Eine Bilanz des Anhörungsprozesses der Bevölkerung zur neuen Verfassung.
Alle Generationen und gesellschaftlichen Gruppen beteiligten sich an der Diskussion |
Am 22. Dezember 2018 nahm mit der Zustimmung aller 583 anwesenden Abgeordneten der Asamblea Nacional del Poder Popular (Nationalparlament) zu dem endgültigen Entwurf der neuen Verfassung der Republik Kuba das neue "Gesetz der Gesetze" seine erste Hürde. Die Abgeordneten hatten jeder einzeln in der Gegenwart des Armeechefs und ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei Kubas, Raúl Castro Ruz, sowie des Präsidenten des Staats- und Ministerrats, Miguel Díaz-Canel Bermúdez, ja zu dem Resultat eines beispielhaften, demokratischen Prozesses zur Erneuerung der Verfassung gesagt. Nichts ging jedoch am Votum des kubanischen Volkes vorbei, das am 24. Februar dazu aufgerufen war, die neue Verfassung zu ratifizieren.
Die Bilanz der Anhörungsversammlungen der Bevölkerung lässt sich sehen: An über 130.000 Anhörungen nahmen insgesamt knapp neun Millionen Personen teil, die in über 1,7 Millionen Wortmeldungen mehr als 780.000 Änderungsvorschläge zu dem ersten vorgelegten Entwurf der neuen Verfassung machten. Auch die im Ausland lebenden KubanerInnen konnten sich beteiligen und haben über 2000 Änderungsvorschläge beigetragen. Diese Zahlen und die Allgegenwärtigkeit der Verfassungsreform durch oftmals leidenschaftlich geführte Debatten, egal ob im Bus, im Wartezimmer oder am Kiosk, zeigen die hohe Identifikation der Bevölkerung mit dem Prozess der Verfassungsreform. Auf Basis der Änderungsvorschläge aus dem Volk wurde die endgültige Version der neuen Verfassung gegenüber der ersten zu 60% abgeändert.
Besonders leidenschaftlich diskutiert wurde der Artikel 68 des ersten Entwurfs der neuen Verfassung, der die Ehe als einen freiwilligen Zusammenschluss zweier Personen mit rechtlicher Eignung definierte. Zu ihm gab es mit fast 200.000 Vorschlägen mit Abstand die meisten Änderungswünsche. Gegen diesen weitgefassten Begriff der Ehe wurde insbesondere seitens der katholischen und evangelikalen Kirchen mobil gemacht. Dies war auch in der Öffentlichkeit sichtbar durch Aushänge vor Kirchen oder an privaten Haustüren, die sich für das traditionelle Familienbild aussprachen. Die Änderungsvorschläge zum Artikel 68 zielten überwiegend darauf ab, den gültigen Ehe-Artikel beizubehalten, der die Ehe auf eine Vereinigung von Mann und Frau festlegt, oder ihn zu eliminieren. Im überarbeiteten Entwurf der Verfassung wird die Ehe in Artikel 82 als rechtliche und soziale Institution und eine mögliche Form der Organisation der Familie gefasst. Außerdem wird von "Eheleuten" gesprochen, ohne eine Geschlechterzusammensetzung vorzuschreiben. Weiter wird auf das Gesetz verwiesen, das die Form der Zusammensetzung der Ehe und ihre Wirkung festlegt. Diese Umschreibung der Ehe lässt mehr Interpretationsspielraum zu und wird sowohl von den BefürworterInnen als auch den GegnerInnen der "Ehe für alle" überwiegend als Kompromiss verbucht und mitgetragen. Die konkrete Definition der Ehe wurde auf eine Kommission ausgelagert, die das Gesetz komplett überarbeiten wird, wozu es dann in einem halben Jahr noch einmal gesondert Anhörungen der Bevölkerung geben wird und abschließend die Verabschiedung durch die Asamblea Nacional. Auf diese Art und Weise wurde versucht, die Überlagerung des Referendums durch die Frage der Ehe-Definition zu verhindern, damit am Ende der Verfassungsreform vom Referendum ein starkes Signal der Einheit ausgehen kann, die trotz aller leidenschaftlich ausgetragenen demokratischen Debatten in dem Prozess auch immer deutlich wurde.
Somit legt Kuba mit seiner zweiten sozialistischen Verfassung nicht nur die Basis für die Fortsetzung einer eigenständigen Entwicklung, sondern die Bevölkerung bestätigt ihre Rolle als Souverän und legt einmal mehr Zeugnis ihrer politischen Reife für einen solch anspruchsvollen demokratischen Prozess ab.
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Überall im Land fanden öffentliche Diskussionen zur neuen Verfassung statt
Foto: Perioddico 26
Elias, Proyecto Tamara Bunke
CUBA LIBRE 2-2019