Jorgitos Log:
Die Kraft, die Sotchi bewegte

Jorgito Jerez Belisario


Die Kubanische Revolution schreibt unglaubliche Geschichten.

Jorge Enrique Jeréz Belisario kam 1993 mit einer schweren spastischen Lähmung auf die Welt. Er selbst sagt, dass es Jorgito el Camagüeyano nur deshalb heute noch gibt, weil er unter der schützenden Hand der Revolution aufwachsen konnte. So verwirklicht er heute seinen Lebenstraum und studiert Journalismus.
Jorgito war einer der wichtigsten Aktivisten im Kampf für die Freilassung der »Cuban Five«. Besonders verbunden ist er Gerardo Hernández, dessen Rückkehr nach Kuba er im Dezember 2014 feiern durfte. Der Dokumentarfilm »Die Kraft der Schwachen«, der Jorgitos Leben erzählt, ist über die Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba erhältlich.

Jorgito bloggt regelmäßig auf http://jorgitoxcuba.wordpress.com/.
Die CUBA LIBRE ehrt er mit einer regelmäßigen Kolumne.


Um kurz nach fünf Uhr nachmittags prognostizierte der Pilot des Fluges NN9953 auf russisch einen ruhigen Flug von zwölfeinhalb Stunden Dauer. Was er nicht wusste, war, dass die Boing 777–300 auf der Route Havanna-Sotchi viel zu viel Energie in ihrem Innenraum barg, als dass etwas in ihr "normal" sein könnte. Als die Angst der Flugneulinge und der Respekt der Erfahreneren vor dem Abflug verflogen war, verwandelte sich das Flugzeug in eine Diskothek, in eine Diskussionsrunde, in eine Insel der Liebe und in einen Raum der Verbrüderung. Schließlich begleiteten 100 lateinamerikanische Jugendliche die 250 Kubaner bei ihrem Vorhaben, das Schwarzmeerbad ordentlich in Wellen zu versetzen.

Sotchi ist ein Ort, der für große Events wie die Olympischen Winterspiele 2014, die kommende Fußballweltmeisterschaft 2018 wie geschaffen scheint. Dass man die 19. Weltjugendspiele hier unterbrachte, sagt einiges über die hohe Priorität aus, mit der die Russische Regierung die Begegnung der fortschrittlichen Jugend des Planeten behandelte. Zwar sollte man nicht übersehen, dass die Veranstaltung mehr als Freizeitevent denn als Beratung darüber konzipiert war, wie die Probleme der Gegenwart zu lösen sind. Dennoch darf man die ungeheure symbolische Wirkung nicht unterschätzen, welche von der Tatsache ausgeht, dass Russland mehr als 20.000 Jugendliche aus 150 Ländern gerade in dem Jahr zusammen rief, in dem die Welt den 100. Jahrestag der Ersten Sozialistischen Revolution feiert. Schließlich lud sie damit auch zu einem Festival ein, welches dem Anführer des sahaurischen Volkes, Mohamed Abdelazzi, dem heroischen Guerillero Ernesto Che Guevara sowie dem größten Kubaner des 20. und 21. Jahrhundert, Fidel Castro, gewidmet war. Das alles in einer Situation, in der die Jugend von heute über den Widerspruch zwischen dem Konsum und den wirklich wichtigen Dingen diskutiert, über das Überleben der Menschheit inmitten eines weltweit geführten Krieges. Auf den Schlachtfeldern der Kultur und der Symbolik versucht die Gegenseite, die Flammen der erlösenden Utopien zu löschen, die zu Beginn unseres Jahrhunderts neu aufgelodert waren, nachdem zuvor schon vom "Ende der Geschichte" die Rede war. Dementsprechend war die Tagesordnung in Sotchi von Themen wie den Kämpfen der Studierenden für ihre berechtigten Forderungen, die Besorgnis über den Vormarsch der vom Kapitalismus unterstützten Ultrarechten und die Wichtigkeit des Bewusstseins über die Kenntnis der Vergangenheit für den Aufbau einer neuen Welt bestimmt.

Wieder einmal ließ unsere Karibikinsel aufhorchen, und zwar schon bei der Eröffnungszeremonie, bei der, als wir es am wenigsten erwarteten, 20.000 Jugendliche begannen, Kuba! Kuba!, Kuba! zu rufen; bis hin zu den Abendveranstaltungen des Tagesprogramms, als gegenüber der Unterkunft der kubanischen Delegation Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der ganzen Welt bis zum Morgengrauen zu den Klängen guter kubanischer Musik tanzten.

Abgesehen davon gibt es noch einen anderen wichtigen Aspekt, denn diese Veranstaltungen halten uns kubanischen Jugendlichen einen Spiegel vor. Man hat Gelegenheit, Vergleiche anzustellen und erhält auf den ersten Blick überwältigende Einsichten. Die Probleme der Jugend und Studenten in der Welt, ihre Kämpfe und Forderungen, wurden in Kuba vor so langer Zeit ausgefochten, dass wir kubanischen Jugendlichen manchmal davon ausgehen, sie würden uns so selbstverständlich zustehen wie die Produkte unseres Lebensmittelheftchens.

Wesentliche Menschenrechte wie Bildung und eine hochwertige Gesundheitsversorgung, soziale Absicherung und öffentliche Sicherheit, Ernährung – das waren nur einige der Forderungen der Teilnehmer in den Foren. Wir kubanische Delegierte wurden dabei gefragt: Wie geht Ihr damit um, wenn Ihr stundenlang im Krankenhaus auf eine Behandlung warten müsst? Gibt es in Kuba eine Bewegung, die für eine bessere Bildung kämpft? Leider (für sie) und zu unserem Glück hat beides rein gar nichts mit unserer Realität zu tun.

Einer der Momente des Festivals, der mich am meisten bewegt hat, war jener, als ich mit Omara Durán auf einem Podium saß, um über das Thema "Jugendliche mit Behinderungen" zu sprechen, oder limitades funcionales, Funktionseinschränkungen, wie man in Spanien sagt, oder "Menschen mit besonderen Lernbedürfnissen", wie es in Kuba heißt, oder ganz einfach, wie es neulich eine vielfache Siegerin der Paraolympics ausdrückte, "Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten".

Offensichtlich können viele Jugendliche in dieser Welt mit Ausdrücken wie Sonderschulbildung, Inklusion oder vollkommene Eingliederung in die Gesellschaft nicht viel anfangen. Was will man schon von einer Regierung erwarten, die die Menschen nur nach ihrer Effektivität fragt und ihre Behinderung nach Prozentanteilen ihrer Produktivität beurteilt? Was bedeutet schon ein Sonderbus der neuesten Generation, der sich dem Bürgersteig zuneigen kann, um einen Rollstuhl aufzunehmen, wenn es doch zugleich am politischen Willen mangelt, die wichtigen Probleme, denen dieser wichtige und zumeist marginalisierte Teil der Gesellschaft ausgesetzt ist, anzupacken?

Diese Realitäten stehen in einem scharfen Kontrast zu dem, was wir in Kuba erleben. Hier geht Inklusion weit darüber hinaus, eine "Chance" zu geben. Sie schafft die Bedingungen für Deine eigene Entwicklung, damit Du bei gleichen Voraussetzungen nützlich für die Gesellschaft werden kannst, und das mit einem Modell der Sondererziehung, welches von Menschlichkeit geprägt ist. Den Mängeln zum Trotz, die die Dritte Welt und eine belagerte Wirtschaft auszeichnen, hat der Mensch bei uns immer die erste Priorität, und so wird es auch in Zukunft bleiben.

Wir haben vielleicht keine Spezialfahrzeuge für den Transport von Rollstühlen, und vermutlich gibt es bei uns noch die eine oder andere architektonische Barriere, die zu beseitigen ist. Vielleicht musst Du manchmal in einen vollen Bus einsteigen, aber in diesen Fällen wird sich immer eine helfende Hand finden. Wir Kubaner sind nämlich mit den feinsten menschlichen Werten erzogen worden, und die Sensibilität dringt uns aus allen Poren.

Dank unseres inklusiven Systems, welches das Prinzip verfolgt, niemanden zurückzulassen, und dank der guten Erziehung unseres Volkes, gibt es die Omara Durands, Yunidis Castillos und andere, die uns so manches Mal haben stolz werden lassen darüber, dass wir auf dieser Insel leben und vor Freude und Leidenschaft für Kuba in die Luft springen könnten.

Dank Fidel, dank des Systems, welches wir aufgebaut haben, kann ich mit Punkt und Komma sagen, dass Behinderung in meinem Land nicht gleichbedeutend mit Einschränkung, aber dafür mit Inklusion, Hilfsbereitschaft und Willenskraft verbunden ist. Unser Ausgangspunkt ist die Annahme, dass alle Menschen potentiell behindert sind, und es ist wichtig, dass wir auch in Zukunft in unserer Gesellschaft derartige Werte pflegen. Wir wollen ein Spiegel sein, in dem sich die Welt anschauen kann, und nur, wenn wir das schaffen, bleiben wir dem Konzept der vollkommenen Gleichheit treu, auf das sich unser Comandante in seiner berühmten Definition von "Revolution" bezogen hat.

Ein weiteres Mal haben wir Kubas Wahrheit in die Welt getragen, dieses Mal nach Sotchi, seine Errungenschaften, seine Erfolge, und auch, warum denn nicht, seine Misserfolge auf dem Weg, eine andere Gesellschaft aufzubauen, eine Alternative zum Kapital und zum Imperium zu entwickeln, in deren Mitte der neue Mensch steht, wie er durch Fidel und den Che verkörpert wurde.

Obwohl der Kampf darum nicht leicht sein und vermutlich noch Jahre andauern wird, haben diese 19. Weltjugendspiele gezeigt, dass wir über ausreichend angesammelte Reserven verfügen, um dem Weg hin zu einer besseren Welt folgen zu können. Einer Welt, in der wir die Imperien überlebt haben werden, die transnationalen Konzerne, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Über diesen Ruinen erschaffen wir Frieden, den Respekt unter Gleichen, die Liebe zwischen den Menschen und ehren so die Vergangenheit, indem wir unsere Zukunft erbauen.

Auf dem Rückweg nach Kuba hatte die Boing 777–300 mit stärkeren Turbulenzen zu kämpfen. Die innere Energie hatte sich vervielfacht, und der Wunsch, zurückzukehren und das während der acht Tage Erlebte in allen Einzelheiten zu erzählen, sprengte die Enge der Kabine, in der wir 250 Kubanerinnen und Kubaner von der Notwendigkeit überzeugter waren denn je, dass ein System wie das kubanische nicht perfekt ist, aber perfektionierbar, gerecht und menschlich, und verteidigt werden muss – koste es, was es wolle.


CUBA LIBRE (Übersetzung: Tobias Kriele)

CUBA LIBRE 1-2018