Kultur in Zeiten des Coronavirus
Wahrscheinlich ist Gabriel García Márquez‘ berühmter Romantitel in jüngster Zeit schon in mannigfacher Form abgewandelt worden, aber das ist halt auch eine lähmende Nebenwirkung der Pandemie: Es fällt einem nichts Gescheites mehr ein.
Nur übers Fernsehen: Kultur in Corona-Zeiten |
Ist Kultur im Zustand verordneter sozialer Isolation überhaupt möglich? Meine Antwort ist ebenso kategorisch wie deprimierend: Nein. Das Kulturellste, was sich derzeit in Havanna (und gewiss auch anderswo in Kuba) abspielt, sind die – durch den nötigen Abstand – ausgedünnten Menschenschlangen vor Obst- und Gemüseständen, Lebensmittelläden und Garküchen "zum Mitnehmen". Hier pflegt man (durch Mund- und Nasenschutz gedämpft, den hier wirklich jeder draußen trägt) die Kultur der Kommunikation im Viertel oder doch zumindest die des nachbarschaftlichen Gesprächs – ehe man sich wieder in die Tristesse seiner eigenen vier Wände begibt, die man, wie Funk und Fernsehen nicht müde werden, uns zu mahnen, ja eigentlich gar nicht verlassen sollte. Aber manchmal braucht man eben etwas zu essen oder zu trinken oder man hat, selbst wenn an beidem kein Mangel herrscht, in diesem ungewöhnlich kommunikativen Volk das Bedürfnis nach Austausch – auch wenn es unvernünftig ist.
Der einzige Ort, an dem sich Kultur oder dergleichen offiziell abspielt, ist, den widrigen Umständen geschuldet, die Mattscheibe. Von dort aus erreichen uns neben den "virtuellen Konzerten" in den Nachmittagsstunden (einer oder mehrere Künstler plus Bühne minus Publikum) die gesungenen "Jingles" in Sachen Gesundheit mit Titeln wie "Depende de ti" ("Es hängt von dir ab"), um uns den Eigenanteil an Verantwortung durch richtiges Verhalten nahezulegen. Die edukativen Songs, nicht selten von namhaften Interpreten oder Bands vorgetragen, haben zum Teil durchaus Hit-Appeal, etwa "Los Valientes" von Israel Rojas & Buena Fe, der dem im Ausland tätigen medizinischen Personal der Brigade "Henry Reeve" gewidmet ist, oder der von Alexander Abreu & Havana D‘ Primera. Der geniale Dicke sagt uns in seinem Lied "Quiero verte otra vez", dass er uns, nachdem dies alles vorbei ist, noch einmal wiedersehen möchte (Das "lebend" bleibt ungesagt, schwingt aber mit). Ob es sich hierbei etwa um Produktionen im Auftrag der Regierung handelt? Da bin ich skeptisch. Namentlich Rojas und Abreu sind Musiker mit einem patriotischen Bewusstsein. Die muss man nicht erst mit der Nase auf etwas stoßen. Ein Stück, das ich – wie ich zuzugeben nicht umhin kann – ein bisschen problematisch finde, hat die überbordende Dankbarkeit zum Thema, die Kuba überall dort zuteilwird, wo es in diesen Tagen internationalistische Hilfe leistet. Um hier nicht falsch verstanden zu werden: Ich bin kein bedingungsloser Verfechter des Spruchs "Eigenlob stinkt". Ob es das tut oder nicht, hängt von Faktoren ab. Kuba setzt am laufenden Band Hilfsaktionen in Gang, die Lob verdienen. Die Insel ist es seit vielen Jahren sattsam gewohnt, dass ihr solches Lob von Ländern der Ersten Welt und deren Medien quasi generalstabsmäßig vorenthalten wird, und so handelt sie schon seit längerem nach dem Motto "Tue Gutes und rede darüber". Demjenigen, der das degoutant findet, halte ich entgegen: Das ist allemal besser, als die, die sich altruistisch in den Dienst der Menschen stellen, regelmäßig mit Verachtung und Ignoranz zu strafen und wie Wollmäuse unter den Teppich zu kehren. Ich bin, was das Klappern angeht, das angeblich zum Handwerk gehört, allerdings auch der Meinung, dass manchmal weniger mehr wäre …
Ansonsten gibt es viel Archivmaterial. Beim Sport funktioniert das gut. Gewiss ist es eine feine Sache, nochmal zu sehen, wie bei der WM 1986 in Spanien Diego Maradona den Siegtreffer für Argentinien gegen England mit der "Hand Gottes" ins Tor köpfte. Oder sich noch einmal einen der legendären Triumphe unseres Baseball-Teams gegen die USA (Seliger Zeiten gedenk ich …) zu Gemüte zu führen. Oder ein Resümee der besten Boxkämpfe von Teófilo Stevenson. Der kubanische Sender Tele Rebelde hat eine wahre Schatztruhe an solchen Dingen. Aber Kultur ist halt etwas völlig anderes. Natürlich kann man in Zeiten von Covid-19 schöne historische Konzerte gleich welcher Art – Nueva Trova, Pop Salsa, Klassik, Jazz – noch einmal senden. Das wird ja auch gemacht. Nur ist Kultur – wie die Revolution selber – ein Ding, das in Bewegung und nie zu Ende ist. Deshalb muss es auch im Hier und Jetzt Leute geben, die uns etwas vorführen. Bei Programmen, die nie aus dem Studio herausgekommen sind wie etwa der kulturellen Ratesendung "Escriba y Lea" ist das kein Problem. Die Älteren mögen sich noch an ein langjähriges allwöchentliches Format aus der ARD erinnern, auf dessen Namen ich mich im Moment nicht mehr besinne, bei dem aber jede Raterunde mit der Moderatorenstandardfrage begann: "Welches Schweinderl hätten Sie denn gern?" Wenn man sich nun diese Sendung ins Gedächtnis ruft und das Niveau ungefähr um das Fünfzehnfache anhebt, dann hat man eine vage (!) Vorstellung von "Escriba y Lea" des kubanischen Canal Educativo. Diesem Programm hat das Coronavirus nicht das Geringste anhaben können. Moderator und Professoren (vier Personen insgesamt) tragen auch kein "nasobucu", weil so wenige im Studio locker die soziale Distanz gewährleisten können. Aber was ist mit den "virtuellen Konzerten", die – wenn auch etliche Nummern kleiner – den sogenannten "Geisterspielen" im Fußball entsprechen? Die Protagonisten haben nichts vor sich außer der Kamera. Da wechseln sich dann etwa Eduardo Sosa und Omara Portuondo ab. Natürlich verschonen sie uns nicht mit dem Mantra "Quedanse en casa" ("Bleiben Sie zu Hause"). Unleugbar peinlich geraten solche "Anstelle-von"- Auftritte, wenn ihre Referenz etwas ist, bei dem es sonst im Publikum kein Halten mehr gibt, etwa das sonntägliche Volksmusik-Special "Palmas y Canas". Vergangenes Wochenende (en casa) sah ich einen Repentista – das sind die Spontanpoeten, die zu Klängen von Saiteninstrumenten themenorientierte Dichtung zu Gehör bringen –, der allein und von allen verlassen vor einer kahlen Wand deklamierte, die auch Teil des Waschraums einer Cupet-Tankstelle hätte sein können. Mir blieb das Lachen buchstäblich im Halse stecken.
Es ist mir, seit diese mageren Zeiten angebrochen sind, noch nicht passiert, dass ich – in einer Warteschlange, wo sonst – Zeuge wurde, wie sich zwei Leute über das virtuelle Konzert vom Vortag unterhielten. Aber das besagt nicht viel. Ich kann mich nämlich auch nicht erinnern, dass ich in den kulturell fetten Zeiten je erlebt hätte, dass einer den anderen gefragt hätte: "Hast du am Samstag zufällig den tollen Auftritt von Tony Ávila im "Teatro Mella" gesehen?" Ich will hier nicht den Eindruck erwecken, Kubaner nähmen das hochklassige – und hoch subventionierte – kulturelle Angebot in ihrem Land als selbstverständlich hin, bin aber schon der Überzeugung, dass Kultur für sie einen selbstverständlichen Bestandteil ihres alltäglichen Lebens ausmacht. Und wenn so ein Baustein auf einmal ersatzlos wegfällt, – die Surrogate, die zurzeit im TV geliefert werden, kann man schwerlich als Ersatz bezeichnen – wird das nicht ohne Deprivationen abgehen.
Hin und wieder gibt es schon mal Lichtblicke, die einen zumindest schmunzeln lassen. Da wurde in der Nachrichtensendung gezeigt, wie einer im fünften oder sechsten Stock eines Blocks des "sozialen Wohnungsbaus" auf seinem Balkon saß und sich mit einer eingestöpselten akustischen Gitarre, einem Mikrophon, einem kleinen Verstärker und zwei Mini-Lautsprechern als Singer/Songwriter präsentierte – für die wenigen, die zuweilen unten auf der Straße vorbeigingen.
Noch einmal zurück zur Kultur des textilverdumpften Gesprächs auf der Straße. Ich erinnere daran, dass dies etwas ist, das man staatlicherseits zu verhindern sucht. Eine Herkulesarbeit, wenn man bedenkt, dass jede soziale Isolation dem kubanischen Volkscharakter gänzlich zuwider läuft. Ich wurde, als ich wieder einmal in der Schlange vor dem "Galerias de Paseo" um Nudeln, Haferflocken, Waschpulver, Tomatenpüree oder was weiß ich anstand, Zeuge eines heftigen Wortgefechts zwischen einem Wartenden und einem vielleicht Mitte 20jährigen Polizisten, den eine seiner Kolleginnen abdrängen musste, damit es nicht zu Handgreiflichkeiten kam. Ein überaus ungewöhnlicher Anblick in Kuba! Aber offenbar reicht es in diesen schwierigen Zeiten nicht, sich in die Brust seiner Uniform zu werfen, um Respekt für staatliche Entscheidungen zu erheischen. Erhöhte Sensibilität und Geduld sind gefragt, wenn man Landsleute dazu nötigt, ein denaturiertes Verhalten an den Tag zu legen. Die meisten Gesetzeshüter hier begreifen das. Und die es nicht begreifen, lernen es auf die harte Tour.
Hoffen wir – alle – dass der Zustand, dessen Schlimmstes darin besteht, dass wir nicht wissen, wie lange er noch andauern wird (Wochen, Monate, Jahre) so bald wie möglich zu etwas mutiert, bei dem man Licht am Ende des Tunnels sieht. In diesem Fall wird es auch bestimmt wieder mit der sprichwörtlichen kubanischen Disziplin funktionieren …
Ulli Fausten
CUBA LIBRE 3-2020