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Obwohl einige das Gegenteil behaupten, blickt unser Volk auf eine reiche und lange Erfahrung mit Verfassungen zurück. Sie begann mit den aufständischen Mambisen, die sich noch vor Ablauf des ersten Kriegsjahres versammelten, um die Carta Magna einer Nation zu verfassen, welche erst im Entstehen begriffen war. Später gab es verschiedene Momente, in denen eine neue Verfassung nötig wurde: 1878, 1895, 1897, 1898, 1901, 1940 und 1976. Die letztgenannte war die Legitimation für den sozialistischen Aufbau und einen Staat, in dem niemand anderes als das Volk der Souverän ist.
Wir Kubaner, die Erben dieser Tradition, erleben gerade einen entscheidenden Moment: Denn es ist der Augenblick gekommen, um darüber zu sprechen in welchem Land wir leben möchten, um das Ergebnis dann in Artikel zu fassen. Den Fachleuten nach zu urteilen gibt es genauso viele Idealvorstellungen einer Verfassung, wie es Verfassungsexperten gibt. In unserem Fall gibt es davon elf Millionen. Es geht also darum, einen Konsens zu finden.
Laut einer der hässlichsten Kampagnen gegen Kuba sind wir ein Polizeistaat, ohne Rechtsgarantie, ohne ordentliches Gerichtsverfahren, ohne Rechte. Zum Teil mag das auch darauf zurückzuführen sein, dass uns die aktuelle Verfassung nicht gleichermaßen geläufig ist wie in anderen Ländern der Region, wie z. B. in Venezuela, wo es zur Gewohnheit geworden ist, dass die Bürger sie in der Hosentasche bei sich tragen.
Nichtsdestotrotz geht der zur Zeit diskutierte Vorschlag über den von 1976 hinaus. Nicht nur deshalb, weil er prägnanter, moderner oder den aktuellen Veränderungen in unserer Gesellschaft angepasst ist, sondern auch, weil er die Rechte und ihre Garantien aller Bürger erweitert, wie es in der Zwischenüberschrift IV: "Rechte, Pflichten und Garantien" zum Ausdruck kommt. Unter die Neuheiten des Vorschlags fällt, dass die wichtigsten Instrumente des kubanischen Strafrechts in den Verfassungsrang erhoben werden: das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren, auf Berufung, auf das Prinzip, sich nicht selbst belasten zu müssen, auf die Unschuldsvermutung. Im letzten Fall hat die Entwicklung der Rechtslage dazu geführt, dass man nicht mehr von der Unschuldsvermutung, sondern vom Unschuldszustand spricht, da die Unschuldsvermutung schon einen Verdacht impliziert, während gemäß dem Unschuldszustand "jeder Mensch frei und unschuldig geboren wird". Diese Prinzipien schlagen sich bereits in der aktuellen Strafprozessordnung nieder – viele von ihnen sind jedoch reine Worthülsen, da nicht in der Carta Magna wieder aufgegriffen.
Ähnliches trifft auf den Habeas Corpus zu – ein juristischer Vorgang, der im Gesetz Nr. 5 geregelt ist, aber ohne praktische Wirkung bleibt, da er nur für den unwahrscheinlichen Fall vorgesehen ist, in dem ein Verhafteter sieben Tage im Gefängnis bleibt, ohne einem Richter vorgeführt zu werden, was seiner Verhaftung die Legalität entziehen würde. Der neue Vorschlag erhebt ihn zu einem verfassungsmäßigen Recht, auch wenn er sich auf illegale Verhaftungen beschränkt und diejenigen ausschließt, die aus anderen Gründen als willkürlich einzustufen sind. Ebenso wird das Recht auf eine zeitliche Begrenzung der verdachtsbegründeten Verhaftung in die Verfassung aufgenommen, welches bislang lediglich in einem Zusatzgesetz geregelt war. Die wichtigsten Neuerungen des Artikels über die garantierten Prozessrechte beziehen sich auf einige Rechte, die erstmalig festgehalten sind. In den Text neu aufgenommen ist die Verpflichtung der Autoritäten, die Anschuldigungen mitzuteilen und das Recht auf den Zugang zu den Beweismitteln. Da nicht eindeutig geregelt ist, ab wann der Anwalt in den Prozess eintritt, bleibt im Gesetz noch festzulegen, ob das Recht auf Einsicht in die Beweismittel einen Rechtsbeistand voraussetzt oder nicht.
Ebenfalls neu ist das Recht der Bürger, im Falle ihrer Verhaftung Kontakt zu ihren Familienangehörigen aufzunehmen, sowie das von Ausländern auf eine Benachrichtigung des Konsulats. Beide waren vorher in keinem Gesetz festgeschrieben und bekommen jetzt Verfassungsrang.
Eine weitere neue Garantie stellt das Recht auf die gesellschaftliche Wiedereingliederung der Straffälligen dar – bislang war dies lediglich ein übliches Prinzip und Verfahren. Da die Verfassung über allen anderen Gesetzgebungen steht, sollte man an eine Gesetzgebung denken, die das Ableisten der Strafe und die anschließende Sozialisierung regelt – also Dinge, die bislang einseitig vom Innenministerium und den Gerichten verfügt wurden.
Beinahe am Schluss des Abschnitts IV ist eine der radikalsten Neuheiten aufgeführt, welche der neue Verfassungsentwurf für das kubanische Justizsystem bringt: die gerichtlichen Garantien. Im Artikel 94 heißt es, dass die Personen, deren Rechte verletzt werden, die Schaden oder Verleumdung durch staatliche Organe, Leitungen, Funktionäre oder Angestellte erleiden, das Recht haben, vor Gericht auf die Wiederherstellung ihrer Rechte, Reparation und Entschädigung zu klagen. Mit anderen Worten: Die Bürger können den Staat verklagen.
Dabei bleibt noch zu untersuchen, ob die Schaffung einer unabhängigen juristischen Instanz notwendig ist, welche die Einhaltung dieser Garantien überwacht. Heutzutage fällt diese Funktion dem Generalstaatsanwalt zu, der in den Gerichtsprozessen den Staat vertritt. Aber man kann nicht Kläger und Richter zugleich sein. Sollte entschieden werden, dass diese Institution die Nationalversammlung zu sein habe, als einzige Vertreterin des Volkes als Souverän, dann müsste man beschleunigte Abläufe schaffen, um die Warte- und Bearbeitungszeit zu verringern.
Die Vorlage für die neue Verfassung bekräftigt ebenso andere Garantien, die bereits in den vorhergehenden Cartas Magnas zu finden waren. Sie unterstreicht das Recht auf juristische Verteidigung und auch, dass auf die entsprechenden Personen kein Druck ausgeübt werden darauf, um sie zu einer Aussage zu zwingen. Sie nennt auch das Recht auf die Nichtrückwirkung von Gesetzen, welches allein zugunsten des Angeklagten in Anspruch genommen werden kann.
Ein weiteres Mal erteilt unser Land der Welt eine Lektion. Wir Kubaner haben den Traum nicht aufgegeben, eine der gerechtesten Gesellschaften auf diesem Planeten zu schaffen. Der Schlüssel liegt darin, dass unsere Insel sich weiter anschickt, die Rechtsgarantien ihrer 11 Millionen Bürger, auf die sie sich berufen kann, weiter auszubauen. Wichtig ist auch, dass die ergänzenden Gesetzgebungen auf der Höhe des zuverlässigen und innovativen Geistes ist, welcher der neuen Verfassung innewohnt. Es hängt von uns ab, ob in Kuba auch weiterhin jeder einzelne gleichermaßen zählt.
(Übersetzung: Tobias Kriele)
CUBA LIBRE 4-2018