Jorgitos Log:

Sie bellen, weil wir weiterziehen

Jorgito Jerez Belisario


Die Kubanische Revolution schreibt unglaubliche Geschichten.

Jorge Enrique Jeréz Belisario kam 1993 mit einer schweren spastischen Lähmung auf die Welt. Er selbst sagt, dass es Jorgito el Camagüeyano nur deshalb heute noch gibt, weil er unter der schützenden Hand der Revolution aufwachsen konnte. So verwirklicht er heute seinen Lebenstraum und arbeitet als Journalist.
Jorgito war einer der wichtigsten Aktivisten im Kampf für die Freilassung der »Cuban Five«. Besonders verbunden ist er Gerardo Hernández, dessen Rückkehr nach Kuba er im Dezember 2014 feiern durfte. Der Dokumentarfilm »Die Kraft der Schwachen«, der Jorgitos Leben erzählt, ist über die Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba erhältlich.

Jorgito bloggt regelmäßig auf http://jorgitoxcuba.wordpress.com/.
Die CUBA LIBRE ehrt er mit einer regelmäßigen Kolumne.



Es mag sein, dass es einigen schwerfällt, die wirtschaftlichen Maßnahmen zu begreifen, die unser Präsident Miguel Díaz Canel Bermúdez und sein Regierungsteam am 16. Juli bekanntgaben. Sicherlich werden sie Widersprüche im Innern der Gesellschaft produzieren. Aber diese Maßnahmen sind ein Ausweg für eine Wirtschaft, die nicht nur unter den Effekten einer finanziellen Hetzjagd zu leiden hat, sondern auch einen mit hohen Kosten verbundenen Kampf gegen das Coronavirus stemmen musste.


Die Bekämpfung von COVID-19 hat in Kuba zu einem Anstieg der öffentlichen Ausgaben in Höhe von mehreren Millionen Pesos geführt, die vor allem in die Gesundheitsversorgung, die Isolationsstationen, Ernährung, Transport und Lohn- und Gehaltsgarantien investiert wurden.


CEPAL, die Wirtschaftskommission für Lateinamerika, sagt als absehbare Konsequenz aus der Pandemie für dieses Jahr einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes von 3,7 Prozent voraus. Dieser Rückgang trifft eine Wirtschaft, die zu allem Überfluss auch noch auf ihre hauptsächliche Einnahmequelle verzichten muss: den Tourismus. Die brutale Belagerung durch die USA ist weder verschwunden noch weniger geworden. Finanzielle Verfolgung und Nötigung haben sich noch verstärkt – so, als wollte man uns auf die Probe stellen.


Diesen Widrigkeiten und der Tatsache zum Trotz, dass uns ein schlechtes Ende vorhergesagt wurde, hat dieses Land SARS-CoV-2 im Griff, mit Werten, die deutlich über der sogenannten entwickelten Ersten Welt liegen. Dort, wo eine Corona-Behandlung 34.927 Pesos kosten kann. (Diese Zahl habe ich mir keineswegs ausgedacht, sondern sie erschien auf der Corona-bedingten Krankenhausrechnung einer US-Bürgerin)


Ganz anders das, was jeder Einzelne der elf Millionen Bewohner unseres Archipels erlebt hat. Tests, Krankenhausbehandlung und Isolierstation für Patienten unter Corona-Verdacht wurden aus dem Staatsbudget bezahlt und waren für Kuba somit nicht kostenlos, aber für die Begünstigten gratis.

Allein in der Stadt, in der ich wohne, beliefen sich die Ausgaben zur Bekämpfung des Coronavirus auf über 15,6 Millionen Pesos. Diese Zahl sagt sich leicht. Bedenkt man aber, dass auf der Einnahmenseite nichts zu den 1,48 Milliarden Pesos hinzukam, die für das Jahr 2020 in unserer gesamten Provinz budgetiert waren, versteht man, weshalb die Verantwortlichen sich ein Herz fassen mussten, um die Lebensfähigkeit der Region aufrecht zu erhalten.

Trotz dieser widrigen Lage blieben für über 15.800 Beschäftigte unter anderem in den Bereichen Kultur, Transport, Sport, Handel und Gastronomie die Löhne garantiert, im ersten Monat zu 100 Prozent, in den darauf folgenden zu 60 Prozent. Das verursachte Ausgaben von etwa 15 Millionen Pesos, die Hälfte davon im staatlichen Sektor. Das sind entscheidende Unterschiede zur Realität von vielen anderen Gegenden in der Welt, in denen Menschen ihre Arbeit ersatzlos verloren.

Die Zahlen über den direkten Kampf gegen die Epidemie sind noch erstaunlicher. In den Bereichen Gesundheit und Bildung wurden die meisten Mittel aufgewendet. Im Falle der Gesundheit ist es selbsterklärend und der Bildungsbereich kam für die Kosten der Isolierstationen auf, die in seinen Räumlichkeiten eröffnet wurde. In meiner Provinz wurden allein dafür 310.000 Pesos ausgegeben. Für den Transport der über 6.000 Menschen, die isoliert waren, wurden 88.000 Liter Treibstoff aufgebracht, was Ausgaben von 375.000 Pesos entspricht. Die Kosten der Verpflegung in den Quarantänezentren und Krankenhäusern beliefen sich auf 1,2 Millionen Pesos.

Für Corona-Tests stellte meine Provinz über 113.000 Pesos zur Verfügung. Die Kosten für die den 1.400 behandelten Menschen verabreichten Medikamente, waren diese letztendlich erkrankt oder nicht, beliefen sich auf 330.000 Pesos. Für Schutzausrüstungen unseres medizinischen Personals wurden 620.000 Pesos aufgebracht.

Auf der anderen Seite sind die Verluste des staatlichen Sektors in der Provinz enorm. Dennoch hat auch dieser seinen Teil beigetragen; nicht nur die großen Industriebetriebe, auch die Nahrungsmittelproduzenten haben ihr Soll übererfüllt. Nun wird es darauf ankommen, dass die kommenden Ernten einen Großteil dessen ausmachen, was wir konsumieren. Eine komplizierte Situation ist für die Weltwirtschaft zu erwarten, der sich niemand entziehen kann. Man kann nicht mehr ausgeben, als man einnimmt – diese Lehre der letzten Jahre wird dabei ein noch viel stärkeres Gewicht erlangen.

Die von mir dargelegten Zahlen sind keine kalten Ziffern, sondern Daten, die belegen, dass bei uns im Land wir Kubaner noch über der Wirtschaft stehen, egal, wie viel es kostet, Menschenleben zu retten. Im Gegensatz zu anderen Nationen spielt bei uns der effiziente Eingriff des Staates eine wesentliche Rolle. Wie Díaz Canel schon sagte, es geht nicht darum zu improvisieren, sondern darum, neue Akteure und bereits erprobte Praktiken in die Wirtschaftskonzepte und -entwicklung einzubeziehen.

Interessanterweise sind diejenigen, die diese Maßnahmen am lautesten kritisieren, dieselben, die uns dazu bewegen wollen, unsere Geschichte zu vergessen. Sie schwärmen von einem blühenden Kuba der 1950er Jahre, einem Havanna, in dem die neuesten Automodelle glänzten, die größten aus Beton gebauten Gebäude der Welt standen, Casinos, Hotels von einem Luxus, dass Meyer Lansky, einer der bekanntesten Mafiosi der damaligen Zeit, sein geheimes Leben in der Stadt hatte.

Zugleich war dieses Kuba, das einer der Paten der Organisierten Kriminalität in den USA besuchte, das Kuba, in dem ein junger Anwalt die Würde seines Landes rettete, indem er im Moncada-Prozess die Verhältnisse in seinem Land anklagte; dasselbe Kuba, in dem die Kindersterblichkeit bei über 60 Verstorbenen pro 1.000 Neugeborene lag; dasselbe Kuba, in dem die Lebenserwartung bei unter 55 Jahren lag und 90 Prozent der Kinder auf dem Land Parasiten aufwiesen.

Tausende von Kindern starben Jahr für Jahr aufgrund fehlender Ressourcen; sie wuchsen mit Verkümmerungen auf und hatten in der Regel mit 30 Jahren keinen gesunden Zahn mehr im Mund. Den Zugang zum staatlichen Hospital musste man sich mit der Wahlzusage an einen Politiker erkaufen, der daraufhin ein Empfehlungsschreiben ausstellte. "Aus dergleichen Elend lässt sich nur mit dem Tod entrinnen, und dabei hilft einem der Staat noch, zu sterben."

So präzise spitzte Fidel das Gesundheitsproblem in jenem Text zu, der mehr als eine Verteidigungsrede eine Anklage darstellte, ein politisches Programm des Angriffs auf die Moncada-Kaserne und der Revolution.

Kaum vorstellbar, dass das Kuba von damals einer Pandemie wie COVID-19 gewachsen gewesen wäre. Und dennoch sagten einige aufgrund des Mangels an Seife den Tod von 90.000 Kubanern voraus. Dabei braucht man für die Bekämpfung des Coronavirus mehr als Waschmittel.

Auch wenn es verrückt klingt: Den Kampf gegen SARS-CoV-2 haben wir bereits in den ersten Jahren der Revolution zu gewinnen begonnen. Damals verschwand die private Medizin und das Chaos in der öffentlichen Versorgung zugunsten eines Nationalen Gesundheitssystems, einem Programm, welches von Anfang nicht nur auf die Heilung von Krankheiten, sondern auf ihre Prävention ausgerichtet war.

Nur wenige erinnern sich heute noch daran, dass sich nach 1959 die Hälfte der Fachkräfte im Gesundheitsbereich dafür entschieden, unser Land zu verlassen. Heute ist das nur noch schwer vorstellbar, stellen wir doch eine Medizinmacht dar, die vor einigen Monaten in der Lage war, 20 Brigaden ins Ausland zu schicken, um die Pandemie zu bekämpfen. In Zeiten, in denen der Egoismus vieler Menschen Probleme schafft, teilen wir unsere Lösung.

Welches andere "Dritte-Welt-Land" hat es geschafft, 14 Infektionskrankheiten zu eliminieren und 29 übertragbare Krankheiten unter Kontrolle zu bringen, darunter 18 mittels einer Impfung? Darunter sind – von der WHO bestätigt – die Auslöschung der Mutter-Kind-Übertragung von HIV und die angeborene Syphilis.

Ich lebe nicht in einer perfekten Gesellschaft und möchte sie auch nicht als solche bezeichnen. Aber am 26. Juli 1953 begann die Ausgestaltung eines Werkes, in dessen Zentrum der Mensch und das Leben stehen. Das ist die Revolution von Fidel, von Abel, von Melba und von Haydée und von so vielen anderen, die sich dem großen Ziel anschlossen, das unperfekte Kuba der 1950er Jahre zu verändern.

Offensichtlich haben die, die für Kuba ein Chaos voraussagten, nicht mit unserem Erstversorgungssystem gerechnet, nicht mit der Nachverfolgung von Infektionsketten und schon gar nicht mit Interferon. Sie hatten auch nicht bedacht, dass hier gleichermaßen für das Leben eines Senioren wie für das eines Neugeborenen gekämpft wird. Das schmerzt einige Leute auf der anderen Seite der Meerenge von Florida.

Aber wie sagte schon Quijote zu Sancho Pansa? "Wenn sie bellen, dann deshalb, weil wir weiter reiten."

CUBA LIBRE Jorge Enrique Jerez Belisario

CUBA LIBRE 4-2020