana, sei nur der Vollständigkeit halber hier erwähnt, erscheint der Verfasserin aber keiner größeren Besprechung wert. Das schon oft gesehene Drama der inneren Zerrissenheit zwischen Gehen und Bleiben, die Frage nach der eigenen Selbstverwirklichung – verknäult mit Liebe, Familienstreit (wer jetzt gerade wen hintergeht), einem one night stand etc.pp – wird diesmal im Szenario eines Nachtclub wiedergekäut, in den sich eine junge Künstlerin vor einem Sturm flüchtet.
Spielfilme sind nicht alles – Weitere Sparten des Festivals
Auch einige kubanische Dokumentar-, Kurz- und Animationsfilme wurden auf dem Festival präsentiert. Einige der Dokumentationen widmen sich Persönlichkeiten der kubanischen Geschichte und Kultur. Drei Besipiele: Esa es la vida, Octavio (Das ist das Leben, Octavio) von Patricio Wood umreißt z. B. das Leben und Werk des 2008 verstorbenen Cineasten Octavio Cortázar, Urheber einiger wegweisender Filme, so der Kurzdokumentation Por primera vez (Zum ersten Mal), in der er die Reaktionen der ländlichen Bevölkerung auf die mobilen Kinoprojektionen dokumentiert, die nach der Revolution und der Alphabetisierungskampagne den Menschen im ländlichen Raum auch kulturelle Erlebnisse wie Kino und Theater zugänglich machen sollten. Oder der Klassiker EL Brigadista (Der Lehrer), über einen Jungen, der an der Alphabetisierungskampagne teilnimmt.
Lucía, mujer orquesta (Lucía, Orchesterfrau) von Liuba María Hevia, präsentiert das musikalische Multitalent Lucia: Musikerin, Komponistin, Produzentin und vieles mehr. (Im Original ohne Untertitel, auch auf Youtube zu finden). Rebeca Chávez Domínguez wiederum beleuchtet in Charo Guerra y Georgina Herrera. Otra vez frente al espejo (Charo und Georgina erneut vor dem Spiegel) das Wirken der Autorinnen Charo Guerra y Georgina Herrera aus der "Generation der 80er".
Die Kurzfilme behandeln die unterschiedlichsten Themen auf unterschiedliche Art und Weise. Auch hier drei Beispiele: La novicia jardinera von Artuto Sotto. Ein Historienkurzfilm über eine junge Frau aus Havanna, die in einem Kloster ihre Leidenschaften beherrschen lernen soll, während draußen die spanische Grippe wütet.
Szene aus La Campaña |
La campaña von Eduardo del Llano: Ein Film über einen jungen Brigadisten, der in der Alphabetisierungskampagne davon überrascht wird, dass er der ihm zugeteilten Familie gar nichts mehr beibringen, sondern im Gegenteil von ihnen lernen kann. Der Film spielt mit Klischees über die Rückständigkeit der ländlichen Bevölkerung und einem bestimmten Dogmatismus einer (in diesem Fall revolutionären) Rhetorik, der es schwer fällt, anzuerkennen, wenn die Realität an einer Stelle nicht mit der Theorie übereinstimmt. Mit diesem recht einfachen Stilmittel, Realität und Proklamation zu kontrastieren, hat man leicht die Lacher auf seiner Seite.
Entsprechend häufig taucht es in kubanischen Filmen auf. Es ist aber auch ein sehr ambivalentes bis gefährliches Stilmittel, das leicht zu instrumentalisieren ist und dazu neigt, die tatsächlichen Errungenschaften zu schmälern oder der Lächerlichkeit preiszugeben. Das muss nicht zwingend der Intention des Künstlers oder der Künstlerin entsprechen, aber z. B. das Schmunzeln über die Nöte des jungen Revolutionärs, der sich nicht traut, seinem Chef zu sagen, dass die ihm zugeteilte Bauernfamilie bereits lesen und schreiben kann, weil sie das aus der Theorie heraus nicht können dürfte, kann sich schnell zur Grimasse verzerren, die schreit: "Seht ihr, was für Zustände dort herrschen!" Darum wissend, dass jede kritische Äußerung (erst recht eine satirisch zugespitzte und dadurch verkürzt plakative Äußerung) in Kuba dazu instrumentalisiert wird, zu demonstrieren, dass ja keine kritische Äußerung möglich sei, sollte man mit solchen Stilmitteln sehr bedacht umgehen.
Überall auf der Welt klafft eine Lücke zwischen offiziellen Proklamationen und der konkreten Umsetzung bzw. werden Fehler ungern eingestanden – wenn man an Interviews mit deutschen Politikerinnen und Politikern denkt, die rhetorische Allgemeinplätze abspulen und die Antwort sich nur äußerst selten mit der gestellten Frage in Verbindung bringen lässt und an sich schon häufig so satirischen Charakter haben, dass sich die Kabarettistinnen und Kabarettisten beschweren, dass ihnen nichts mehr bleibe, was sie überspitzen könnten. Aber in wenigen Ländern scheint mir die satirische Kritik an dieser offiziellen Rhetorik im Verhältnis zur Gesamt-Filmproduktion so häufig. Filmen wie Don´t look up stehen Unmengen an Produktionen ohne einen Hauch eines kritischen Anspruchs gegenüber.
Gustavo Fernández-Larreas Film Censura (Zensur) handelt von einem Nachrichtensprecher in einem fiktiven Land, dem die Zensur immer mehr auszusprechen verbietet. Nachdem das Regime gestürzt und die Meinungsfreiheit angeblich wieder hergestellt ist, muss er aber feststellen, dass auch die neuen Machthaber Zensur ausüben. Nur die Dinge, die er nicht sagen darf, haben sich verändert.
Zu guter Letzt sei noch der 60-minütige Animationsfilm La Súper von Ernesto Piña Rodríguez erwähnt, in dem der Geist einer mythischen indigenen Kämpferin (Jevalentina) in die junge Yudeisi fährt und sie in eine Superheldin verwandelt, die Frauen gegen machistische Übergriffe verteidigt. Sie bekommt viel Gegenwind, aber auch Unterstützung.
Der Trailer Bajo un sol poderoso mit englischen Untertiteln gibt einen kleinen Eindruck wieder: www.youtube.com/watch?v=T6yhLIrvFuQ
La campaña ist mit englischen Untertiteln hier zu finden: youtube.com/watch?v=mVUUMs8VGDk
Censura ist ebenfalls auf Youtube zu finden: youtube.com/watch?v=gdufn1RkUtc
La Super: Ein kleiner Bericht auf spanisch findet sich hier: youtube.com/watch?v=-Vqqzh92d2Q
Franziska Rheinke
CUBA LIBRE 4-2023