"Mais Médicos"

Die Hintergründe des Abzuges der kubanischen Ärztinnen und Ärzte aus Brasilien.

Zur politischen Vorgeschichte: Als es während der Vorbereitungen für die Weltmeisterschaft 2014 und der Olympiade 2016 wegen Korruption und zunehmender sozialer Probleme im Lande zu Protesten und Ausschreitungen gekommen war, hatte die damalige Präsidentin Dilma Roussef 2013 das Programm "mais médicos" ins Leben gerufen, um die Versorgung in den Favelas, in Amazonien und anderen ärztlich kaum versorgten Regionen zu verbessern. Dilma, die Kandidatin der Arbeiterpartei PT, koalierte bei ihrer Wahl 2010 und der Wiederwahl 2014 erneut mit der PMDB (Partido de Movimento Democrático Brasileiro) unter Michel Temer. Dieser hatte 2016 Erfolg mit einem Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Roussef und wurde trotz erheblicher Bestechungsvorwürfe neuer Präsident Brasiliens. Dank einer korrupten Justiz konnte er sich an der Spitze halten, ähnlich wie etliche hohe Funktionäre seiner überaus korrupten Partei. Und es gelang ihm auch, in dieser Komplizenschaft mit der Justiz den Expräsidenten Lula 2017 nach einem international sehr umstrittenen Prozess wegen Korruption zu fast neun Jahren Haft verurteilen zu lassen, die Lula seit April 2018 in einem Gefängnis in Curitiba verbüßt. Lula war den Konservativen als klarer Favorit für die Präsidentschaftswahl 2018 zu gefährlich geworden. Also zog man die juristische Karte und konstruierte eine Anklage, wie aktuell geleakte Dokumente beweisen, die im US-Onlinemagazin "The Intercept" bereits teilweise veröffentlicht wurden. Brasiliens heutiger Justizminister Sérgio Moro war von konservativen Kräften und großen Teilen der Massenmedien vor der Wahl in seiner Funktion als Richter noch als unerschrockener Korruptionsermittler gefeiert worden. Als dieser ermöglichte er seine eigene Wahl erst durch seine Verurteilung von Lula!

Diese Ungeheuerlichkeiten wiederum geben der internationalen Kampagne "Free Lula" neuen Auftrieb.

Aber nur so gelang es dem Kandidaten der extremen Rechten Bolsonaro, die Wahl zu gewinnen, der frühere Hauptmann und bekennende Anhänger und Bewunderer der Militärdiktatur (1964–1985) und Kommunistenhasser. Und nur so versteht man seine Provokationen, Drohungen und Beleidigungen gegenüber Kuba und seinen Ärzten. Er agiert hier im Doppelpass mit der Trump-Administration, die derzeit alles tut, um den lateinamerikanischen Hinterhof der USA wieder in den Griff zu bekommen und um das Alternativmodell Kuba so oder durch Verschärfung der Blockade auszuhungern. Und jedes Mittel ist ihr recht.

Das Programm "mais médicos": Das Programm wurde als Dreiecksabkommen unter Federführung der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation PAHO, einer Unterorganisation der WHO, zwischen Kuba, Brasilien und der PAHO abgeschlossen. Seit Beginn im August 2013 waren über 20.000 Kubaner in Brasilien tätig, welche in fünf Jahren mehr als 113 Millionen Patienten behandelten, die nicht durch das öffentliche Gesundheitswesen erreicht wurden. Zuletzt waren über 9.000 kubanische Ärzte in mehreren tausend Gemeinden des Landes tätig – und zwar dort, wo es weh tat: in den Slums, in Amazonien und anderen vergessenen, armen oder auch gewalttätigen Regionen Brasiliens. Zuletzt waren von den 18.000 in dem Programm tätigen Ärzte etwa 9000 Kubanerinnen und Kubaner, die etwa 28 Millionen Patienten versorgten. Zu Beginn lag der Anteil der kubanischen Mediziner bei 80 Prozent.

Im Dezember 2018 hat Kuba seine Mediziner aus Fürsorgepflicht und wegen des offensichtlichen Vertragsbruches zurückgeholt, nachdem der neu gewählte rechtsextreme brasilianische Präsident Jair Bolsonaro aus politischem Kalkül die einseitige Veränderung der Vertragsbedingungen ankündigte, die Qualifikation der kubanischen Ärzte anzweifelte und sie als Sklaven eines diktatorischen Regimes bezeichnete. Kuba fürchtete mit Recht auch um die Sicherheit seines Fachpersonals, das sich freiwillig für den für kubanische Verhältnisse gut bezahlten Einsatz gemeldet hatte.

Brasilien zahlte Kuba pro Arzt über die PAHO, die fünf Prozent als Verwaltungskosten einbehielt, anfangs umgerechnet etwa 4.500 US-Dollar im Monat, die kubanischen Ärzte erhielten davon etwa 1.245 Dollar. Mit steigender Inflation sank die Vergütung deutlich. Dies ist für einen Kubaner immer noch erheblich mehr als sein Gehalt auf Kuba. Und sie haben noch etliche Vergünstigungen bei der Rückkehr nach Kuba zu erwarten. Und die kubanischen Ärztinnen und Ärzte behielten ihren Arbeitsplatz in Kuba, ihr Gehalt dort wurde weiter auf ihr Konto oder an ihre Familien ausbezahlt. Auch konnten die kubanischen Ärzte gemäß ihres Arbeitsvertrages ihre Angehörigen für drei Monate pro Jahr nach Brasilien einladen.

Der kubanische Staat, der die Ausbildung dieser Ärzte komplett finanziert hat (ein Medizinstudium kostet in den USA 300.000 Dollar), profitierte hier eindeutig von der Arbeit seiner "Gesundheitsarbeiter". Er verwendet die "Gewinne" aber nicht zur Bereicherung von Shareholdern, sondern finanziert damit das eigene Gesundheitssystem, das allen Kubanern nahezu kostenfrei zur Verfügung steht, sowie das kostenlose Studium seiner jungen Menschen, internationale Missionen und anderes.

Kubanischer Arzt in Brasilien

Kubanischer Arzt in Brasilien
Foto: Pan American Health Organization PAHO / flickr.com / CC BY-ND 2.0

2018 waren noch etwa 50.000 kubanische medizinische Spezialisten in 68 Ländern tätig (das sind gut 25 Prozent der medizinischen Fachkräfte Kubas, davon gut die Hälfte Ärzte). Von dieser Zahl sollen rund 11.300 Ärzte in 23 Ländern gewesen sein, die für ihre Tätigkeit auch bezahlt wurden. Den Löwenanteil machte zuletzt mit gut 8.400 Medizinern Brasilien aus. Der Rückzug der kubanischen Ärztinnen und Ärzte ist vor allem für die nicht mehr versorgten, häufig mittellosen brasilianischen Patienten ein großes Problem, aber auch für den kubanischen Staat, der von reicheren Ländern wie Brasilien, Venezuela, Südafrika, Nigeria, Katar, China und andere. für die medizinischen Dienste gut bezahlt wird beziehungsweise wurde. Kuba hat diese Zahlungen mit den Internationalisten geteilt und zur Finanzierung des eigenen Sozialstaates verwendet. Vergessen dürfen wird dabei nicht, dass Kuba die meisten Einsätze auf eigene Rechnung durchgeführt hat, andere in Dreieckskooperationen mit der WHO.

Über 2.000 kubanische Ärztinnen und Ärzte sollen nach einem Bericht der NYT in Brasilien geblieben sein, was eine 8-jährige Rückkehrsperre durch die kubanischen Behörden bedeutet hätte. Sie hätten den Versprechungen Bolsonaros vertraut und auf eine direkte Einstellung gehofft. Allerdings hat die Regierung Bolsonaro ihr Versprechen bis heute nicht erfüllt, den Kubanern, deren Qualifikation international unstrittig ist, zumindest eine letztlich unsinnige politisch motivierte Prüfung zum Erhalt der brasilianischen Approbation anzubieten. Diese aber ist unabdingbar für eine Zulassung in Brasilien, für Ausländer wie auch für die brasilianischen Ärzte, die aus Kostengründen im Ausland studiert haben. So müssen sich die im Land verbliebenen kubanischen Mediziner mühselig und häufig mit informellen Jobs im Lande über Wasser halten. Auch der Weg in die USA ist ihnen bis heute versperrt, nachdem Obama Anfang 2017 die professionelle Abwerbung kubanischer Ärzte durch das "Cuban Medical Professional Parole Program" von 2006 ausgesetzt und Trump diese Maßnahme bisher noch nicht zurückgenommen hat.

Nach kubanischer Darstellung soll es nur eine geringe Zahl an Medizinern gewesen sein, die in Brasilien geblieben sind. Um keine Sperre aussprechen zu müssen, hat Kuba seinen Ärztinnen und Ärzten sogar eine Ausreisemöglichkeit nach Brasilien zugesagt, wenn sie ihre Mission in Brasilien regulär beenden würden und zunächst nach Kuba zurückkämen.

Im Ergebnis war die kubanische Hilfe aber eine Erfolgsgeschichte. Von der WHO als vorbildlich auch für andere Länder gelobt, konnte die Zahl der Brasilianer, die gemäß dem Bericht der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation eine Grundversorgung erhielt, in den ersten vier Jahren von 59,6 auf 70 Prozent gesteigert werden. Auch konnte die Kindersterblichkeit in den von den Kubanern betreuten Regionen stark gesenkt werden und lag zuletzt beispielsweise in Embu-Guacu bei sieben, zuvor bei 17 Prozent.

Und wie sagte ein kubanischer Freund mir mal: Sollen sie uns doch ruhig vorwerfen, dass wir mit unseren Ärztinnen und Ärzten Geld verdienen. Aber wir helfen mit unserem Einsatz wenigstens Menschen in Not. Das ist für mich immer noch die deutliche bessere Alternative als von Waffenexporten zu profitieren und Kriege anzuzetteln.

CUBA LIBRE Dr. Klaus Piel, Vorstand HCH e. V. und mediCuba-Europa

CUBA LIBRE 1-2020